Читать книгу: «Das Gegenteil der Wirklichkeit», страница 3

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Eine Welt voller abgeschirmter Menschen hatte den Zug gut zur Hälfte bevölkert. Abgeschirmt, weil so gut wie jeder Stöpsel, meist weiß, im Ohr hatte. Die Altersunterschiede der Reisenden waren durch die Größe der Kopfhörer ersichtlich. Je größer, desto jünger der oder die Beschallte. Randolf Metzger fand seinen Platz und konnte ganz ohne eigene Soundmaschine Musik hören. Wie eine Botschaft drang der alte Hit der Popgruppe Crowded House „You always take the weather, the weather with you!“ an sein Ohr. Als er sich eine bequeme Sitzposition suchte, überlegte er, ob dies eine Botschaft an ihn sei. Seine müden Gedanken kreisten um die letzten Jahre, Monate, dann Wochen, um schließlich bei dem gestrigen Abend zu landen. Mit dem Abstand einer fast ganzen Nacht war er richtig zufrieden, man hätte es fast Glück nennen können. Er brauchte für die tieferen Erkenntnisse immer etwas Zeit. Ereignisse, Gespräche, Menschen, die er traf oder seine eigenen Sätze, die er gesprochen hatte, wirkten meist nach - heute überwiegend positiv. An wichtigen und dann langen Abenden nicht betrunken zu sein, hatte absolute Vorteile. Der Sinn des Popsongs galt für ihn umso mehr, da er für sich feststellte, dass, egal wo er war, die Begleitumstände immer ähnlich waren. Die Situationen wiederholten sich wie das täglich grüßende Murmeltier. Sehnte er sich etwa nach dramaturgischer Abwechslung? Der junge Mann neben ihm war eingeschlafen und die Musik dröhnte weiter. Er wechselte den Platz. Außerdem liebte er Fensterplätze und jetzt konnte er ungestört nach draußen schauen. Es begeisterte ihn wie schon als kleiner Junge, die Landschaft vorbeirasen zu sehen und abwechselnd den Fokus von Nah auf Fern zu stellen. Die Naheinstellung war in Bewegung immer unscharf, die Distanz schaffte Klarheit. Ein schönes Spiel, das die Sinne schult. Er hatte noch einige Stunden Fahrt vor sich und beschloss den Augen ein wenig Ruhe zu gönnen und war direkt eingeschlafen.

Er hörte wieder das gleichmäßige Knirschen unter seinen Sohlen und der freie Atem mit dem immer gleichen Blick nach oben. Dieser Himmel und die Ruhe bei begleitender natürlicher Geräuschkulisse ließen ihn tief und fest schlafen.

Und als ob es Gesetz wäre, wurde er immer aus der schönsten Traumphase gerissen. „Fahrausweise bitte!“, stach es in sein Ohr. Er griff neben sich und erschrak, seine Tasche war nicht sofort zu spüren. Hatte man ihn beklaut während er schlief? Sein erster Gedanke galt nicht seiner Fahrkarte, sondern seinen beiden Lieblingsmessern, die er in einer festen Schatulle in seiner Sporttasche transportierte. Lange hatte er mit Messern herumexperimentiert und sich gegen den Hype gewährt, sündhaft teure japanische Modelle zu nutzen. Doch musste er sich irgendwann eingestehen, dass ein aus Damaststahl gefertigtes Messer den Genuss stark erhöhte, den er bei der Bereitung der Speisen empfand. Der schonende Schnitt verringert den Austritt ätherischer Öle und damit der Geschmacksstoffe und die Augen tränen nicht so sehr beim Zwiebelschneiden. Zudem hatte man meist noch ein Gesprächsthema mehr für ambitionierte Hobbyköche. Jetzt war der Zugschaffner bei ihm angekommen und blickte ihn fragend an. Er hob ratlos die Schultern und wollte gerade seiner Empörung Luft verschaffen, als er in der gegenüberliegenden Ablage seine Tasche entdeckte. Nach der Fahrscheinüberprüfung lohnte die Verlängerung seines Schönheitsschlafes nicht mehr, da er bald aussteigen musste.

