Weihnacht von Karl May

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Schriftzüge enthielt, welche freilich nicht mehr zu enträtseln waren; aber der noch ziemlich zu

unterscheidende Gymnasialstempel belehrte mich, welch ein wichtiges Dokument ich in den

Händen hatte. Ich gab es dem Freunde mit den Worten:

»Hier ist die Ehrenrettung deiner Schwester; ich hoffe, daß du ihr den schnöden Verdacht,

welchen du ausgesprochen hast, nach unserer Heimkehr abbittest!«

Er faltete den Zettel auseinander, schüttelte den Kopf, gab ihn, nämlich den Zettel und nicht

etwa den Kopf, dem noch anwesenden Polizisten hin und sagte:

»Sie sehen, daß ich meinen Paß sehr gut aufgehoben hatte; kein Spitzbube hätte ihn finden

können. Ich bitte, sich nun zu überzeugen, daß Sie es wirklich mit den Schülern einer

königlichen Bildungsanstalt zu thun haben!«

Als der Beamte sah, in welchem Zustande sich die Legitimation befand, wies er sie mit den

freundlichen Worten zurück:

»Oh bitte, bitte, zweifeln Sie doch nicht an meiner Menschenkenntnis, die mir gleich beim

ersten Blicke gesagt hat, daß ich es mit geistig hochstehenden und polizeilich

unbeanstandeten Personen zu thun habe!«

»Schön!« nickte Carpio. »Wir erkennen Ihren Scharfsinn an und werden jenseits der Grenze

an geeigneter Stelle erzählen, daß die Bewohner der österreichischen Länder auf ihre

Polizeimacht stolz sein können.«

Indem er den wieder zusammengefalteten Paß in die Westentasche steckte, nickte er dem

Gendarm in so gönnerhafter Weise zu, als ob er eine der höchsten Stellen im Wiener

Justizministerium bekleide.

Als wir jeder drei Gläser Buttermilch getrunken hatten, wurden wir zum Schankbier avanciert

und bekamen dazu Cigarren angeboten, welche der Wirt als zur besten Sorte Österreichs

gehörig bezeichnete. Wenn ich mich nicht irre, waren es Virginias, die man zuweilen auch mit

dem hochpoetischen Namen »Giftnudeln« zu bezeichnen pflegt. Als Carpio die seinige

anbrannte und den lächelnden Ausdruck bemerkte, mit welchem er dabei von rundumher

beobachtet wurde, machte er eine hoheitsvolle Handbewegung und sagte in geringschätzigem

Tone:

»Ich will Ihren Kaiserstaaten gewiß nicht zu nahe treten, aber was Cigarren betrifft, so sind

wir Ihnen in jeder Beziehung über. Diese hier zum Beispiel, welche von vorzüglicher Qualität

sein soll, würde mir für den täglichen Gebrauch viel zu schwach sein. Es giebt bei uns eben

ganz andere Raucher als hier bei Ihnen, meine Herren!«

Leider aber ließ er seine »Nudel« so oft ausgehen, daß er mit den Zündhölzern immer

zwischen ihr und dem Asbestgläschen unterwegs war – es stand nämlich ein sogenanntes

Tunkfeuerzeug auf dem Tische. Da ihm dabei der Geruch des Schwefels so oft in die Nase

fuhr, zog er, ohne daß ich weiter darauf achtete, ein Papier aus der Tasche, zerriß es in lange,

schmale Streifen, um Fidibus aus ihnen zu machen, und holte sich nun mit deren Hilfe das

zum Anbrennen nötige Feuer von der in seiner Nähe qualmenden Öllampe. Damals gab es

bekanntlich weder Gas- noch gar elektrisches Licht.

Trotz dieser immerwährenden Unterbrechungen war er, als ich die erste Cigarre geraucht

hatte, schon mit seiner zweiten fertig. Man bot uns neue an, und als ich da für uns beide

ablehnte, schlug Carpio diese Anmaßung in empörtem Tone zurück:

»Mische dich nicht in meine Angelegenheiten, Sappho! Eine Mondscheinnatur, wie die

deinige ist, kann freilich nichts vertragen; ich aber bin aus Stahl und Stein gebaut und möchte

die Cigarre kennen lernen, die meine Konstitution erschüttern könnte!«

»So ist es recht!« stimmte Franzl bei. »Ein guter Student muß ausgepicht und gegen Nikotin

und Spiritus unempfindlich sein. Nummus ubi loquitur, Tullius ipse tacet. Nehmen Sie also

immer noch eine!«

Und der Busenfreund nahm noch eine und hatte sie noch nicht aufgeraucht, als seine Fidibus

zu Ende waren. Ich sah, daß er, wie ein Orientale sich ausgedrückt hätte, die Morgenröte

seines Angesichts verlor, sagte aber nichts, weil ich ihn nicht beleidigen wollte.

