Читать книгу: «Das Gegenteil der Wirklichkeit», страница 4
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Der Zug war bereits eingefahren, als Frank Landweil das Gleis erreichte. Männer in Anzügen und Frauen in modischen Kleidern stiegen aus. Er hatte Probleme einzuordnen, zu welchem Anlass sie gekleidet waren. Er beobachtete nur das Szenario und lächelte bemüht den vorbeiziehenden Tross an. Er fühlte sich schäbig gekleidet im Vergleich zu den vorbeilaufenden Menschen, was natürlich eine Farce war, dennoch warf er sich schnell seinen Mantel über, um eine wenig Restwürde zu wahren.
Nach einer überdrehten Minute der Regungslosigkeit stieg er in den Zug ein und suchte seinen Platz. Auch hier hatte er wieder einen am Fenster von der Bahnschalter-Dame bekommen und er fand ihn schnell. Das nächste Déjà-Vu ereilte ihn und er nahm schnell Platz, bevor ihn auch die nächste Verzweiflungswelle erfassen konnte. Er stellte sich bildlich vor, wie eine Welle zwischen den Plätzen vorbeirollte und er meinte, gerade das Rauschen der nächsten zu vernehmen, als eine junge Dame sein Ticket sehen wollte. Erneut registrierte er erst jetzt, dass die bereits losgefahren waren. Die Kontrolleurin war Mitte Zwanzig und sah ausgesprochen gut aus. Frank Landweil gefiel sie. Seine nun schon längere Zeit andauernde Phase des Enthusiasmus erlaubte es ihm nonchalant einen kleinen Flirt einzuleiten.
„Entschuldigen Sie, ist Kontrolleurin nun der neue Stewardess-Beruf?“, ein peinlicher Versuch, zudem wackelte seine Stimme am Ende der Frage wie die eines Pubertierenden.
„Wie darf ich das verstehen?“, entgegnete die Frau wenig beeindruckt.
„Sie sind hübsch und jung, das sind doch ideale Voraussetzungen für eine Stewardess“, antwortete er und suchte gedanklich nach dem Idioten, der diese Sätze sprach.
„Oh, sehr freundlich von Ihnen. Aber nein, ich mache das nur als Nebenjob, ich studiere Kunstgeschichte“, gab sie zu seiner Verwunderung strahlend zurück.
„Bleiben Sie bis Mailand im Zug?“, fragte nun wieder der richtige Frank Landweil.
„Ja, dort habe ich zwei Stunden Aufenthalt bevor es wieder zurückgeht“, er verstand den Hinweis.
„Darf man Sie auf einen Kaffee einladen?“
„Ich habe in einer Stunde Pause, in Wagon Nummer 7 ist unser Boardbistro“, gab sie zurück, während sie schon den nächsten Fahrgast kontrollierte.
Er wurde noch euphorischer. Er hatte plötzlich wieder das Gefühl der absoluten Überlegenheit gegenüber der Situation. Er war in seinem Terrain unterwegs. Unbeschwerte Schmeicheleien gingen ihm flüssig von den Lippen. Mitte Zwanzig war dazu noch seine Zielgruppe. Er schaute wieder aus dem Fenster und sah, wie die Landschaft vorüberflog, unterbrochen von schwarzen Tunnelsequenzen. Er begann erneut von Siena zu träumen und schlief ein.
Er stand in einer kleinen Gasse vor einem Eiscafé, von dem er meinte, es aus seiner Kindheit zu kennen. Vor ihm eine Familie mit einem kleinen Jungen. Der Kleine bekam eine Kugel Erdbeereis in der Waffel und strahlte sein Eis an, wie es nur Kinder können. Dann dreht er sich ruckartig um, kippte das Eis zur Seite, sodass die Kugel zu Boden fiel. Er schaute ihn an und begann, ihm mit der spitzen Seite seiner Waffel in den Bauch zu stechen. Frank Landweil war überfordert mit der Situation, als der kleine Junge plötzlich mit einer bekannt klingenden weiblichen Stimme „Hey Sie!“ sagte.
Frank Landweil schreckte aus dem Traum und blickte in das lächelnde Gesicht der Kontrolleurin. Er blickte erschrocken auf seine Uhr. Es war eine halbe Stunde vergangen, er hatte nicht verschlafen.