Wie lange hatte er seine eigene Wohnung nicht mehr gesehen. Er besaß keine Zimmerpflanzen und brauchte sich deshalb keine Sorgen um deren Gesundheit machen und die Post holte eine Nachbarin für ihn aus dem Kasten. Auf ihn würde niemand am Bahnhof warten, aber er vermisste das nicht besonders, auch wenn er spontan daran dachte, Deborah anzurufen, oder zumindest zu testen, ob die Nummer, die sie ihm, und der Name, den sie sich gegeben hatte, irgendeiner Wahrheit nahekamen. Metzger war mit sich im Reinen als er auf dem Weg zur Zugspitze durch das Boardbistro ging. Mann war er froh, dass er nicht alte Bekannte traf, die ihn quer durch den halben Zug mit „Scheiße, Franky alter Junge!“ oder ähnlichem Peinlichkeiten aus der guten Stimmung rissen.

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Frank Landweil erschrak, als er seinen Namen hörte. „Franky“ nannten ihn nur Freunde aus seiner Schul- oder Studienzeit. Er hatte bis auf zwei, mit denen er in einem sporadischen E-Mail-Kontakt stand, keine Bekannten mehr aus diesen Lebensabschnitten. Zumindest keine, die aus seinem direkten Studienumfeld stammten. Mit gutem Grund. Die beiden Männer standen am Ende des Wagons und er erkannte nicht, wer ihn da rief. Er hätte am liebsten ein einfaches „Nein, Sie müssen mich verwechseln!“ entgegnet, aber dafür was es schon zu spät. Einer der beiden hatte sich in Bewegung gesetzt und kam auf ihn zu.

„Na klar! Franky Hanky Landweil, das bist doch Du!“, rief der Fremde, der ihm langsam bekannter vorkam.

„Julius Steltzer?“, fragte Landweil den großgeratenen mit einem jugendlichen, etwas peinlich aussehenden Kapuzenpullover bekleideten Mann.

„Ja sicher, ich bin Julez. Wir waren im gleichen Leistungskurs gewesen damals. Mensch, das ist ja ewig her. Was machst du so? Warum bist du so schick unterwegs?“

Landweil war vom gesamten Auftritt Julius Steltzers beschämt. Schlimmer noch, er war angewidert. Ein Mann Mitte 30, der sich selbst noch mit „Julez“ vorstellte und in einem Kapuzenpullover durch das Land fuhr, war für ihn das Sinnbild einer gescheiterten Persönlichkeit. Von dem Kommentar, dass er so schick sei, mal ganz abgesehen.

„Nach dem Abitur bin ich direkt an die Universität und habe BWL und Staatswissenschaften studiert, dann wurde ich abgeworben. Ich bin jetzt beim BND. Du verstehst, dass ich Dir nicht viel mehr dazu sagen kann. Was machst du?“, fragte er und war interessiert, ob „Julez“ eher arbeitslos oder hipper Lehrer war. Als Quereinsteiger natürlich.

„Ahh der Landweil, immer noch der alte Streber! Ich bin erstmal ein bisschen durch die Welt gereist – Thailand, Vietnam, Kambodscha, die ganze Ecke da. Wollte erstmal zu mir finden und dann schauen, was ich mache. Hab dann angefangen Komplementärmedizin zu studieren, aber wieder abgebrochen. Gerade bin ich an einem jungen Start-Up beteiligt. Wir wollen Becher aus recyclebaren Rohstoffen herstellen. Alles so auf dem ökologisch bewussten Weg, Du verstehst?“

Landweil verstand und nickte mit dem anerkennendsten Gesicht, das er schaffte aufzulegen. Julius Steltzer verabschiedete sich dankbarerweise gleich darauf mit den üblichen Sprüchen, dass man in Kontakt bleiben sollte und lief in den nächsten Wagon. Seinen Partner ließ er unvorgestellt.

