Читать книгу: «Das Gegenteil der Wirklichkeit», страница 2
5
Die Stadt war in eine Tristesse gehüllt. Wie eine graue Schicht aus undurchdringbarem Nebel, der über allem lag, waren die Gebäude farblos, glichen sich wie ein Ei dem anderen. Die frühe Uhrzeit, das langsame Erwachen, der leichte Regen – es war eine Hollywoodkulisse für den finalen Suizid, den leisen Paukenschlag zum Schluss. Zwei verirrte Lichter wanderten die Zeughausstraße hoch. Klischeeerfüllend war es ein Citroen D2, dessen Lichter sie auf den nassen Asphalt warfen. In einer Straße von verzierten Altbauten war die Welt für eine kurze Zeit in die 50er Jahre zurückversetzt. Aus einem Fenster im dritten Stock der Nummer 38 wurde die Szenerie heimlich beobachtet.
Frank Landweil stand nun schon geraume Zeit mit einem Kaffee in der Hand vor dem Küchenfenster und blickte auf die Straße hinab. Er war um fünf Uhr wach geworden und fühlte sich unangebracht ausgeschlafen. Es brauchte nicht lange, bis er sich an den merkwürdigen vergangenen Tag erinnerte. Er musste fast neun Stunden geschlafen haben. Ihm fiel nicht ein, wann er das letzte Mal so lange im Bett gelegen hatte. Dabei wurde er von wilden Träumen geplagt, die sich nach dem Erwachen für wenige Augenblicke mit der Realität vermischten. So kam es auch, dass er den neuen Frank Landweil zunächst in diese Traumwelt verbannte. Als er sich auf sein Bett setzte und den unsanft abgelegten Anzug auf dem Sessel in der Ecke sah, wurde ihm bewusst, dass er ihn zurückholen musste. Er versuchte, sich an das Gefühl der plötzlichen Euphorie des vorherigen Tages zu erinnern, scheiterte jedoch.
Der Himmel erhellte sich ein wenig. Sein Kopf fühlte sich leer an. Es war jener paradoxe Moment, in dem ein Sturm an Gedanken und Eindrücken durch den Kopf fegten, man aber keinen fassen konnte. Als versuche man, Schnee zu fangen. Und doch hallte es dumpf in seiner inneren Ödnis, wenn er einen Schluck von seinem Kaffee trank. Es verging fast eine Stunde, die er in diesem transzendenten Zustand in seiner Küche verbrachte. Als sich sein mentales Unwetter zu legen begann, kramte er sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts hervor und rief im Büro an. Er verwendete die gleiche Ausrede wie gestern bei Marie. Er müsse ein paar Tage weg, helfen alles zu organisieren, für seine Familie da sein. Frank Landweil war jemand, dem man gerne freie Tage gewährte, nicht zuletzt seiner Position in der Firma geschuldet und dem jahrelang nicht eingereichten Urlaub. Er überlegte kurz, ob er seine verbalen Entgleisungen des Vortages gleich mitentschuldigen sollte, ließ es jedoch bleiben. Mischek und Zufer waren weder von ihrem Selbstbewusstsein noch von ihrer Stellung in der Hierarchie in der Lage, ihm ernsthaft Probleme bereiten zu können. Die beiden Kunden, die er höchstwahrscheinlich verärgert hatte, waren da schon eher ein Problem. Allerdings eines der Zukunft, nicht seiner Gegenwart.
Nach dem Rasieren und seiner üblichen Badroutine kleidete er sich mit Hemd, Kaschmirpullover und Anzughose. Einen Stil, den Landweil als casual bezeichnen würde, dabei war nicht mal Freitag. Er nahm seinen Übergangsmantel vom Bügel und verließ die Wohnung. Es war immer noch früh und er traf weder im Treppenhaus noch in seiner Straße jemanden, den er kannte. Er war dankbar, in seinem Zustand wusste er nicht wie er auf einfache Fragen antworten sollte. Die Straßenbahn war spärlich gefüllt, Frank Landweil stand trotzdem. Er empfand das Stehen in öffentlichen Verkehrsmittel als Privileg, nicht als Nachteil. Es zeigte, dass er körperlich fit war, dass er seinen Platz anderen anbot, dass er ein Gentleman war - sein wollte. Am Hauptbahnhof stieg er aus.
