Читать книгу: «Im März färbte sich der Frühling braun», страница 3
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Als Nili und Waldi am frühen Abend den Kriminaloberrat wieder nach Itzehoe zurückbringen, stehen zu seiner Verabschiedung alle an der Haustür und winken dem Passat hinterher.
»Das ist also Nilis berühmt-berüchtigter ›Hein Gröhl‹? Mir kam er eher ruhig und angenehm vor«, meint Ima Lissy.
»Möglich. Aber ich denke, jetzt lassen sich seine gelegentlichen schroffen Ausbrüche besser nachvollziehen«, urteilt Abuelita.
3. Aus Nilis Tagebuch
Nili nimmt sich mal wieder ihr Tagebuch vor, denn sie will darin die letzten Ereignisse festhalten. Sie tut es damit ihrer Abuelita Clarissa gleich, die schon in früher Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraut hat und gelegentlich Tochter und Enkelin auch daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte und von den ereignisreichen Tagen der Flucht der Großeltern Heiko und Clarissa, ihrer Mutter Lissy und Onkel Oliver aus Nazi-Deutschland sowie aus ihrem bolivianischen Exil. In ihrem ersten Gymnasialjahr in Hamburg begann sie mit den Einträgen und hielt in unregelmäßigen Abständen alle jene erwähnenswerten Erlebnisse handschriftlich fest, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und anlässlich des schmerzhaften Endes einer Affäre mit einem Mann unterbrach sie diese Gewohnheit für längere Zeit und begann erst Jahre später damit – bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt –, ihre interessantesten Fälle festzuhalten. Inzwischen tippt sie ihre Aufzeichnungen auf dem Laptop und speichert sämtliche Berichte auf einer separaten, nur dafür bestimmten Festplatte.
Nachdem Waldi und ich KOR Stöver vor seinem Gästehaus in der Itzehoer Dorfstraße abgeliefert hatten, fuhren wir gleich weiter nach Kiel. Wir hatten uns erstaunt gezeigt, dass Stöver seit seiner Ankunft immer noch keine eigene Wohnung oder ein Haus bewohnt. Er meinte, für ihn hätte dies als Allleinstehender kaum einen Sinn. Er fühle sich sehr wohl bei seinem gastfreundlichen Wirtsehepaar Winter, das ihn mit allem Benötigten versorge. Waldi war der Meinung, dass er nach allem, was Stöver uns von sich erzählt hatte, viel besser nachvollziehen könne, weshalb dieser derart launisch sei und gelegentlich cholerische Ausbrüche habe. »Er ist allein und unglücklich, und diese Verbitterung macht ihn eben zu dem, was er ist!«, sagte er. Ich erwiderte, dass Stöver meines Erachtens in der letzten Zeit mit seinen Mitarbeitern etwas milder umginge, dies sei mir von denen auch mit Verwunderung berichtet worden und ich hätte ihnen scherzend empfohlen, ihm einen neuen Spitznamen zu geben. Waldi nickte bestätigend: »Daran hast aber du wesentlichen Anteil, weil du ihn besser zu nehmen weißt und er dich respektiert!«
Den Rest des Wochenendes verbrachten wir in Waldis gemütlicher Wohnung und genossen ausgiebig unsere Zweisamkeit. Er hat das ehemalige Kapitänshaus des Großvaters nach dem Tod seiner Eltern in zwei Wohnungen aufgeteilt und eine davon selbst bezogen, wobei Kollege Lutz Krause vom KTI die andere mit seiner Familie bewohnt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich festhalten, dass unsere vormalige KTU im LKA – vor allem wegen ihres in den letzten Jahren erlangten hochgradigen Spezialisierungsniveaus – vor Kurzem in den Rang eines Kriminaltechnischen Instituts gehoben wurde und unter der Gesamtleitung eines renommierten Kriminalisten und Akademikers steht.
Gerade als wir es uns am Sonntagnachmittag mit einem duftenden schwarzen Tee und den restlichen Weihnachtskeksen am Kamin gemütlich machen wollten, klopfte es an der Wohnungstür. Es war Lutz’ Ehefrau Marion, die uns spontan zum Abendessen einlud. Ebenso bereitwillig sagten wir zu. Als wir wieder allein waren, meinte Waldi scherzend, dass die Krauses ihn unwissentlich vor dem Dilemma bewahrt hätten, was er mir denn zum Abendessen anbieten solle. Ein wenig verlegen gestand er, dass der Kühlschrank leer und fast alle übrigen Vorräte aufgebraucht seien, da er in der letzten Woche ständig unterwegs und so gut wie nie zu Hause gegessen hätte. Familie Krause und ihre Söhne Jan und Tim entpuppten sich als sehr angenehme Gastgeber und wir vertilgten genüsslich Marions schmackhaften Nudelauflauf mit geräucherten Putenbruststreifen, glasierten Maronen und Datteln. So wurde dieser Abend zu einem sehr angenehmen Sonntagsausklang.