Die Begegnung mit Julius Steltzer brachte Frank Landweil dazu, dass er sich innerlich begann zu echauffieren. Wie konnte man mit 19 Jahren sich erstmal selber finden müssen? Welche Hippie-Eltern erzählen ihren Kindern diesen Schwachsinn? Und dann Komplementärmedizin? Natürlich abgebrochen, aber das ist ja auch nicht so wichtig, wenn man sich selbst finden muss – gehört wahrscheinlich zum Prozess dazu. Ein Start-Up mit recyclebaren Bechern? Das war kein bisschen neu. In ihm baute sich eine Wut auf, dass er irgendwann laut schnaubte und mit dem Kopf schüttelte. Eine junge Dame in Bahnuniform kam zu seinem Tisch und fragte, ob sein Kaffee nicht schmeckte.

Als er wieder an seinem Sitzplatz angekommen war, fiel ihm seine Lüge ein, dass er beim BND arbeitete und er musste schmunzeln. Man konnte den Leuten alles erzählen und sie glaubten es, wenn man nur alt genug war und authentisch aussah. Wobei Authentizität auch nichts anderes war, als der Vorstellung zu entsprechen. Es interessiert den Menschen nicht mehr, was der andere macht, sondern viel mehr, was er selber tut und wie es bei anderen ankommt. Wahrscheinlich war das unangenehme Treffen deshalb so schnell vorbei gewesen, er hatte ja schließlich seine Anerkennung Kund getan. In ihm breitete sich wieder das wohlige Gefühl aus, das er neuerdings immer wieder bekam, wenn er besonders ehrlich war oder stark gelogen hatte.

Just in dem Moment als das wohlige Gefühl vollständig seinen Körper übernommen hatte, machte der Zug eine abrupte Vollbremsung und sie kamen wenig später zum Stehen.

12

Genießen: Metzger wollte den ersten Tag in seiner eigenen Wohnung ruhig angehen und sich einfach selbst etwas gönnen. Hatte er sich die letzten Tage bemüht, anderen Menschen das Genusstheater gekonnt aufzuführen, sollte er heute selbst sein eigener Gast und Gastgeber zugleich sein. Allein der Gedanke, das „Genusstheater“ als solches einmal für sich durchgängig zu definieren, erfüllte ihn mit einer solch großen Vorfreude, dass er dies schon als Genuss empfand. Die Autosuggestion, sich schöne Dinge vorzustellen und dann ein wenig die damit verbundenen Gefühle zu imaginieren, war immer wieder eine schöne Erfahrung. Er erinnerte sich an eine interessante Abhandlung über die mentale Vorbereitung erfolgreicher Wettkampfsportler vor großen Herausforderungen, die sich zwar nicht den Sieg an sich vorstellen, aber die erfolgreiche Aneinanderreihung der wichtigen Abläufe. Die Konzentration im Startblock, der Start, die ersten Meter in noch geduckter Haltung, das Aufrichten und so weiter und so weiter bis hin zur Staffelübergabe. Wie er selbst wusste, bei Team-Wettbewerben wie im richtigen Leben die eigentliche Herausforderung. Was jedoch – so die Wissenschaft – mit der richtigen Einstellung wesentlich seltener zum Desaster führte.

Diese Theorie, dass allein die positive Vorstellung von Abläufen zum Erfolg führen konnte, zeichnete ihm ein breites Grinsen auf sein von den letzten Tagen etwas müdes Gesicht. Konnte er sich für den Abend ein nettes Erlebnis herbeikonstruieren?