Auf dem ganzen Weg hierher hatte er seine Entscheidung über ein mögliches Ziel vertagt. Jetzt war er gezwungen zum Handeln. Er blickte auf die große Anzeigetafel und dachte nach. Eine andere Stadt, gar ein anderes Land? Nach langem Abwägen von Für und Wider hatte er einen Entschluss gefasst. Er lief zielstrebig Richtung Gleis 8, entschied sich für das Bahnhofscafé und suchte einen Platz in einer hinteren Ecke. Das Café war etwas zu schick für einen Bahnhof, es hatte etwas von einem Wiener Kaffeehaus. Shabby chic, das hätte Zufer jetzt dazu gesagt. Ein verschlafener junger Mann kam auf ihn zu und fragte, ob er das Business-Frühstück haben wollte. Er bejahte, wie er es immer tat, wenn ihm etwas in einem Restaurant nahegelegt wurde. Oder eben in einem Bahnhofscafé an einem Mittwochmorgen.
6
Er fühlte sich wie im Mathematikunterricht. Sein Vortrag hatte etwas von einer Gleichung mit zwei Unbekannten. Eigentlich waren es noch viel mehr, aber die offensichtlichen Unbekannten, die in seinem Fall treffender als Gefahrenstellen bezeichnet werden sollten, waren der Gast mit der vermeintlichen Lebensmittelallergie und seine Eroberung von vor drei Tagen. Größere Ausfälle oder nennen wir es hier lieber „direkt spürbare Unverträglichkeiten“ hatte es anscheinend nicht gegeben. Alle Stühle waren besetzt und der schnelle Blick in Küche hatte darauf hingedeutet, dass niemand größere Reste auf den Tellern übriggelassen hatte. Trotz der zusätzlichen Herausforderungen - Probleme kannten heutzutage ja nur Pessimisten oder Querulanten - genoss er diese Situationen. Es war einfach faszinierend, mit welch kleinen Details in Aufzug, Accessoires und Sprache man eine selbstbestimmte Distanz schaffen und dadurch leichter die Spielregeln bestimmen konnte. Er hatte sich heute für die dunkle Kochjacke, das Symbol der modernen Küche, entschieden. Das sah mehr nach Fusion-Küche, denn nach französischer „ich will Sternekoch sein“ aus. Das Bier in der Hand unterstrich seine Avantgarde, denn alle, außer den Autofahrern, tranken guten, ja sehr guten Wein.
Er startete mit der Erzählung an einer rauen Küste, den Menschen, die schon seit Jahrhunderten dem Fischfang nachgingen und die Seele des Meeres kannten. Er zog einen weiten Bogen zu den schreienden Möwen, das verlieh dem Fisch nachträglich in der Vorstellung der zufriedenen und satten Gäste Frische und das verbal unterstrichene unvergleichliche Geschmackserlebnis, das sich jeder bei dem stolzen Preis, den natürlich nur die Gastgeber kannten, erhoffte. Die Gefahr der Lebensmittelallergie im Hinterkopf wollte er das Thema Gewürze, denn daran konnte er sich noch erinnern, betont zurückhaltend behandeln. Hier musste er die Kurve kriegen und aus der Not eine Tugend machen. Was liegt da näher, als den Fisch in seinem quasi natürlichen Element garen zu lassen und die besonderen Gewürze vermeidend nur das grobe Meersalz zu erwähnen. Dass er in diesem erfundenen bretonischen Städtchen erst als Gast und dann gleich für mehrere Wochen der Köchin zur Hand ging, malte ein rundes und authentisches Bild. Er war mit sich bis dahin zufrieden und lief Gefahr, sich in eine Reise an der Atlantikküste entlang durch verschiedene gastronomische Betriebe und Privathaushalte im südlich gelegenen Bordeaux zu verlieren. Die plötzlich einsetzenden ruckartigen Bewegungen des gut aussehenden Mann mit Bart rissen ihn aus der Erzählung. Dieser atmete plötzlich stoßartig und er befürchtete, der eben noch so wortreich beschriebene Fisch könnte als Puzzle wieder auf dem Tisch zum Leben erweckt werden. Glücklicherweise konnte dieser die unappetitliche Reinkarnation unterdrücken und wurde leichenblass von seiner Begleiterin aus dem Zimmer geführt.