Am nächsten Montagmorgen setzte mich Waldi nach unserer Joggingrunde bei meinem turnusmäßigen Judotraining ab. Es war wirklich furchtbar, denn ich war längere Zeit ferngeblieben und total aus der Übung. So landete ich dementsprechend öfter auf der Matte. Erst als unser japanischer Trainer Sakai San sich meiner persönlich erbarmte, um mich wieder in die richtige Stimmung zu versetzen und gezielt meine offensichtlich vorübergehend fehlende Konzentrationsfähigkeit wiederherzustellen, gelang es mir, immerhin die drei letzten Kämpfe zu gewinnen. Dennoch habe ich einige Striemen und einen gehörigen Muskelkater davongetragen. Da mein Cross Polo in Oldenmoor geblieben war, kasteite ich mich selbst und machte mich auch noch zu Fuß auf zu meiner Dienststelle beim LKA. Während ich in Richtung Mühlenweg ging, klingelte mein Handy. Es war Robert Zander, der nach mir fragte. Wenig später traf ich im Büro ein.
»Gut, dass Sie da sind, Nili. Die Elmshorner Reviervorsteherin hat uns eine Zweitschrift der Akte Baumann zugeschickt. Dann gibt’s auch Neuigkeiten aus Itzehoe über den Fall Heide Mertens, die Sie wissen sollten, und schließlich hat unser Dezernatsleiter, Kriminaloberrat Andreas Heidenreich, unser Team zur Besprechung um 14:30 bei sich einbestellt.«
Nili dankt Robert für den kurzen Bericht. »Irgendeine Ahnung, worum es geht?«
»Nein, tut mir leid, hat man uns nicht gesagt!«
»Nun gut, wir werden es ja erfahren.« Nili bereitet sich einen Becher Kaffee zu und sieht schließlich ihre beiden Kollegen herausfordernd an. »Na dann schießen Sie mal los: Was gibt’s denn Neues?«
»KOR Stöver rief an und wollte Sie sprechen, Frau Kriminalhauptkommissarin«, berichtet Margrit Förster. »Er ließ ausrichten, dass seine KOK Westermann mit ihrer jüngeren Schwester gesprochen und dabei einiges über Heide Mertens erfahren habe. Sie sollen bitte Frau Westermann anrufen.«
Nili überlegt einen Augenblick. Dann sagt sie: »Also, zunächst erst einmal fürs Protokoll, geschätzte Kollegin Förster! Darf ich vorschlagen, dass wir uns im Team der Einfachheit halber nur mit dem Vornamen anreden? Also, dies ist Robert und ich bin Nili, okay?«
»Danke, Nili! Und ich bin die Margrit!«
»Und? Gibt’s kein Bussi?«, scherzt Robert.
»Nö, Sie Witzbold, aber gehen Sie mal rasch, um Ihre Reisetasche zu packen, und tanken Sie unseren Dienst-X3 voll, denn gleich nach dem Gespräch mit dem Boss fahren wir nach Itzehoe. Und geben Sie mir mal bitte die Elmshorner Akte.«
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Nachdem Robert gegangen ist, prüft Nili den Ordner mit den Unterlagen und kaut nachdenklich an dem roten Markierstift.
»Es muss doch möglich sein, irgendwie die letzte Route von Diskjockey Mario nachzuvollziehen«, sinniert sie leise vor sich hin. Dann greift sie zur PC-Tastatur und tippt eine Liste mit den anstehenden Aufgaben für das Team.
Rundschreiben an alle nördlichen Landes-Polizeistationen – ebenso dänische Polizeistationen im Grenzgebiet – mit der Bitte um Aufklärung des Verbleibs des Vermissten Dominik Baumann (Bild und Beschreibung zufügen):
- Wo wurde nach dem Ostermontag des letzten Jahres eine Tanzveranstaltung angekündigt, bei der DJ Mario die Musik machte?
- Wurde der auffällige rot-gelbe VW-Bulli älterer Bauart (T 2) mit dem DJ-Logo und pol. Kennz. IZ-DJ 111 irgendwo gesichtet?
