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Der Vater
Ganz alleine hat Christa „Das Eck“ aufgebaut, denn ihr Richard ist nicht zurückgekommen aus dem Krieg. Früher, da hat er die Familie ernährt. Richard war Bergmann.
So wie viele Männer im Pott.
Tag für Tag ist Richard in die Kohlen-Grube eingefahren. Runter unter die Erde. „Unter Tage arbeiten“ nennt man das. Weil das Tages-Licht oben bleibt, während der Aufzug in die Tiefe stürzt. Dunkel und dreckig war seine Arbeit.
Und hart, denn die Kohle wurde mühsam aus den Wänden gehauen.
„Papa ist in Gefangenschaft bei den Russen“, hat Mama uns damals erklärt.
Kriegs-Gefangenschaft. Seit elf Jahren ist er nun schon verschwunden.
Elf Jahre, das ist so viel, wie Matthes alt ist.
Ob Richard wohl tot ist? Oder lebt er noch?
Wenn er lebt, wo ist er dann? Kommt er eines Tages vielleicht doch noch wieder?
Wie oft stellt sich Christa diese Fragen. Dann denkt sie: „Richard. Mein Richard. Es ist nicht leicht ohne dich.“
Aber das Leben musste trotzdem weitergehen.
Auch ohne Papa.
Benno und Ingrid fragen nicht mehr oft nach Papa.
Matthes fragt überhaupt nicht nach ihm.
Matthes hat seinen Vater ja nie gesehen.
Was ist das, ein Vater? Das fragt er sich manchmal.
Und dann kommt Matthes zu dem Schluss:
Ein Vater, das ist so etwas wie ein Fußball-Spieler.
Ein Fußball-Held.
Ein Vater ist ein Held! Einer, den man bewundert.
Einer, der alles kann.
Vor allem Fußball spielen!
Der Boss
Matthes klingelt Sturm. Immer wieder drückt er auf die Klingel mit dem Namen Rahn. Nichts rührt sich. Matthes sieht nach oben.
Das Fenster vom Schlaf-Zimmer oben ist offen.
Schnell sucht Matthes
ein paar Steine und wirft einen nach dem anderen in das offene Fenster.
„Ey, willze mich umbringen?“, Helmut Rahn steht oben am Fenster.
Im Unterhemd, verpennt und mit wirren Haaren.
„Wir müssen uns beeilen, Boss“, ruft Matthes zu ihm herauf.
„Wir müssen zum Training.“
„Wat, wieso, wie spät is denn?“, fragt der Boss.
„Halb fünf schon.“
„Viertel-Stunde, dann bin ich unten.“
Das Fenster geht zu.
Als der Boss endlich aus der Tür kommt, drückt er Matthes seine Tasche mit dem Sportzeug in die Hand.
„Spinnst du? Kannze mir doch nich Steine an den Kopp werfen. Das hätte dein Vorgänger, der Mischa, nie getan.
Und nach dem Spiel hatte Mischa immer
zwei Flaschen Bier für mich. Schön gekühlt.“
Matthes bekommt es mit der Angst zu tun, und fast weinend fragt er den Boss:
„Willst du den Mischa lieber wieder als
Taschen-Träger haben?“
Da merkt der Boss, dass er zu hart zu Matthes war.
Er beugt sich zu ihm hinunter
und packt ihn an den Schultern.
„Nee, Matthes, so war dat nich gemeint.
Du bist doch mein Maskottchen.
Du bringst mir doch immer Glück.
Ohne dich kann ich doch die wichtigen Spiele gar nicht gewinnen!“
Matthes strahlt über das ganze Gesicht.
Der Boss, der ist und bleibt sein Boss.
Und der Boss braucht ihn. Ihn, Matthias Lubanski, um gewinnen zu können.
Der Brief
Drei Tore hat der Boss beim Training geschossen.
Und das, obwohl er so verpennt war.
Angeblich war er wegen einer Besprechung zu spät ins Bett gekommen.
Aber Matthes glaubt eher, dass der Boss zu viel Bier getrunken hat. Egal!