„Ich mache schon ein wenig früher Pause und dachte mir, dass ich Sie abhole“, durchbrach sie die Stille. „Ich heiße übrigens Monique“, schob sie nach.
„Maximilian, freut mich“, entgegnete Landweil.
Es war nicht unüblich, dass er sich mit einem anderen Namen bei Frauen vorstellte, den Namen seines Vaters zu verwenden, hatte er jedoch noch nie gewagt.
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Warum ihn bei der Erkenntnis, nicht allein im Bett zu liegen, der Gedanke durchzuckte, dass etwas schiefgelaufen war, ging mit seinem seit Jahren verinnerlichten Fluchtinstinkt einher. Auch wenn ihm nicht klar war, vor was er flüchtete, trug er eine gewisse Angst vor Vereinnahmung in sich, gegen die er sich immer wieder durch ungesteuertes Verhalten zu wehren versuchte.
Judith hieß sie, das fiel ihm sofort und gern wieder ein. Frau Bieler, mit Vornamen Judith, seine Nachbarin, die Beziehung zu ihr definierte er bisher über die Anknüpfungspunkte Postkasten leeren und Zweitschlüssel für den Notfall deponieren.
Der Abend hatte sehr relaxt begonnen. Das Corazon war eine klassische Bar für den ersten oder auch den letzten Drink des Abends. Wenige Gäste, die die Bar als ihr Wohnzimmer betrachteten und sich demnach auch nicht so benahmen. Er hasste es, wenn Gäste ihre Fraternisierung mit dem Barkeeper zur Schau stellten, vorwiegend um den Anderen zu zeigen, dass sie hier die besseren, die beliebteren Gäste sein wollten. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass diese Zuneigung der Gäste am falschen Platz heikel war, in zweierlei Hinsicht: Zum einen entstand eine Erwartungshaltung, irgendwann in die Freigetränkeliga aufzusteigen, zum anderen dachten manche durch das Duzen bedingt, dass außerhalb der Mauern der Bar das gleiche Verhältnis bestehen bliebe, wo er doch für einen gewissen Teil der Gäste auf der Straße nicht einmal ein Augenbrauenzucken als Gruß übrig hätte. Und der andere Teil sah dies auf ihn bezogen wahrscheinlich ähnlich. Kurzum, der Start in den Abend war auch ohne eigene Planung und Vorbereitung gelungen. Das Clubsandwich war ebenfalls von guter Qualität, konnte aber wie immer seinen Hunger nicht vollständig stillen. Auf dem Weg ins Latin Palace musste er noch eine gegrillte Kalbsbratwurst einnehmen, was ihm ein wohlwollendes Kompliment seiner Nachbarin einbrachte. Er wüsste also, obwohl „Usläänder“, wie man sich in Züri ungekünstelt den Hunger stillen könnte. – Naja, die Wurst ist gut, dachte er, aber der Geldbeutel gibt auch oftmals den Takt vor, behielt es jedoch für sich. Man muss auch mit Komplimenten umgehen können, sollten sie noch so klein sein.
Tanzen lag auf seiner eigenen Talentskala nicht ganz oben, aber er bewegte sich manchmal ganz gern zu guter, tanzbarer Musik, auch wenn er es, dazu noch in fremder Begleitung, nicht wirklich genießen konnte. Er hoffte, dass Frau Bieler nicht zum Lager der Dauertänzerin gehörte, die einem das letzte Tröpfchen Schweiß abfordern würde oder man sich als zu ungelenk in eine ruhigere Ecke verabschiedete, um auf das späte Ende der Ausgelassenheit der Anderen zu warten.
Sie lag ungefähr in der Mitte, was bedeutete, dass Metzger sich nach etwa drei Liedern an die Bar verabschiedete, was er in seinen Augen geschickt mit den Fingern andeutete. Erst zwei laufende Finger und dann den ausgestreckten Daumen zum geöffneten Mund führen. Sie runzelte etwas die Stirn, aber da hatte er sich schon umgedreht.