- Wo/Ab wann ist DJ Mario nicht mehr in Erscheinung getreten? Erl.: MF
- Wer hat die ebenfalls vermisste Heide Mertens (siehe Bild und Beschreibung) entweder allein oder in Begleitung des D. B. gesehen? Erl.: MF
- Weder in H. M.s noch D. B.s Akten gibt es Vermerke über Handy- oder Internetprovider (Heide sandte eine SMS an ihre Mutter, angebl. aus Sylt). Bitte nachforschen, vor allem Provider ermitteln, ggfs. Verbindungsnachweise anfordern, falls noch vorhanden. Erl.: MF
- Nochmalige Befragung der Mutter, Frisörin Anna Mertens, Itzehoe. Erl.: RZ/NM
- Befragung der Lehrer und Schüler am Gymnasium Itzehoe, insbesondere Heides Schulfreundin Doro Westermann. Erl.: RZ/NM
- Nochmalige Befragung des Arbeitgebers Wilfried Wiese in Oldenmoor. Erl.: RZ/NM
- Dito. … der Vermieterin Jutta Wendlandt, Mühlenstr. 38, Oldenmoor. Erl.: RZ/NM
- Dito. … der ermittelnden Kollegen in Elmshorn. Erl.: RZ/NM
- Dito. … der Eltern Baumann in Elmshorn. Erl.: RZ/NM
Diese Liste mailt Nili an die Vorgesetzten und ihre Teamkollegen.
»Da haben Sie uns ja einen gehörigen Speisezettel aufgebrummt, Frau Kriminal… – ich meine Nili!«, bemerkt Margrit wenig später, als sie die soeben auf ihrem Bildschirm aufgetauchte Aufgabenliste durchgelesen hat.
»Gut, Margrit, dann beginnen Sie bitte gleich nach der Besprechung mit Ihrem Teil der Aufgaben. Ich hoffe sehr, dass uns diese Umfragen am weitesten bringen. Schicken Sie mir bitte Ihren Entwurf als PDF-Datei per E-Mail auf meinen Laptop, bevor Sie das Rundschreiben versenden. Die Zeugenbefragungen, die Robert und ich heute und morgen durchführen werden, sind nur dazu gedacht, uns zu vergewissern, dass den Kollegen nichts Wichtiges entgangen ist. Nachdem ich mir sämtliche Akten angesehen habe, bin ich mir nämlich nicht ganz sicher, ob hier von allen Beteiligten stets mit der gebotenen Genauigkeit ermittelt wurde.«
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Als Nili und Margrit sich später mit Robert zum Mittagessen in der Kantine treffen, besprechen sie ihre nächsten Vorhaben.
Plötzlich gesellt sich Waldi mit seinem Tablett zu ihnen. »Kommst du auch zur Besprechung bei KOR Heidenreich?«, will Nili wissen.
Waldi nickt stumm, während er an seinem gebratenen Hähnchenschenkel knabbert.
»Wissen Sie, worum es dort geht?«, wagt sich Robert hervor.
Waldi schluckt den Bissen herunter und grinst. »Ich denke schon, aber ich will unserem Boss nicht vorgreifen.« Er schaut auf seine Armbanduhr. »Nur noch fünfunddreißig Minuten Geduld, Zander, dann erfahren Sie es!«
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»Guten Tag, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie bitte Platz. Bedienen Sie sich ruhig nach Belieben, Getränke und Knabberzeug stehen auf dem Tisch.« Kriminaloberrat Heidenreich wartet, bis alle sich gesetzt haben. Er greift zur Kaffeekanne und reicht sie herum, Nili bedient sich aus der Teekanne, einige öffnen Mineralwasserflaschen. »Zunächst einmal bitte ich Sie, Frau Kriminalhauptkommissarin Masal, um einen kurzen Lagebericht zu den beiden Fällen, die Sie gerade bearbeiten. Unser Erster Kriminalhauptkommissar Mohr hat mir bereits einiges berichtet. Wir finden es sehr bemerkenswert, dass Sie auf eine mögliche Verquickung von zwei bisher völlig getrennt geführten Vermisstenfällen gekommen sind. Es zeigt uns, wie angebracht doch die Neugründung Ihres Teams gewesen ist.«
Nili berichtet ausführlich und weist schließlich auf die von ihr verfasste Liste hin, die den Referatsleiter ebenfalls erreicht hat.