Das nennt man Glück oder war es mathematisches Geschick, eine Gleichung quasi in einem Zug zu lösen? Die Lebensmittelunverträglichkeit und seine ungewollte Detektivin waren in einem Zug zum Ergebnis gelangt, seine literarische Nachbetrachtung des Menüs nicht länger zu belasten. Er konnte sich nun auf das normale Drehbuch konzentrieren, die Geschichte mit Zufällen und Anekdoten würzen und die Köder in den See schmeißen und dabei beobachten: Wem hat es besonders geschmeckt, wer war sein Feind, der selbst sowieso alles besser konnte, und wer war der Schlüssel für seinen nächsten Auftritt? Den Gastgebern sah man eine gewisse selbstgefällige Zufriedenheit an, also war alles ihren Erwartungen entsprechend gelaufen. Auf der Vier, linke Seite, saß eine attraktive Mittvierzigerin, die bis jetzt sichtlich interessiert seinen Ausführungen gefolgt war und wahrscheinlich versuchte, die Dörfer und Restaurants zu verorten und mit diesen imaginären Orten vielleicht ähnlich schöne Erinnerungen verband. Hinten, am zweiten Platz an der Stirnseite, saß der Skeptiker, das klassische Magengesicht, der eigentlich nur aß, um satt zu werden, den aber die gesellschaftlichen Verpflichtungen zwangen mitzuspielen. Er beeilte sich, seine Geschichte zu Ende zu bringen, da er schon genug Angeln ausgeworfen hatte und fürchtete, dass die beiden Unbekannten aus der mathematischen Gleichung wieder auftauchen könnten. Und außerdem war sein Bier leer.
7
Zwei Brötchen, Erdbeerkonfitüre, Nuss-Nougat-Creme, eine Scheibe Kochschinken, eine Scheibe Salami, zwei kleine Päkchen Butter und ein Kaffee waren das Business-Frühstück, das Landweil um halb acht zu sich nahm. Er aß lustlos, mehr prophylaktisch, um besser denken zu können. Er musste weg. Wieder hatte ihn die Zukunft schneller eingeholt, als es ihm lieb war. Er bestellte noch einen Kaffee, nachfüllen lassen war kostenlos, doch er tat es nur, um Zeit zu gewinnen. Sekundenbruchteile nachdem er dem jungen Mann zugewinkt hatte und seine leere Tasse hob, um kurz darauf zu zeigen und anschließend den Zeigefinger zu heben, hatte er den Kampf gegen die Zeit gewonnen. Seine Gedankenbahnen ordneten sich, es wurde ein Netz mit klaren Strukturen und Wegen – er musste nur loslaufen und die Richtung wählen.
„Nach Siena möchten Sie? Der nächste Zug geht in 40 Minuten, sie müssen in Bern, Mailand und Florenz umsteigen, das dauert knappe elf Stunden. Wollen Sie das wirklich?“, die Dame am Bahnschalter schaute ihn fragend und sichtlich irritiert an. Den Mann, der etwas zu gut gekleidet war für eine Bahnfahrt, die einen halben Tag dauerte, der kein Gepäck bei sich hatte und zudem nicht aussah, als ob er sich ein Flugticket nicht hätte leisten können.
„Ja, bitte! Das ist perfekt. Ich mag Bahnfahrten sehr gerne“, antwortete Frank Landweil und lächelte dabei, als würde er gleich in die Karibik fliegen.
Das Gleis 15 lag im hinteren Abschnitt des Bahnhofs. Hier standen keine Pendler, keine Mittzwanziger mit Rollkoffer und blauem Anzug. Mit ihm warteten noch ein älteres Ehepaar und eine Familie mit zwei Kindern auf den Zug. Die Eltern der Kinder waren unwesentlich älter als er selbst. Er beobachtete die junge Familie und wusste nicht, ob er neidisch oder froh sein sollte. Dem kleinen Jungen, er musste um die fünf Jahre alt sein, fielen seine Blicke auf und er winkte. Er wirkte dabei so fröhlich und unschuldig, dass er am liebsten angefangen hätte zu weinen, winkte jedoch nur mit einem milden Lächeln zurück. Die Mutter sah es und zog den Jungen zu sich und machte eine entschuldigende Geste in seine Richtung.