An der Bar bestellte er sich ein Bier. Natürlich aus der Flasche, da die angezapfte Brühe, die unter dem Zapfhahn stand, nicht eben vertrauenswürdig aussah und er wusste, dass in profitorientierten Läden auch gern die Reste aus Gläsern zum Auffüllen benutzt wurden.
Kaum hatte er die Flasche an den Hals gesetzt, tippte ihm jemand auf die Schulter. Der Schluck und der Anblick des Typen hinter ihm bescherten ihm einen Hustenanfall. Mussten einem immer die Leute aus der Vergangenheit begegnen, denen man schon in der Schulzeit nichts zu sagen hatte. In diesem Fall war es ein flüchtiger Bekannter, den er als Gast bei einem Auftrag kennengelernt hatte und mit dem er im Anschluss der Veranstaltung bei einigen sinneserweiternden Getränken noch lange gesprochen hatte. Er war ein kluger Kopf, aber anstrengend, da er über das Kochen, den Verzehr von Fleisch und den Zusammenhang mit Randolfs Nachnamen eine unheilvolle Zukunft heraufbeschworen hatte. Nach dem Motto Nomen est omen entschuldigte er Metzgers aus seiner Sicht enorme Unwissenheit hinsichtlich gesunder Ernährung. Er gab dem Gemüse den Vorzug. Metzger erinnerte sich sofort an seinen Namen, allerdings nur an den Nachnamen. Gärtner, der braunhaarige Typ mit Bart und dunkler Brille hieß Gärtner. Und dieser beteuerte seiner Zeit, dass es kein Witz wäre und sie mussten lange darüber lachen.
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Er folgte Monique durch die Wagons und überlegte, welche Lebensgeschichte er ihr erzählen würde. Sein Standardrepertoire ließ ihn aus drei bis ins letzte Detail vorgezeichneten Werdegängen wählen. Sohn einer wohlhabenden Familie, der sich gegen die Zwänge dieser wehrte und lieber Philosophie studiert hatte; Lehrer aus Idealismus an einem Gymnasium für die Fächer Mathe, Sport und Geschichte oder die schnelle Karriere im Investmentbanking. Die letzte Möglichkeit wählte Frank Landweil besonders dann gerne, wenn er einen schnellen Rückzug noch in der Nacht vorhatte.
Monique lief zielsicher in das Boardbistro und deutete ihm an, an einem Platz in der Ecke sich hinzusetzen. Er war so irritiert, dass sie ihn „Max“ genannt hatte, dass er kommentarlos den Anordnungen folgte. Seine üblichen Namen, die er flüchtigen Bekanntschaften nannte, bewegten sich zwischen Martin, Felix und Finn (so hieß sein Neffe).
Es blieb ihm nicht viel Zeit, weiter über seine Namenswahl nachzudenken. Monique kam mit zwei Kaffeebechern an den Tisch zurück. Sie hatte brünettes Haar, das sie in einem streng geflochtenen Zopf trug, ihre Augen waren im Kontrast dazu tiefblau. Ein Blau, in dem er sich gleich verlor und die Situation drohte ihm zu entgleiten. Da fing er sich noch:
„Also Monique, Du studierst Kunstgeschichte und jobbst nebenbei als Kontrolleurin. Muss ich sonst noch was wissen, bevor wir heiraten?“, ein Klassiker der immer zog, zumindest abends in Bars bei der richtigen Frau. „Du sagst Leuten nicht Deinen richtigen Namen, reist ohne Gepäck nach Italien und läufst vor irgendetwas davon. Muss ich sonst noch etwas wissen, bevor ich die Polizei rufe?“, antwortete ihm Monique mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht, wenig beeindruckt von seinem Flirt. Touché, er hatte sie offensichtlich unterschätzt. „Höchstens, dass ich zwei Millionen erbeutet habe bei meinem Überfall und ich bereit bin, mit Dir zu teilen“, gab er mit zaghafter Stimme wenig überzeugend zurück. „Bleibt noch der falsche Name“, sprach Monique. „Die Menschen mögen ihn, sie verbinden keine schlechten Eigenschaften mit einem Maximilian“, log er ihr zurück und wollte am liebsten wieder zu seinem Sitzplatz verschwinden.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als ein Kollege von Monique an den Tisch kam und sie zu einer Besprechung mitnahm. Er versicherte ihr, dass er hier warten würde und war gedanklich schon damit beschäftigt, einen galanten Rückzug vorzubereiten.