»Habe ich gelesen, Frau Masal, danke! Wann fahren Sie und KK Zander los?«
»Wir wollten eigentlich gleich nach dieser Besprechung starten, wenn weder Sie noch EKHK Mohr etwas dagegen haben. Wir denken, spätestens am Mittwochabend wieder zurück zu sein«, bemerkt sie eher als Hinweis für Waldi als für den obersten Chef.
»In Ordnung, Frau Masal. Herr Mohr, bitte benachrichtigen und instruieren Sie die Kollegen in Elmshorn entsprechend, damit man dort Frau Masal und KK Zander gebührend unterstützt und keine Mätzchen macht, wenn LKA-Beamte vor Ort erscheinen. Ich weiß ja, dass dies in Itzehoe und Oldenmoor nicht erforderlich ist, mit diesen Kollegen arbeiten Sie ja bereits vertraulich zusammen.« KOR Heidenreich räuspert sich und wirft einen Blick in die Runde. »Kommen wir nun zum eigentlichen Grund dieser Zusammenkunft: Als wir die Task-Force Sonderermittlungen ins Leben riefen, hatten wir eine Gruppe von vier Ermittlern vorgesehen, es fehlt bei Ihnen also noch ein Kollege beziehungsweise eine Kollegin. Bisweilen hatten wir hierfür noch keine entsprechende Planstelle, aber nun ergab sich die Gelegenheit, im Rahmen des EU-Austauschprogramms innerhalb der EPA5 eine auf ein Jahr befristete Praktikantenstelle zu erhalten, und wir erwarten noch in dieser Woche einen Kollegen aus Österreich, den wir bei Ihnen unterbringen werden. Die detaillierten Daten des Herrn – er blickt auf seine Notiz – Fachinspektor Ferdinand Csmarits und sein Curriculum erhalten wir noch heute oder spätestens morgen. Ich werde Sie dann sofort informieren. Bitte sorgen Sie entsprechend für den Neuankömmling.«
»Wie machen wir das mit seiner Unterkunft, Herr Kriminaloberrat?«, wirft Robert Zander ein. »Ich meine, ich hatte, als ich hier anfing, große Schwierigkeiten, überhaupt eine erschwingliche Wohnung in Kiel zu finden, die Mieten sind ja wirklich kaum noch bezahlbar.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, KK Zander. Diese Kosten werden uns von der EPA ersetzt, aber finden müssten wir natürlich schon eine Bleibe für ihn.«
»Ich habe da eine Idee«, sagt Nili. »Ich versuch es mal bei Frau Johansen in Kiel-Felden, vielleicht hat sie nach dem Mord an Gunther Hamann die freie Wohnung noch nicht wieder vermietet.«
»Sehr gut, tun Sie das, Frau Masal.« KOR Heidenreich deutet gestenreich an, dass die Zusammenkunft zu Ende sei. »Und nun an die Arbeit, meine Herrschaften, und viel Erfolg für Ihre Ermittlungen!«
»Na, dann ist ja jetzt wenigstens wieder eine akzeptable Quotengleichheit in unserem Team hergestellt«, scherzt Robert Zander im Hinausgehen, sehr zum Amüsement seiner beiden weiblichen Kolleginnen.
Nili grient. »Ich hatte allerdings nicht den Eindruck, dass Sie sich von unserer dominierenden Weiblichkeit unterdrückt fühlten, Robert.«
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»Guten Tag, Frau Johansen, hier spricht Hauptkommissarin Nili Masal vom LKA. Erinnern Sie sich noch an mich?«
»Aber selbstverständlich, junge Frau«, antwortet Gerda Johansen. »Wie könnte ich Sie nach dem tragischen Mord an meinem vormaligen Mieter vergessen?6 Wie geht es Ihnen?«
»Danke, recht gut, und ich hoffe, Ihnen ebenso.« Danach fragt Nili nach der möblierten Einliegerwohnung in Frau Johansens Haus und erfährt, dass deren Renovierung noch in dieser Woche abgeschlossen sei. Sie habe ein neues Bett mit Matratze und Federdecke angeschafft und vor allem das gesamte Badezimmer renovieren lassen – weil doch dort Herr Hamann den Tod gefunden habe – und die Wanne durch eine moderne Duschkabine ersetzt. Sie wolle gerade einen Makler mit der Neuvermietung beauftragen.
»Wie hoch soll die Miete sein?«, erkundigt sich Nili.