Doch vor das mentale Genießen hatte die Realität die noch unaufgeräumt hinterlassene Wohnung gesetzt. Er war vor rund drei Wochen quasi zu einer Tournee aufgebrochen, hatte sechs Aufträge in unterschiedlichen Städten abgearbeitet und jetzt musste Auftrag Nummer sieben erledigt werden. Ohne Messer und Gewürze. Er wirbelte eine gute Stunde durch die Wohnung, begrüßte beim Wegräumen lauthals seine sieben Sachen und knüpfte wieder bei der Imagination für seinen persönlichen Abend an. Er malte sich ein für diese Jahreszeit optimales Abendessen aus. Zu sich selbst war er deutlich ehrlicher und reduzierte die Abfolge auf das Wesentliche, ohne das übliche Chichi, das die manchmal hohen Preise zu rechtfertigen versuchte. Für die warme Jahreszeit schien ein Tintenfisch-Carpaccio mit einem leicht fruchtigen Dressing ein idealer Start. Und wenn er schon auf der Fischlinie war, wäre ein Seeteufel ein gelungener Hauptgang, über dessen Zubereitung er noch ein wenig nachdachte. Erfolgreiche Autosuggestion setzte ein hohes Maß an Wissen um die gewünschten „Bilder“ und auch Erfahrung voraus. War der erste Gedanke eher kindlich nach dem Motto gestrickt, „Ich muss mir nur vorstellen, wie ich die Millionen ausgebe, dann muss ich nur noch Lotto spielen und schon klappt es!“, nahm er sein Vorhaben nun ernst. Kreativität hinsichtlich des Machbaren, der Zutaten und Zeitplanung. Den dritten Teil hatte er in den letzten Tagen oft übersprungen und zu stark auf die ersten beiden Teile gesetzt, um den dritten Teil durch noch mehr Mut und Improvisation zu ersetzen. Hätte er die letzten Aufträge mit besserer Vorbereitung etwa mehr genießen können? Er wollte es auf jeden Fall das nächste Mal versuchen. Er verfing sich in seinen philosophischen Gedanken und steckte plötzlich fest. Die letzten Tage hatten Metzger offensichtlich zugesetzt. Ihm gingen mathematische Gleichungen bezüglich perfekter Imagination durch den Kopf und er verlor darüber den Faden zu seinem eigentlichen Vorhaben. Die Aufträge der letzten Tage flogen rückwärts durch seine Gedanken. Erst servieren und dann die Zutaten beschaffen, danach Fische ausnehmen – alles drehte sich im Kreis. Als Metzger wieder in der Realität ankam, saß er auf seinem lehnenfreien Hocker in der Küche. Seine Augen blieben am Kühlschrank haften. Seine Hoffnung beruhte darauf, dass noch kaltes Bier darin lagerte. Metzger stand auf und öffnete vorsichtig die Kühlschranktür, als ob er mit zu schnellem Öffnen ein Bier verschrecken könnte. Es langweilte sich tatsächlich noch ein einsames Feldschlösschen im obersten Fach. Das war eindeutig zu wenig, um es sich gemütlich zu machen. Er musste doch nochmals das eigene Nest verlassen. Sollte er sich noch verabreden?

Als das Telefon klingelte, beschloss er, jedes halbwegs gute Angebot anzunehmen sich durch die Stadt treiben zu lassen.

13

In Frank Landweil manifestierte sich in kürzester Zeit ein Horrorszenario. Es musste sich jemand vor den Zug geworfen haben. Alles andere schloss er kategorisch aus. In welcher Situation musste sich der Selbstmörder befunden haben? Was hinterließ er? Den anderen Fahrgästen in seinem Wagon schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu schießen, wobei sie nicht so schockiert aussahen, wie er sich fühlte. Bei genauerem Betrachten entdeckte er gar eine ganz andere Emotion: Sie waren genervt. Er war fassungslos. Da hatte sich womöglich ein Mensch vor wenigen Sekunden das Leben genommen und diesen herzlosen Wesen war es vollkommen gleichgültig, ja sie waren sogar gestört davon. Bestimmt dachten sie sich Dinge wie: „Hätte der sich denn nicht vor einen anderen Zug werfen können?“, „Jetzt verpasse ich wegen dem auch noch meine Serie heute Abend!“ oder „Ich komme nicht pünktlich zum Meeting, nur weil sich hier jemand umbringen musste!“ oder wie Kaiser Wilhelm nach dem Selbstmord seines eigenen Sohnes „Dass er uns das auch noch antun musste“. Er wurde so wütend, dass er schließlich aufstand, sich in den Gang stellte und zur Irritation seiner Mitmenschen laut „Ich schäme mich für Sie alle!“ in die Stille und ihre Gesichter rief. Gerade als er seinen theatralischen Auftritt mit einem entschlossenen Gang in den nächsten Wagon fortsetzen wollte, erhaschte er einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah ein blaues Schild mit weißer Schrift - BERN HBF. Der Zugführer hatte schlichtweg zu spät gebremst für die Bahnhofseinfahrt. Frank Landweil wurde heiß, Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn, Demütigungen in der Öffentlichkeit waren die Hölle für ihn. Er verließ hastig den Zug.