Die Tore waren einfach klasse!
Glücklich hüpft Matthes nach Hause. Da will er erst mal erzählen, wie der Boss an allen Spielern vorbeigezogen ist. Wie der rennen kann, und wie der täuschen kann.
Und dann schießt er zum Schluss wieder ein Tor!
Aber als Matthes in die Küche kommt, ist alles anders.
Mama, Benno und Ingrid sitzen am Tisch.
Auf dem Tisch liegt ein Brief.
Alle drei sehen Matthes schweigend an.
„Was ist denn los?“, fragt Matthes.
„Mama wollte den Brief erst aufmachen, wenn alle da sind.“
Matthes setzt sich an den Tisch. Er schaut auf den Umschlag. So einen haben sie schon mal bekommen. Vor ein paar Jahren.
In dem Brief wurde damals mitgeteilt, dass die
Männer zurückkommen würden. Die Männer aus der russischen Kriegs-Gefangenschaft.
Mama, Benno, Ingrid und Matthes hatten sich ihre Sonntags-Kleidung angezogen und waren dann zum Bahnhof gegangen. Viele Männer waren damals aus dem Zug gestiegen, aber Papa war nicht mit dabei.
Christa nimmt den Brief vom Tisch.
„Und wenn er tot ist?“, fragt Ingrid nervös.
Alle sehen sich an. Keiner weiß, was dann wäre.
Langsam öffnet Christa den Umschlag.
Langsam, vorsichtig.
Denn die Nachricht kann alles verändern.
Das ganze Leben kann so eine Nachricht verändern.
Und dann denkt sie: Richard, mein Richard.
Alle starren auf die Mutter. Sie schaut von dem Blatt auf und sagt:
„Bald werden wir wieder eine richtige Familie sein.“
Die Kinder gucken sie fragend an, fast misstrauisch.
„Freut ihr euch denn gar nicht?“
„Und wenn Papa wieder nicht mit dabei ist“, sagt Ingrid.
Und das hört sich so an, als würde sie es fast ein wenig hoffen.
Am Abend sitzt Matthes wie immer
unten in der Kneipe.
Christa zapft Bier. Ingrid bedient die Gäste.
Benno hängt ein Plakat von der Kommunistischen Partei auf. Die Kommunisten, die findet er gut.
Die tun wenigstens was für die Arbeiter.
Wie jeden Abend sammelt Matthes die Kippen aus den Aschen-Bechern.
In den meisten Kippen ist noch ein Rest Tabak.
Matthes schneidet von den Kippen das Verbrannte ab und lässt den restlichen Tabak auf den Tisch rieseln. Da kommt schon was zusammen.
Dann dreht Matthes aus dem Tabak neue
Zigaretten. Richtige Zigaretten mit weißem Papier.
Die werden bei Christa in der Kneipe verkauft.
Denn Zigaretten sind heiß begehrt.
Alle wollen rauchen. Rauchen ist wie atmen.
Wie aufatmen nach dem Krieg.
Endlich kann man wieder das Leben genießen.
Sitzen, rauchen, Pils trinken und dazu über
Fußball reden.
Gerade jetzt zur Fußball-Weltmeisterschaft.
Die erste WM, bei der Deutschland wieder dabei sein kann.
„Wenn die dat überhaupt schaffen, so weit zu kommen“, sagt Paule mal wieder.
Matthes kann es gar nicht erwarten, dass die Spiele beginnen. Erst recht nicht, wenn der Boss vielleicht mitspielen darf. Der spielt so toll.
Den müssen die doch in die deutsche Mannschaft holen! Ohne den Boss gewinnen die nie!
Vor Aufregung hat Matthes beinahe vergessen, dass morgen die Männer aus Russland wiederkommen.
Der Zug
Gerade noch rechtzeitig kommen wir am Bahnhof an. Alle haben sich schick gemacht. Sogar Benno hat sich ein Hemd angezogen, und Ingrid ist bildschön.
Mama hat ihr Sonntags-Hütchen auf dem Kopf.