»Als warme Miete inklusive vierzehntägigem Bettwäsche- und Handtücherdienst dachte ich an vierhundertfünfundachtzig Euro im Monat. Wasser- und Stromverbrauch werden nach tatsächlichem Verbrauch berechnet. Wird Frühstück gewünscht, nehme ich dafür acht Euro fünfzig. Wollen Sie etwa bei mir einziehen? Das wäre mir sehr angenehm.«
»Nein, Frau Johansen, ich frage nicht für mich, aber wir bekommen einen sehr netten Gast aus Österreich, für den wir gern Ihre Wohnung mieten würden. Ich kenne sie ja bestens und weiß, dass sie ordentlich möbliert war. Der Preis ginge auch in Ordnung! Darf ich Sie bitten, mir die Wohnung bis Ende dieser Woche an Hand zu reservieren? Wir würden dann mit unserem Gast zur Besichtigung kommen, bevor wir einen festen Mietvertrag abschließen.«
Frau Johansen erklärt, dass sie sich freue, dass dann ja wohl die Wohnung in gute Hände komme.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagt Nili, »und melde mich spätestens am Freitag. Alles Gute und bis dann!«
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Am nächsten späten Nachmittag sitzt Nili im Arbeitszimmer im Onkel Suhls Haus in Oldenmoor und tippt ihren Tagesbericht.
Gestern war es mal wieder eine nicht enden wollende blöde Fahrt auf der A 7 bis zur Ausfahrt Neumünster Mitte. Auch auf der Bundestraße 430 ging es wegen zahlreicher Lkws nur zähflüssig voran. Erst als wir auf die B 77 in Richtung Itzehoe abbogen, wurde der Verkehr flüssiger. Da es schon zu spät war, um noch jemanden zu befragen, überließ ich Robert die Wahl, in Itzehoe oder im Elbmarschen Hof in Oldenmoor zu übernachten. Er erwiderte, am praktischsten sei es doch, die Orte in der Reihenfolge meiner Liste abzufahren, also sollten wir morgen früh in Itzehoe beginnen, dann weiter nach Oldenmoor fahren, dort übernachten und uns zum Schluss, also vor der Rückfahrt nach Kiel, Elmshorn vornehmen. Ich ließ ihn am Hotel Adler aussteigen, nachdem wir uns per Handy versichert hatten, dass er dort ein freies Zimmer bekommen würde, und fuhr weiter zu unserem Onkel Suhls Haus.
Heute Morgen holte ich Robert wieder ab und wir fuhren zu dem kleinen Frisörladen in der Feldschmiede, in dem Heides Mutter Anna Mertens arbeitet. Ich hatte Margrit gebeten, sie anzurufen und uns anzumelden, damit sie sich nicht erschreckt.
Die nette Frau mittleren Alters – eine sehr gepflegte Erscheinung – war naturgemäß ziemlich aufgewühlt über unseren Besuch, hatte sie nun doch wieder Hoffnung, vom Schicksal ihrer Tochter zu erfahren. Viel Neues erfuhren wir leider nicht von ihr, aber immerhin, dass Heide an ihrem letzten Geburtstag ein Smartphone geschenkt bekommen hat. Allerdings, so Anna Mertens, sei ihr der Name des Providers unbekannt. Entgegen den meisten ihrer Altersgenossen hätte Heide das Smartphone nur selten benutzt. Ja, das letzte Mal habe sie sich per SMS von der Insel Sylt gemeldet, um mitzuteilen, dass sie gut angekommen sei.
Heides Hauptinteresse, so erfuhren wir, galt dem Fechten.
Über die vermeintliche Marianne, mit der Heide verreist sei, wusste Anna Mertens nichts, ihre Tochter hätte sie erst kurz vor ihrem Verschwinden erstmalig genannt. Als ich ihr sehr vorsichtig beibrachte, dass jene Marianne möglicherweise ein Mario gewesen war, mit dem ihre Heide vielleicht sogar ein Verhältnis gehabt haben könnte, fiel die arme Frau aus allen Wolken. Das könne sie ja nicht glauben, Heide sei doch ein anständiges Mädchen usw., usw. Erst als ich sie scharf ansah und sehr bestimmt fragte, ob sie als ihre Mutter wirklich nichts bemerkt habe, stammelte sie, dass ihr wohl zwei Monate vor Heides Verschwinden, nachdem diese sich ohne vorherige Ankündigung piercen ließ, der spontane Gedanke gekommen sei, dass die Tochter kein Kind mehr und inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen sei. Sie habe aber Heide nicht weiter befragt, nur bemerkt, dass sie dieser künstlichen Schönheitsimplantate eigentlich nicht bedürfe. Da habe sie sich doch gefragt, ob dahinter nicht »so’n Kerl« stecken könne, dem zuliebe sie es getan habe. Sonst war nicht viel mehr aus ihr herauszukriegen.