Er schaute aus dem Fenster und versuchte, der Fahrt etwas Sinnhaftes abzugewinnen, das leichte Vibrieren in seiner Hosentasche bemerkte er zunächst nicht. Nach einer kleinen Ewigkeit konnte er es endlich seinem Smartphone zuordnen und nahm das Gespräch an. Es war sein Bruder. Er befürchtete, dass es eines dieser bedeutungslosen Small-Talk-Gespräche würde, die sein Bruder tätigte, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Dementsprechend lustlos begann er das Telefonat. Als er nach fünf Minuten auflegte, hatte sich seine Situation geändert. Sein Bruder und er hatten für ihre Eltern und Großeltern und eine Reihe anderer Familienmitgliedern und Freunden ein Essen organisiert, ein Koch kam extra in die Villa Steinfeld, das Haus seines Bruders.
In seiner momentanen Gefühlsverfassung war sein erster Gedanke, einfach abzusagen oder sich Ausreden zu suchen, doch kamen seine Großeltern extra aus Frankreich, um den Abend mit ihnen zu verbringen. Er musste nach Frankfurt, das Treffen fand bereits am nächsten Tag statt. In dem Augenblick kehrte Monique zurück und als sie sich setzte, ließ Landweil ihr keine Zeit zum Verschnaufen.
„Was machst Du morgen Abend?“, fragte er, kaum saß sie. „Ich weiß nicht, vielleicht wandere ich nach Thailand aus, warum?“, gab sie zurück und war sichtlich noch in ihrem Spaßgespräch. „Du begleitest mich zu einem edlen Essen, wir kaufen Dir in Mailand ein Kleid für den Anlass“, entgegnete er mit einer Stimme, die er sonst nur in Meetings verwendete. „Aber Du bringst mich nachdem Essen nach Hause, Frank. Und Kleider kaufen lasse ich mir sonst auch nicht“, feuerte Monique und raubte ihm damit die Sprache.
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Von der Silhouette her konnte es aber glücklicherweise nicht Gärtner sein. „Man, was war das gestern für ein lustiger und unbeschwerter Abend“, erinnerte er sich. Sie standen lange an der Theke des Latin Palace und Judith brachte noch eine ausgesprochen nette weibliche Begleitung von der Tanzfläche mit. Gärtner war entgegen seiner Erinnerung ein amüsanter Gesprächspartner und übernahm recht schnell die Unterhaltung, indem er Anekdoten aus der ersten Zusammenkunft der beiden Männer erzählte, seiner Zeit als Veganer, als er jede Nähe zur konventionellen Ernährung in das Reich des Bösen verfrachtete und unter anderem Randolf Metzger hinsichtlich seines Nachnamens als Hohepriester der Fleischfraktion bezeichnete. Er hätte sich nun anderen, wichtigeren Themen zugewandt, berichtete er, um dann sehr angenehm die beiden Damen ihrerseits zu persönlichen Enthüllungen zu bewegen. Judiths Begleitung trug den exotischen Namen Elania, was ihre Erscheinung automatisch ins geheimnisvolle transportierte.
So wie sich die Indizien aneinanderreihten, musste diese noch schlafende Person Elania sein. Als sich nun so langsam die Müdigkeit aus seinem Gehirn verabschiedete, konnte er, bis auf seine Schlafenszeit, die letzten Stunden davor recht genau rekapitulieren. Sie waren auf dem Heimweg nochmals im Corazon gelandet, haben die gleichen Drinks wie zum Start, nur in umgekehrter Reihenfolge getrunken und waren dann zu viert aufgebrochen. Da Elania außerhalb wohnte, es schon sehr spät war und Frau Bieler ein Auge auf Gärtner geworfen hatte, war die unaufdringliche Notwendigkeit gegeben, Ihr sein Bett, mit dem Hinweis er nehme die Couch, anzubieten.