Als der Zug einfuhr, fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Er sah sich mit acht Jahren wie er mit großen Augen das erste Mal von seinem Vater auf eine längere Zugfahrt mitgenommen wurde. Sie fuhren damals von Frankfurt nach Hamburg. An den Aufenthalt in der Stadt konnte er sich nicht mehr erinnern, an die lange Fahrt dorthin sehr wohl – sie war herrlich gewesen. Der Vater hatte ihm an jedem Halt ein wenig über die Stadt erzählt und immer, wenn sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, flüsterte er: „Sie haben uns wieder nicht gekriegt, sehr gut!“, als wären sie auf der Flucht und lächelte ihm dabei verschwörerisch zu. Was waren sie für Freunde gewesen, es kam ihm vor wie ein anderes Leben.
„Junger Mann, könnten Sie mir vielleicht mit meinem Koffer helfen?“, sichtlich aus seinen Träumen gerissen war Landweil erschreckt, als plötzlich das ältere Ehepaar vor ihm stand.
„Verzeihen Sie, ich war in Gedanken, selbstverständlich!“ er nahm die zwei Koffer und trug sie die drei kleinen Stufen in den Zug.
„Soll ich Ihnen die Koffer gleich in die Hutablage heben?“, Landweil war bemüht seine mangelnde Aufmerksamkeit wiedergutzumachen.
„Danke, sehr freundlich von Ihnen!“, das Paar lächelte und setzte sich zufrieden.
Er lief den Gang zwischen den Sitzen entlang und hielt Ausschau nach seiner Nummer. Fensterplatz in Fahrtrichtung, das hatte die Dame am Schalter mehrfach betont. Er wurde schnell fündig und ließ sich nieder. Was wollte er in Siena? Was erhoffte er sich von dieser Flucht? Frank Landweil war ratlos. Seine klaren Gedankenbahnen waren verschwunden, es blitzten immer wieder Momentaufnahmen aus seiner Kindheit, Jugend, Studienzeit auf. Das Gewitter hatte seinen Geist in Kürze überrascht und er fand keinen Unterstand. Plötzlich schreckte er auf, als sich eine Person neben ihn setzte. Wie automatisiert sagte er „Ich heiße Frank Landweil, 33 Jahre alt und ich weiß nicht weiter.“.
8
Randolf Metzger saß noch etwas verschlafen in einem Café im Hauptbahnhof, auch wenn man sich die Frage stellen konnte, wie bei diesen geringen Ausmaßen des Haupt- ein Nebenbahnhof aussehen könnte. Der Kaffee entsprach, wie sollte es an diesem Ort auch anders sein, nicht seiner Beziehung zu „Cafe“. Was sollte er auch von einem Café erwarten, das überwiegend mit Bestellungen belästigt wurde, die als Ergebnis eine schwarze Brühe in Pappbechern mit Vanillegeschmack oder ähnlichen Abscheulichkeiten hervorbrachte. Er suchte in seinem Gedächtnis nach den wesentlichen Teilchen, die es wert waren, in seine gedankliche Zukunftsdatenbank in die Rubriken „Chance“ und „Just for fun“ abgelegt zu werden. Um den Zug nicht zu verpassen, stellte er auf seinem Smartphone die Weckfunktion mit einem Vorlauf von 15 Minuten vor Abfahrt ein.