Nervös hält sie sich an ihrer Hand-Tasche fest.
Die Haare von Matthes sind frisch gewaschen, aber richtig wohl fühlt er sich nicht.
Auf dem Bahn-Steig stehen Menschen-Massen.
Frauen, Kinder, Kranken-Schwestern.
Alte Mütter, die hoffen, dass sie ihre Söhne wiederfinden. Frauen, die auf ihre Männer warten.
Kinder, die nicht richtig wissen, um was es hier geht.
Frauen vom Deutschen Roten Kreuz haben Tische aufgestellt.
Suppe und Brot soll es für die Männer geben.
Zur Begrüßung ein warmes Essen.
Das tut gut. Vielleicht das erste warme Essen nach der Gefangenschaft?
Alle laufen und reden durcheinander. Alle sind gespannt, und manche haben Angst. Dass der Mann wieder nicht dabei ist. Dass er doch tot ist.
Plötzlich spielt die Blas-Kapelle.
Da, da hinten kommt der Zug!
Da hinten, da kommen sie! Christa wird fast
schlecht. Ihre Hände zittern.
Die Lokomotive fährt ein, mit Zweigen geschmückt.
Fauchend hält sie an.
Matthes drückt sich näher an Mama heran.
Alle gucken wie gebannt auf die Türen.
Da steigen die ersten Männer aus.
Bärtige Männer. Abgemagert. Müde.
Ihre Gesichter sind starr.
Ohne Freude, ohne Hoffnung.
Hunger und Kälte haben alles Leuchten aus ihren
Augen genommen.
Und Angst steht auch in ihren Blicken.
Wird mich jemand abholen?
Was war in all den Jahren?
Wie wird es weitergehen?
Wird mich jemand lieben?
Alle suchen, suchen nach ihrer Familie.
Eine alte Frau zeigt ein Foto ihres Sohnes.
„Wo ist er?“, ruft sie zu den Männern.
„Kennt ihr ihn? Habt ihr ihn gesehen?
Lebt er? Lebt er? Wo ist mein Sohn?“
Stumm gehen die Männer an ihr vorbei.
Manche beachten sie gar nicht.
Andere schütteln den Kopf.
Alle Männer tragen dieselben alten Soldaten-Mäntel. Und alle haben denselben traurigen Blick.
Den traurigen Blick über die verlorenen Jahre.
Christa muss genau hinsehen, um einzelne
Gesichter zu erkennen.
Ein Mann hat seine Frau gefunden. Sie umarmen sich, als wollten sie sich nie wieder loslassen.
Da ist er. Christa hat ihn erkannt. Innerlich schreit sie: „Richard, mein Richard!“
Aber – wie gelähmt – bleibt sie stehen. Sie kommt nicht von der Stelle.
Richard aber kommt auf sie zu. Schon hebt Christa ihre Arme, um ihn endlich zu umarmen. Aber Richard sieht Ingrid. Er läuft auf sie zu.
Er drückt Ingrid fest an sich. Erschöpft und erleichtert sagt er: „Meine Christa.“ Er stützt sich auf Ingrid und weint.
„Papa. Papa!“ Vorsichtig schiebt Ingrid ihren Vater von sich weg.
„Papa, ich bin Ingrid. Deine Tochter.“
Richard ist verwirrt. Jetzt erst sieht er Christa neben Ingrid stehen.
Jetzt erst sieht er, dass Christa alt geworden ist.
Älter jedenfalls als vor elf Jahren. Als sie noch so aussah wie Ingrid jetzt.
Richard schaut von Christa zu Benno.
Den erkennt er wieder.
„Und wer ist der da?“, fragt Richard und zeigt auf Matthes.
Matthes rückt noch näher an seine Mutter.
„Das ist der Jüngste. Das ist Matthias.
Das hatte ich dir doch im Brief geschrieben.“
„Ich habe nie einen Brief bekommen.“
Wieder zu Hause
Beim Abend-Brot sitzt Benno wieder da, wo Kinder sitzen. Richard hat seinen Platz eingenommen.