Wir fuhren weiter zu Heides Gymnasium und fragten nach ihrer Klassenkameradin Doro Westermann. Der uns von früher bekannte Lehrer Dr. Hinnerk Claasen empfing uns und stellte uns Heides ehemaliger Klasse vor. Auch hier erfuhren wir nicht viel. Allerdings bestätigte das Einzelgespräch mit KOK Dörte Westermanns Schwester Doro unsere Vermutung, dass Heide und Dominik Baumann sich zumindest näher kannten und das Mädel ihn mindestens einmal im VW-Transporter zu einem Discoabend nach Meldorf begleitet habe. Gegenüber Heides Mutter hatte Doro – es war Ende Januar letzten Jahres – ihrer Klassenkameradin ein Alibi gegeben, indem sie ihr zusicherte, dass ihre Tochter das Wochenende zwecks Mathe-Üben bei ihr verbringe. Sie sei überrascht gewesen, als Heide am nächsten Montag mit von mehreren Piercings noch wunden Ohren und Nase zum Unterricht erschienen sei. Nein, damals, als Heide verschwand, habe niemand Doro danach gefragt und sie hätte sich erst jetzt auf Anfrage ihrer Schwester wieder daran erinnert. Wir dankten Doro und baten sie, ihre Schwester von uns zu grüßen.
Robert und ich fuhren anschließend nach Oldenmoor und er parkte den X3 am Markt, gegenüber dem Herrenmodenhaus Wiese. Da es wegen der Mittagspause geschlossen war, nahmen wir unseren Lunch im Gasthaus Stüben ein und genehmigten uns zwei appetitliche Schnitzel Wiener Art mit würzigem Gurkensalat und Pommes. Als das Geschäft wieder geöffnet war, gingen wir hinüber und wurden von Dominik Baumanns Chef, Herrn Wilfried Wiese, empfangen. Er war voll des Lobes über seinen ehemaligen Verkäufer, der von ihm und seiner Mannschaft sehr vermisst wurde. Im Vergleich zu vielen seiner Altersgenossen sei er wohlerzogen und stets freundlich gegenüber der Kundschaft und den Kollegen gewesen, hätte auch sehr gute Umsätze gemacht. Unverständlich für sie alle, dass er plötzlich ohne ein Wort der Entschuldigung oder des Abschieds einfach weggeblieben sei. Es müsse ihm etwas Furchtbares passiert sein. Auf meine Frage, auf welches Bankkonto man sein Gehalt überwiesen habe, erfuhr ich von der Lohnbuchhalterin, eine Frau Kessler, dass es auf die Holsteinische Bank in Elmshorn erfolgt sei. Ich notierte die Kontonummer. (Knoten ins Taschentuch bzw. Aufgabenliste ergänzen!)
Die Befragung seiner Ex-Kollegen brachte nur zutage, dass Dominik sehr erfolgreich bei Mädchen gewesen sei, vor allem wegen seines Nebenberufs als Diskjockey, wo er doch von vielen weiblichen Fans umschwärmt worden sei. Von einer festen Freundin oder gar einer Heide Mertens wusste aber niemand etwas. Robert erzählte daraufhin, dass der DJ wohl doch mit einer ebenfalls seitdem vermissten Jugendlichen dieses Namens auf Reisen gegangen sei. Als ich dann suggerierte, ob man Baumann eventuell eine Vergewaltigung oder gar einen Mord zutraue, hielten alle dies für ausgeschlossen: Er sei stets zuvorkommend und nett gegenüber den Kolleginnen gewesen, sei niemals einer von ihnen irgendwie zu nahegetreten.
Im Anschluss daran gingen wir zu Fuß hinüber zum Mühlenweg, um mit Baumanns ehemaliger Vermieterin zu reden. Frau Jutta Wendlandt war nicht unbedingt eine Erscheinung, die man attraktiv nennen konnte. Ziemlich unförmig und schlampig angezogen, hätte sie den Gang zum Frisör dringend nötig gehabt. Die aufdringliche Alkoholfahne, die uns entgegenwehte, als sie die Tür öffnete, passte zu ihrer schroffen und abweisenden Art. Sie wollte uns nicht hereinlassen, hätte sie doch schon der Polizei alles x-mal erzählt. Der Halunke sei ihr zwei Monatsmieten schuldig geblieben und die Bullen hätten all sein Zeugs mitgenommen, sodass sie sich nicht einmal mit dem Verkauf seiner Klamotten auf dem Flohmarkt etwas davon zurückholen konnte. (Stimmt, habe in Boie Hansens Akte nachgelesen: Kollegen Willi Seifert und Dieter Klages hatten damals alles gegen Quittung fortgetragen. Dominiks Habe wurde später von seiner Schwester abgeholt.) Dann knallte sie uns die Tür vor der Nase zu.