Die Peinlichkeit des Moments hallte noch nach, als Frank Landweil in der großen Halle des Bahnhofs stand. Am Kopfende des schier riesigen Raumes störten ihn rote Neonröhren und es passte zum restlichen Gebäude. Ein Mann hatte wohl im Vorbeigehen seinen Blick aufgefangen und drehte sich zu ihm um, um im Laufen mit einem leichten Lächeln zu sagen „Der Wanner hat sich das bestimmt auch anders vorgestellt!“ Wer zur Hölle war der Wanner?

Er steuerte das nächste Café an, um sich einen erneuten Überblick über seine jetzige Situation zu verschaffen, an der sich objektiv nur der Ort geändert hatte. Es war ein typisches Bahnhofscafé mit ein paar Sitzgelegenheiten. Es trug den englischen Namen der Heidelbeere und Frank Landweil fragte sich, warum das besser klingen sollte. Er war also in Bern angekommen. Die Fahrt hierher kam ihm wie eine Ewigkeit vor, ein kurzer Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass das nicht stimmte. Er setzte sich in eine Ecke des Cafés, kramte das Ticket aus seiner Manteltasche und überprüfte seine Umsteigezeit. Er hatte noch eine knappe halbe Stunde, bis er den nächsten Zug nehmen musste. Er fühlte sich plötzlich in seinen Caféaufenthalt am Morgen zurückversetzt. In diesem Moment kam auch ein junger Mann auf ihn zu, allerdings hellwach und aufgedreht im Kontrast zu dem verschlafenen Jungen vom Morgen. Der Junge ratterte in unglaublicher Geschwindigkeit Angebote und Gerichte runter und informierte ihn über eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Menus. Auch hier entschied sich Frank Landweil für die Empfehlung des Jungen und er nahm seine zweite „Business-Mahlzeit“ des Tages zu sich, diesmal: das Business-Mittag.

Den Mantel über seinen rechten Arm gelegt, schlenderte er in Richtung eines Zeitungsladens. Er wollte sich noch eine Zeitschrift kaufen, bevor er weiterfuhr. Eine Angewohnheit aus seiner Studienzeit. Er spürte plötzlich wieder eine wohlige Leichtigkeit in ihm aufsteigen. Der Gedanke an sein Ziel Siena ließ ihn gar ein wenig euphorisch werden. Gedanklich flanierte er schon durch die kleinen Gassen hin zur Piazza del Campo. Mal hatte er eine junge Dame im Arm, mal einen jungen Labrador an der Leine. Beide Versionen gefielen ihm und er wäre fast in einen Postkartenständer gelaufen, hätte ein älteres Paar nicht noch „Vorsicht!“ gerufen. Er bedankte sich und erkannte sie wieder. Es war das Paar, dem er die Koffer in den Zug gehoben hatte. Er grüßte höflich und lief ohne Zeitschrift in Richtung seines Gleises.

14

Als Randolf Metzger die Augen öffnete, musste er sich erst orientieren, wo er sich befand. Die Situation war nicht ungewöhnlich für ihn, da er ja oft unterwegs war und sich oft morgens erst einmal zurechtfinden musste. Der Blick zur Zimmerdecke verriet ihm schnell, dass er in seinen eigenen vier Wänden war, da ihn eine selbstgemalte Sonne, die mit einem Auge zwinkert, anlachte. Was ihm der starre Blick nach oben nicht verriet, war, dass er neben seinen noch weitere Atemgeräusche vernahm. Rechts neben ihm lag ein dunkler Haarschopf, aus dessen ihm abgewandter Seite ein stilles und gleichmäßiges Geräusch hörbar war.