Die gestrige Veranstaltung war erfolgreich verlaufen, was er an den vielen persönlichen Handreichungen und Vorstellungen der Gäste maß. Für diesen Abend hatte er es geschafft, der Bühnenstar zu sein. Die Geographieprobe durch die interessierte Mitvierzigerin konnte er durch geschickte Ablenkungsmanöver und Komplimente ihrer perfekten Ortskenntnisse und vor allem ihres exzellenten Geschmacks in allen Lebensbereichen umschiffen. Die heftige Windböe bei der Frage nach dem Namen der Patronin des besagten Restaurants an der Atlantikküste, manövrierte er durch ein lässiges aus dem Wind gehen mit „in der Küche nennt man sich nur beim Vornamen“ aus. Die Frage nach dem Vornamen blieb aus und hier war klar, dass er die Prüfung bestanden hatte beziehungsweise Frau Detektivin wohl auch etwas auf den Busch geklopft hatte. Danach schaffte er es noch rechtzeitig, mit der ihm bekannten jungen Dame in Kontakt zu treten, deren Begleiter er anscheinend doch durch eine kreative Unverträglichkeit aus dem Rennen geworfen hatte. Sie hatte eine besondere Klasse. Das homöopathische Zunicken in einer Dosis von, sagen wir in der Potenz C-200, signalisierte ihm die stille Übereinkunft zweier Verschwörer, die beide etwas zu verbergen hatten. Sie stellten sich einander wie bisher unbekannt vor. Und siehe da, auch sie nutzte anscheinend unterschiedliche Identitäten, soweit man die Beschreibung seiner beruflichen Tätigkeiten oder privaten Vorlieben, die man Fremden erzählt, als Identität bezeichnen konnte. Kurzum, jeder hatte nach dieser erneuten Kontaktanbahnung eine Telefonnummer mehr im Verzeichnis und er musste sich eingestehen, dass er insgeheim hoffte, dass sie darunter für ihn auch erreichbar war. Als sehr interessant erwies sich der Herr mit dem skandinavischen Akzent, dem er zu schnell anbot, ihn anstatt Herr Metzger Olof in Abwandlung von Randolf zu nennen. Dieser stellte sich mit Finn Magnusson vor und unterlies es, ihn aufzufordern, ihn zur Herstellung der Augenhöhe ebenfalls beim Vornamen zu nennen. Auch hier war die Distanz aktiv hergestellt. In diesem Fall von Finn, also Herrn Magnusson. Herr Magnusson war einer dieser superschlauen, eloquenten und dazu noch gutaussehenden Entrepreneure, die aus einer vermeintlich einfachen Idee mit Hilfe des Internets schon in jungen Jahren viel, viel Geld gemacht hatten. Und er war immer noch jung. Er war kein offensichtlicher Aufschneider und man musste ihm schon ein paar Details aus der Nase ziehen. Sein Interesse an der Kochkunst und deren Inszenierung war ausreichend motivierend, einige Anekdoten zum Besten zu geben und er konnte einen Visitenkartentausch recht unaufdringlich mit der üblichen Vereinbarung der gegenseitigen Wertschätzung über die Bühne bringen. Jenes Teil wurde in der Rubrik „Chance“ abgelegt. Die Gastgeber zahlten ihm, wie vereinbart, den zweiten Teil seines Honorars in Bar aus und er fasste sich bei diesem Erinnerungsteilchen automatisch an die Brusttasche.
Sein Smartphone machte sich bemerkbar. Er hatte für Erinnerungsmeldungen das Soundschnipsel mit dem Namen „Spielstunde“ gewählt, in der Hoffnung, dass kein anderer auf die Idee kommen könnte, so einen Blödsinn auszuwählen. Mit einem Lächeln erinnerte er sich, welch gymnastische Performance auf Bahnhöfen früher bei dem millionenfach genutzten Nokiaklingeln vonstattenging. Jetzt bewegte sich nur Randolf Metzger. Und zwar zügig zu Bahnsteig 2.
9
Der alte Mann hatte keine Eile. Er zog seinen Mantel aus, streifte seinen Schal ab und hängte alles an den dafür vorgesehenen kleinen Haken, der auf einer Schiene am oberen Rand des Fensters verlief. Seinen Hut legte er in die Ablage. Erst dann setzte er sich und wandte sich dem jungen Mann Anfang dreißig zu, der auf dem Stuhl neben ihm bereits Platz genommen hatte und ein wenig verstört auf etwas zu warten schien.
„Wissen wir denn nicht alle manchmal nicht weiter?“, entgegnete er Frank Landweil, der ihn gebannt anstarrte, als er die Worte sprach.