Sie meinte, dass sie beide doch erwachsen genug seien, um auch das Bett zu teilen, falls groß genug und verschwand direkt im Badezimmer. Der Anblick, als sie zurückkam und nur einen Slip und ein Unterhemdchen trug, erregte ihn und er beeilte sich mit seiner Körperhygiene. Er wollte sich auf jeden Fall von seiner sauberen Seite präsentieren. Allerdings schlief sie schon, als er nach zehn Minuten zurückkehrte und er tat es ihr gleich. Er war ehrlich zu sich und auch froh darum, weil er ebenfalls hundemüde war.
„Moin, moin, lieber unaufdringlicher Gastgeber“, schalte es von der eben noch Schlafenden herüber und der norddeutsche Gruß passte nun so gar nicht zu ihrem Namen und seinen dazugehörigen Phantasien. „Guten Morgen“, entgegnete er mit einem noch verschlafenen Lächeln. „Wenn Du zuerst ins Bad gehst, ist die Maschine heiß, wenn Du fertig bist und wir können wie zivilisierte Menschen mit einem guten Kaffee in den Tag starten“. Mit einem gespielt zackigem „zu Befehl“ folgten Sie seinem Vorschlag und er machte sich in der Küche zu schaffen.
Das tanzende Smartphone unterbrach sein Vorhaben. Auch wenn er sich im Vergleich zu den meisten „Always-Online-Junkies“ als autarken, selbstbestimmten Menschen bezeichnete, war es für ihn als Freiberufler doch wichtig, zu überprüfen, ob hinter dem Smartphone-Rhythmus etwas finanziell Wichtiges steckte. Da er über die Mund-zu-Mund-Propaganda eine gewisse Bekanntheit unter Eventorganisatoren genoss, kamen auch ohne sein Zutun immer wieder Anfragen. Diese E-Mail las er gewissenhaft, denn sie kam von einem befreundeten Unternehmen mit dem langen aber aussagekräftigen Namen „TausendDingeDieNochKeinAndererKenntAberGenialSind.de“.
Er rief direkt an, da er es hasste, auf diesen kleinen Dingern längere Texte zu schreiben. Der gute Hans Hamacher begrüßte ihn hörbar erfreut: „Man Randolf, Danke, dass Du so schnell zurückrufst! Du musst mich retten …“. Metzger machte sich Notizen: eigentlich französischer Koch gewünscht, aber wenn kurzfristig niemand frei auch deutscher Koch mit extravaganten Ansätzen, leider schon morgen, Honorar tausend plus Spesen, aber in Frankfurt und das war doch ein positiver Aspekt. Er notierte sich die Adresse mit dem Zusatz „Villa Steinfeld“. Es hörte sich machbar an, die Gästezahl war überschaubar und er kannte sich in Frankfurt aus. Sonst keine Vorgaben, aber es sollte kein Standard sein, was natürlich der vermittelnden Agentur geschuldet war.
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Frank Landweil musste noch einige Zeit auf dem Bahnsteig warten, bis Monique mit einer entschuldigenden Handgeste aus dem Zug stieg und auf ihn zukam. Ohne ihre strenge Kontrolleur-Uniform gefiel sie ihm noch besser, wobei er einen anderen Kleidungsstil erwartet hätte. Sie trug eine weit ausgeschnittene Stoffhose, auf der sich verspielte Paisleymuster ihren Weg bahnten. Ihr Oberteil würde er in die Kategorie eines langärmligen T-Shirts einordnen, vielleicht etwas besser geschnitten, aber doch sehr locker. Das Bild der beiden war selbst für die modebewussteren Mailänder schwierig einzuordnen. Da stand ein Mann in den Dreißigern in adrettem Stil neben einer Mittzwanzigerin, zumindest vermutete er das, die geradewegs von einem Independent-Musikfestival hätte kommen können. Die entgegenströmenden Personen musterten zunächst Landweil, bevor sie mit leicht aufgerissenen Augen Monique ansahen. Da verspürte er das Bedürfnis, sie an die Hand zu nehmen und den Leuten zu signalisieren, dass sie ihm gefällt, wie sie ist, unterließ es jedoch. Es war auch nicht von Nöten, im Gegenteil. Monique fühlte sich augenscheinlich sehr wohl in ihrer Kleidung und warf den irritierten Gesichtern ein selbstbewusstes Lächeln entgegen, was ihr wiederum einige verschmitzte Blicke einbrachte.