Wir gingen zurück zu unseren BMW. Gerade als wir am Markt ankamen, befestigte eine junge Politesse ein Knöllchen unter dem Scheibenwischer. Als Robert sie fragte, ob sie nicht bemerkt habe, dass dies ein Dienstwagen der Polizei sei, errötete sie und meinte, hier sei doch Parkscheibenpflicht und er hätte dagegen verstoßen. Als wir ihr unsere Dienstausweise unter die Nase hielten, entschuldigte sie sich und zog die Strafzettel wieder ein. MF – ab jetzt werde ich hier die Teamkollegen nur noch mit ihren Anfangsbuchstaben nennen – hat mir ihren Rundbrief-Entwurf gemailt. Gut gemacht, es waren nur kleine Korrekturen erforderlich; sie hat ihn anschließend in Umlauf gebracht. Wir haben dann sie und auch Waldi per Handy über unsere heutigen Ergebnisse informiert. Ich lieferte RZ am Elbmarschen Hof ab und fuhr zum Onkel Suhls Haus. Morgen früh hole ich RZ wieder ab und wir fahren nach Elmshorn. Waldi hat uns dort angemeldet. Ima ist soeben nach Hause gekommen und Abuelita ruft zum Abendessen. Das große Schnitzel war jedoch so sättigend, ich werde nur noch einen Joghurt und Abuelitas schwarzen Tee mit Minze zu mir nehmen. Basta!
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Robert blickt auf die auf dem Navi vorgeschlagenen Routen. »Sie kennen sich ja hier in der Gegend besser aus, Nili. Über die B 431 oder geht’s lieber über die Dörfer?«
Nili wirft einen Blick aus dem Seitenfenster. »Wenn Sie nichts dagegen haben, fahren wir bei diesem schönen Wetter doch lieber die Alternativroute über Herzhorn und Siethwende.«
Als sie die Stadtgrenze Elmshorns passieren, stoßen sie sowieso auf die B 431, überqueren kurz danach die Krückau-Brücke und fahren schließlich zum Polizeirevier in der Moltkestraße. Reviervorsteherin Polizei-Hauptmeisterin Inge Mühldorf empfängt sie betont höflich und hilfsbereit – Waldis Voranmeldung war offensichtlich nicht umsonst, hielt sich doch üblicherweise die Willkommensfreude der Schutzpolizei beim Eintreffen von LKA-Beamten auf sehr niedrigem Niveau. Sie stellt die beiden Beamten POM Thor Heymann und PM Lotte Hansen vor, die damals den Fall Dominik Baumann übernommen hatten. Seine Eltern, Bernard und Petra Baumann – er bei der hiesigen Straßenmeisterei als Fahrer tätig, sie Verkäuferin in einem Schuhladen auf 450-Euro-Basis angestellt – sind anständige und unbescholtene Leute. Dominik, der bereits nach seinem Dienst beim Bund einen Verkäuferjob in Oldenmoor angenommen hatte, blieb zwar noch im Elternhaus gemeldet, besucht aber nur noch selten die Familie. Seine ältere Schwester Ilke ist als MTA in einer Ärztegemeinschaftspraxis tätig. Sie waren damals selbstredend arg schockiert und sind noch immer tief bekümmert wegen des unerklärlichen Verschwindens ihres Dominik, konnten aber weder dafür eine Erklärung noch etwaige dienliche Hinweise liefern. Man hätte in allen Richtungen ermittelt, aber keinerlei Spuren gefunden – lautet der einhellige Bericht.
»Haben Sie damals wegen seines Girokontos Kontakt mit der hiesigen Holsteinischen Bankfiliale aufgenommen? Auf dieses wurde nämlich monatlich sein Gehalt überwiesen! Wir konnten darüber jedoch keinen Vermerk in Ihrer Akte finden.«
Der Schlag sitzt. Die drei Elmshorner Polizisten sehen sich verblüfft an.
»Wieso? Konto? Hier in Elmshorn?« PHM Mühldorf ist sichtlich verlegen. »Er wohnte und arbeitete doch in Oldenmoor! Wie hätten wir wissen sollen, dass Baumann hier sein Bankkonto hatte?« An ihre Beamten gewandt sagt sie: »Oder habt ihr etwas davon gewusst?«
Beide verneinen mit Bestimmtheit.