Die Einfachheit der Antwort war für ihn schwierig zu fassen. Er versuchte nicht, ein Gegenargument zu suchen. Der alte Mann kam ihm altersmilde vor, belehrt, fast ein wenig weise. Er interpretierte die Aussage gedanklich und fand letztendlich eine deterministische Lebensauffassung darin. War es wirklich so, dass man die persönliche Situation immer als Sonderfall deklariert? Dass man glaubt, dass es für einen selbst keine Lösung gibt, sehr wohl aber für alle anderen?
Nach einer Zeit des Schweigens schaute Landweil zu dem alten Mann und sprach: „Ich fliehe vor etwas, das ich nicht verlassen kann. Ich renne vor etwas davon, was in mir ist. Ich nehme es mit jedem meiner Schritte mit.“ Er war selbst ein wenig verblüfft von dieser philosophisch anmutenden Äußerung, dazu noch gegenüber einem vollkommen Fremden. Der alte Mann schaute ihn nicht an, als er schließlich antwortete. Er blickte geradeaus, als ob er von einem Teleprompter ablesen würde, was er ihm erzählte. „Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich mal meine Mutter angelogen. Es war nichts Schlimmes, eine Kleinigkeit. Ich fühlte mich so furchtbar, dass ich nicht wusste, wie es weiter gehen soll. Ich saß tagelang in meinem Zimmerchen und wurde immer verzweifelter. Irgendwann gestand ich ihr die Lüge. In dem Moment waren alle Schranken und Mauern verschwunden, die mir den Weg versperrt hatten“, er ließ eine Zeit lang das Gesagte im Raum stehen, bevor er fortfuhr: „In meinem Leben hatte sich rein gar nichts geändert. Ich hatte immer noch meine Mutter angelogen. Aber ich war mir im Klaren, dass es immer weitergeht. Man kann nicht vor etwas weglaufen, was man an einer Leine hinter sich herzieht. Aber es ist einem selbst überlassen, wann man die Leine loslässt. Man kann die Dinge nicht ungeschehen machen, aber man kann ihnen etwas entgegensetzen.“
Frank Landweil starrte aus dem Fenster und versuchte, die Geschichte einzuordnen und eine Lösung für ihn daraus zu ziehen. Der Zug fuhr nun schon eine Weile und er war verwundert, dass es ihm bis eben nicht aufgefallen war. Die Zäune, Häuser und Bäume glitten gleichmäßig an seinem Auge vorbei, aber er realisierte erst jetzt, dass sie fuhren. Er stellte sich vor, wie er eine Leine in der Hand hielt, an der sein Leben hing. Er versuchte, sie immer wieder loszulassen, doch es gelang ihm nicht. Er hatte Angst, was er alles loslassen würde und was bliebe.
Er erwachte wieder, als ihm die Sonne ins Gesicht schien und eine Schaffnerin ihm auf die Schulter tippte. Er holte seine Fahrkarte hervor und zeigte sie. Der Platz neben ihm war leer. Frank Landweil war verwirrt, er fragte die Kontrolleurin, wo der Herr hin sei, der neben ihm gesessen hatte. Sie lächelte und entgegnete, dass der Platz die ganze Zeit leer gewesen sei und der halbe Zug nicht belegt war.
Die Verwirrtheit zeichnete ihre unstrukturierten Emotionen in sein Gesicht, das er der Welt hinter der Scheibe zuwandte. Was geschah gerade mit seinem Leben? Er stand auf und lief in das Zugabteil, in dem das Bordbistro war. Für einen unverschämt hohen Preis kaufte er einen Kaffee und ein Croissant. Er hatte auch hier nahezu freie Platzwahl und setzte sich wieder ans Fenster. Landweil versuchte, an der Umgebung zu erkennen, wo er war. Seit geraumer Zeit hatte es schon keine Durchsagen mehr gegeben, wann und wo der nächste Halt kommen würde oder wann sie Bern erreichten. Gerade als er die Zugbegleiterin fragen wollte, wo sie sich befanden, störten zwei sich laut unterhaltende Männer sein Vorhaben. Als sie ihn erblickten rief einer rüber: „Scheiße, Franky bist du das?!“
Начислим
+9
Покупайте книги и получайте бонусы в Литрес, Читай-городе и Буквоеде.
Участвовать в бонусной программе