Als es gestern klingelte, hatte er noch keinen rechten Plan für den Abend und seine hilfsbereite Nachbarin, die ihm auch den Postkasten leerte, stand vor der Tür, lächelte ihn an und erkundigte sich bei der Übergabe eines ansehnlichen Stapels Post nach seinen Befinden und ob er nun ein paar Tage länger als gewohnt in der Stadt sei. Von dem Empfinden beflügelt, sich für die vielen einseitigen Dienstleistungen, die er bisher empfangen hatte, zu revanchieren, fragte Metzger, ob er sie gelegentlich als Gegenleistung einmal einladen dürfe. Gewohnt an die floskelhafte Kommunikation, die er aus seinem beruflichen Umfeld kannte und solche Einladungen lediglich als Höflich- oder Nettigkeiten gewertet wurden, war er doch sehr überrascht, als Frau Bieler schlagfertig antwortete, dass sie die Einladung gern annehme, sie sich allerdings noch schnell umkleiden müsse und man dann ja „wieterschnörre chönt“. Ihm gefiel das lustige Schweizerdeutsch seiner schlagfertigen Nachbarin und überlegte, welche Form der Einladung die nette Frau sich nun vorstellte. Ein Abendessen in der Qualität, die er bevorzugte, konnte er sich mitten in Zürich nicht leisten. Aus seinen Notreserven an Lebensmitteln konnte er nichts Adäquates zaubern, was die andauernde Hilfsbereitschaft eventuell gefährdet hätte. Als er nochmals abwog, ob eine Dose Thunfisch, das halbe Kilo Standardpasta und die paar eingefrorenen Kräuter doch reichen würden, klingelte das Telefon und Frau Bieler fragte, ob neunzehn Uhr passen würde und sie ein gute Bar für den Start kenne, falls sie ihn mit ihrer Spontanität überrascht hätte. Er sagte: „Das ist ein guter Plan!“

OK, er hatte innerhalb von ein paar Minuten jegliche Selbstbestimmung aus der Hand gegeben. Frau Bieler war wahrscheinlich ein wenig älter als er, eventuell auch schon über vierzig. Was für ein Etablissement würde sie vorschlagen? Fing es ab vierzig schon an, dass es ein wenig plüschig wurde oder ging man eher in die Beitz um die Ecke? Er überlegte welchen Kontervorschlag er unterbreiten könnte, schließlich ist er ja der Einladende. Die Rimini Bar schien ihm angebracht, da sie eine gewisse raue Herzlichkeit besaß, aber gute Drinks zu, für Schweizer Verhältnisse, erträglichen Preisen bot. Dazu konnte man auch ein ordentliches Club Sandwich essen.

Sie schlug die Bar Corazon vor und es wurde ihm ein wenig unangenehm. Er kannte die Bar zwar nicht, aber der Name lies der Phantasie einen gewissen Raum, den er für heute und mit der Nachbarin nicht auszufüllen gedachte.

Die Bar war klasse. Als sie eintraten und er die lange rechtwinklige Theke sah, die Ecke schön rund geschwungen, ging sein Herz auf. Der Name der Bar hatte ihn damit schon einmal persönlich berührt. Judith, so wurde sie vom Barkeeper begrüßt, dirigierte ihn an die kurze Seite der Bartheke, was seiner persönlichen Vorliebe ebenfalls entsprach. Diese Wahl gestatte es, dem Barmixer schön auf die Finger zu schauen, um zu lernen, aber auch ein wenig auf die hygienischen Verhältnisse zu achten. Zum Start immer einen Klassiker, Daiquiri, einen trockenen Martini oder einen Whiskey Sour, da konnte im Normalfall nichts schiefgehen.

Eine Bewegung neben ihm im Bett riss ihn aus seinen Erinnerungsfetzen des gestrigen Abends. War doch etwas schiefgegangen?

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