»Dürfen wir Sie freundlichst um Amtshilfe bitten, Frau Polizeihauptmeisterin, und uns Ihre nette Kollegin Hansen für ein paar Stunden ausleihen? Wir möchten gern diese Lücke umgehend schließen!«
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Wenig später betreten sie die Bankfiliale und fragen nach deren Leiter. Sigurd Södermann erweist sich als ein äußerst bedächtiger und betont langsam sprechender Geselle, der ihnen klarzumachen versucht, dass das Bankgeheimnis ihn daran hindere, irgendwelche Auskünfte über seine Kunden an Dritte weiterzugeben. Auch die Androhung einer richterlichen Anordnung vermag es nicht, des Pedanten Meinung zu erschüttern. Also greift Nili zum Handy, ruft Waldi in Kiel an, der wiederum Oberstaatsanwalt Harmsen benachrichtigt und ihn bittet, den zuständigen Amtsrichter in der Elmshorner Bismarckstraße zu kontaktieren.
Kurz nach der Mittagspause hält Polizeimeisterin Lotte Hansen dem verdutzten Filialleiter den richterlichen Durchsuchungsbeschluss unter die Nase. Offensichtlich verärgert, greift dieser zum Telefon und bittet darum, dass ihm die gewünschten Unterlagen gebracht werden.
»Na, geht doch!«, bemerkt Robert ironisch.
»Es muss aber doch alles seine Ordnung haben, Herr Kommissar. Wir befinden uns ja hier nicht im Wilden Westen!«
Als Robert rot anläuft und etwas auf die Bemerkung des Filialleiters erwidern will, legt Nili beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. An den Filialleiter gewandt sagt sie: »Wir müssen uns auch den Safe von Herrn Baumann anschauen, bitte ordnen Sie das an!«, sagt sie aufs Geratewohl.
»Natürlich, Frau Kommissarin, selbstverständlich!« Sigurd Södermann greift abermals zum Hörer.
»Wenn schon, dann ›Frau Kriminalhauptkommissarin‹, wenn ich bitten darf!«, äfft ihn der immer noch saure Robert im Ton nach. »Es muss schließlich alles seine Ordnung haben, Herr Filialleiter, wir sind ja hier nicht im Wilden Westen, nicht wahr?« Insgeheim ist er allerdings wieder einmal über Nilis Scharfsinn verwundert. Woher hat sie nur die Eingebung, dass der DJ hier auch noch einen Safe unterhalten hat?
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Diesmal nehmen Robert und Nili die A 23 bis Itzehoe und fahren anschließend auf Bundesstraßen über Rendsburg nach Kiel, um nicht wieder die lästigen Staus auf der A 7 erdulden zu müssen. Als Robert Nili vor ihrer Wohnung absetzt, treffen sie zufällig auf ihre Freundin Melanie Westphal und Nili macht die beiden miteinander bekannt.
»Wir haben uns schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!«, beklagt Melanie und schlägt vor, sich zum gemeinsamen Abendessen beim vertrauten Griechen um die Ecke zu treffen.
Der gestrige war mal wieder ein schöner Abend bei Georgios und Marita in der gemütlichen Taverna Syrtaki. Nachdem Waldi ebenfalls sein Kommen zugesagt hatte, lud Melanie RZ ein, sich zu uns zu gesellen – offensichtlich hat er ihr auf Anhieb gut gefallen! Schon beim traditionellen Amuse-Gueule aus Knobibrot mit cremigem Tzatziki, begleitet von süffigem rotem Kamares, berichteten wir unserem direkten Vorgesetzten, meinem geliebten Waldi, ausführlich über die neuen Ermittlungserkenntnisse der doch insgesamt vielversprechend verlaufenen Befragungen. Also, der Reihe nach:
- Die nochmalige Befragung der Mutter Anna Mertens brachte zumindest ihren aufkommenden Verdacht einer Liaison ihrer Tochter an den Tag, aber sonst nicht viel mehr.
- Nichts wirklich Brauchbares hörten wir von Lehrern und Schülern am Gymnasium, mit Ausnahme der von Freundin Doro Westermann gemachten Aussage über die Verbindung Heides mit DJ Mario, mit dem sie eine Wochenendspritztour nach Meldorf unternommen und für die Doro ihr gegenüber der Mutter ein Alibi geliefert hat.