„Woher wusstest Du, dass ich nicht Maximilian heiße?“, fragte Landweil als sie geradewegs Richtung Taxistand liefen.
„Das war leicht. Man merkt es Menschen an, wenn sie einen anderen Namen angeben. Es ist, als ob sie den Namen rufen würden, sie verbinden ihn nicht mit sich selbst. Das war bei Dir eindeutig der Fall. Außerdem hast Du im Schlaf geredet, bevor ich Dich geweckt habe. Du sagtest ‚Frank Landweil, mitreißender Mittdreißiger, wenn Sie gestatten‘“, entgegnete Monique und konnte nicht widerstehen, sein Zitat ein wenig prustend von sich zu geben.
Landweil wurde rot. Auch wenn er im Schlaf keinen Einfluss darauf hatte, was er von sich gab, so war es ihm doch unangenehm. Den Satz hatte er schon länger im Kopf gehabt und wollte ihn bei einer Frau ausprobieren, hatte sich bisher aber nie getraut. Und jetzt war er ihm im Schlaf über die Lippen gegangen. Sein fragiles Gedankengebäude, das nunmehr schon mehrere Stunden hielt, drohte wieder ins Wanken zu geraten. Die Souveränität war verloren. Da kamen sie bei den Taxen an.
Mit seinen spärlichen Italienischkenntnissen erklärte Landweil dem Taxifahrer, dass sie nicht viel Zeit hätten und in die Via Montenapoleone möchten. Dankbarerweise verstand er ihn sofort und prügelte seinen alten Lancia durch die Gassen, als müssten sie nicht von einem Ort zum anderen, sondern dazwischen auch noch ein paar Verfolger abschütteln. Als sie ankamen, bat Landweil den Taxifahrer gegen Bezahlung zu warten. Dieser strahlte ihn mit einem mit wenigen Zähnen ausgestatteten Grinsen an und kramte Tabak und Zigarettenpapiere aus seiner Tasche und lehnte sich an seinen Wagen.
Die Zeit raste nur so dahin. Wie in einem Trancezustand erlebte Landweil den Kleiderkauf. Monique wusste sofort, was sie wollte. Sie wählte ein Kleid in einem helleren Blau, sie nannte es „Lichtblau“, das sommerlich, aber elegant aussah. Frank Landweil bezahlte, sie bedankte sich, ohne dabei unterwürfig zu sein und sie fuhren zurück zum Bahnhof. Diesmal mit weniger Druck auf dem Gaspedal und, wenn er sich nicht irrte, auch nicht auf dem schnellsten Weg.
Seine neue Bekanntschaft war keineswegs eine Frau, die man sich einfach kaufen konnte. Sie sprachen kaum miteinander, ab und an fiel eine Floskel über Mailand, dann war wieder Stille.
Sie hatten kaum zehn Minuten Zeit, als sie am Bahnhof eintrafen und Landweil kaufte sich ein Ticket geradewegs Richtung Frankfurt, Monique fuhr ohnehin umsonst, zumindest versuchte sie gar nicht erst, ein Ticket zu kaufen. Die Ereignisse des Tages hatten ihn müde werden lassen und er passte gerade noch den Moment ab, als ein Kontrolleur seinen Fahrschein sehen wollte. Es war natürlich nicht Monique, er hatte sie nicht mehr gesehen, seitdem sie am Bahnhof angekommen waren und er den Ticketschalter angesteuert hatte. Bevor er sich weitere Gedanken darüber machte, schlief er ein und seinen Geist eroberten wieder surrealistische Träume. Er lief durch eine tiefe Häuserschlucht und konnte seine Augen wieder nicht richtig öffnen. Hinter sich hörte er eine unruhige Menschenmenge, aber irgendetwas hinderte ihn daran, sich umzudrehen. An einer Kreuzung saß ein Mann auf einer roten Kuh und schüttelte den Kopf, als er ihn erblickte. Als er aus dem Schlaf hochschreckte, war es bereits dunkel draußen. Mailand, ein paar Stunden.
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