„Vor elf Jahren hattest du doch Urlaub von der Front“, versucht Christa noch einmal zu erklären. „Und Matthes ist elf“, ergänzt Benno.
Dann grinst er und sagt:
„Elf Jahre und neun Monate.“
„Halt deine vorlaute Klappe!“, sagt Richard rau.
„Ich bin doch kein kleines Kind mehr“, wehrt sich Benno. Doch Richard herrscht ihn an:
„Du redest, wenn ich dich frage und sonst nicht!“
Benno wirft einen Blick zu Mama. Aber die guckt nach unten auf ihren Teller. Schweigend essen wir weiter.
Nach dem Abend-Essen gehen wir alle zusammen in die Kneipe.
Heute Abend ist geschlossen, wegen der Rückkehr von Papa.
Stolz erzählt Christa, wie sie „Das Eck“ so gemütlich gemacht hat. Sie erzählt, dass die Kneipe gut läuft.
Die Familie kommt damit ganz gut über die Runden.
„Zur Fußball-Weltmeisterschaft will ich einen Fernseher kaufen.
Du wirst staunen, wie viele Leute dann kommen!“
Christas Augen leuchten vor Freude.
So stolz ist sie, dass sie das alles geschafft hat.
„Und du stehst hier jeden Abend und bedienst die Kerle?“, fragt Richard wie in einem Verhör.
„Ich bediene die Gäste, und Ingrid hilft.“
„Und du? Arbeitest du hier auch mit?“,
fragt Richard zu Benno hinüber.
„Ich bin Musiker“, antwortet Benno kurz.
„Aha, Musiker“, sagt Richard voller Verachtung.
Dann zeigt er auf das Foto von Helmut Rahn an der Wand: „Und wer ist der?“
„Das ist der Boss“, antwortet Matthes mit glänzenden Augen. „Der beste Fußballer von Rot-Weiß, und National-Spieler ist er auch.
Ich, ich bin sein Taschen-Träger. Und ohne mich kann er die wichtigen Spiele nicht gewinnen.
Das hat der Boss selbst gesagt.“
Die Stimme von Matthes überschlägt sich vor Begeisterung.
Benno sieht seinen Vater herausfordernd an:
„Der Boss ist für Matthes so was wie eine Vater-Figur.“
Richard zuckt zusammen. Das hat ihn getroffen.
Dieser Tag war nicht leicht. Für keinen von uns.
Unruhig und müde gehen wir zu Bett.
Richard putzt sich in der Küche die Zähne.
Christa hat sich schon ins Bett gelegt.
Gleich wird Richard zu ihr kommen.
Elf Jahre lang hat sie keinen Mann mehr gehabt.
Elf Jahre ohne Zärtlichkeiten.
Christa sieht an die Zimmerdecke. Mit einem Gefühl von Angst und Sehnsucht zugleich.
Richard kommt zu ihr ins Bett.
„Die Kinder müssen erstmal wieder Disziplin lernen.
Die machen ja, was sie wollen.“
Christa entschuldigt sich.
„Ich hatte so wenig Zeit. Wegen der Wirtschaft.“
„Das wird jetzt alles anders“, sagt Richard.
„Alle, die in Russland waren, kriegen Geld vom Staat. Eine Entschädigung.
Wenn ich die habe, geht es uns besser. Außerdem gehe ich wieder zur Zeche. Ich werde ja wohl selber eine Familie ernähren können!
Und die Kneipe, die wird dann verkauft.“
Christa sieht ihn erschrocken an.
Ihre Arbeit. Ihr Werk. Das soll sie alles aufgeben?
Richard macht ihr Angst. Sie mag es nicht, wie er mit den Kindern redet. Bisher waren sie alle doch eigentlich ganz glücklich gewesen.
Trotzdem fühlt sie sich noch immer zu Richard hingezogen. Zärtlich legt sie ihre Hand auf seine Brust. Aber Richard wehrt ab.
„Lass mir noch Zeit, Christa.“
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