Dann brachte die Wirtin das Abendessen herein. Es bestand in einer mächtigen Schüssel

Fisolen und einer ebenso großen Schüssel geräuchertem Schweinefleisch. Beim Anblicke der

großen, appetitlichen Fleischstücke lief mir, wie es später dem persischen Schah in London

ergangen sein soll, das »allerhöchste Wasser seiner Majestät« im Munde zusammen; den

Busenfreund aber schien die Lukullität dieses Nachtmahls kalt zu lassen; wenigstens lag,

während meine Augen höchst wahrscheinlich vor Freude leuchteten, in den seinen ein

entsagungsvoll nach innen gerichteter Blick und in seinen wehmutsvoll zusammengezogenen

Mundwinkeln der Ausdruck jener schmerzlichen Resignation, mit welcher ein sonst sehr

vernünftiger Bettler einst behauptet haben soll, daß es ihm niemals einfallen werde, einen

Hundertthalerschein anzunehmen.

Wenn man bedenkt, daß zu diesen Fisolen und zu diesem Fleische nicht Bier, sondern Wein

getrunken wurde, so wird man mir glauben, daß ich mich nicht allzu sehr nötigen ließ. Mein

guter Carpio aber wollte, wie Franzl sich auszudrücken beliebte, »gar nicht anbeißen« und

erklärte schließlich, als er sich durch teilnahmsvolle Fragen und Zusprüche in die Enge

getrieben sah, daß er leider heute mittag zuviel gespeist und infolgedessen jetzt noch gar

keinen Appetit habe. Dabei richtete er sein Auge mit der stummen Bitte um Verschwiegenheit

auf mich; ich gewährte sie ihm im stillen, wurde aber dafür von ihm mit dem grassesten

Undank belohnt, denn als man ihn darauf aufmerksam machte, daß doch ich nicht so ganz

appetitlos sei, antwortete er wie aus einer Wolke der Erhabenheit herab:

»Es sind nicht alle Menschen gleich besaitet. Während der eine den Genüssen des Geistes und

des Gemütes den Vorzug giebt, liebt es der andere, in materiellen Dingen zu schwelgen und

schreckt am Ende sogar nicht davor zurück, seine Seele in Fisolen und Selchfleisch zu

versenken. Weiter brauche ich wohl nichts zu sagen; Sie wissen ja: de gustibus non est

disputandum, wie der Lateiner sagt.«

»Ja, ja,« nickte der Wirt, erfreut über die Gelegenheit, wieder einen Beweis seines Wissens

geben zu können. »Es freut mich natürlich riesig, daß es Ihrem Kollegen so vortrefflich

schmeckt, doch weiß auch ich die Vorzüge des Geistes zu schätzen und sage mit den

Gelehrten des Altertums: Omne nimium nocet.«

O Franzl, Franzl, wüßtest du, was du mir soeben gesagt hast! So dachte ich, aß natürlich aber

trotzdem ruhig weiter, denn ich hatte mich nun einmal so tief in das Materielle versenkt, daß

man mir eine schnelle Umkehr aus dieser geistigen Verfisolung nicht zutrauen durfte. All

mein psychisches Können und Wollen war, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, in

diesem Augenblicke schon so verlottert, daß ich, wenn ich überhaupt beim Essen etwas sagte,

schon längst nicht mehr in Reimen sprach, kann aber zu meiner Ehrenrettung den sehr

moralischen Grund hinzufügen, daß ich den Wert des delikaten Geselchten weder durch

trockene Jamben und Trochäen noch durch ungeräucherte Amphibrachen und Daktylen

unvorteilhaft beeinflussen wollte.

Die Stube war bis zum Essen voller Gäste gewesen; nun ich mich aber mit solcher

Schweigsamkeit den beiden Schüsseln widmete und mein Busenfreund ebenso still in sein

geistiges oder, was wahrscheinlicher war, in sein körperliches Innere hinunter stieg, stockte

die Unterhaltung, und der Fleiß, mit welchem wir in diesen Richtungen thätig waren, legte die

Vermutung, daß wir so bald nicht wieder genießbar sein würden, in einer Weise nahe, daß

sich einer nach dem andern entfernte, um zu Hause dasselbe zu thun, was wir hier thaten,

nämlich essen.

So kam es, daß wir noch vor Beendigung des Abendmahles mit den Wirtsleuten allein waren,

doch nicht lange, denn es stellten sich neue Gäste ein, welche mein Interesse sofort in

vollstem Maße in Anspruch nahmen.

Es war ein alter Mann mit einer jüngeren Frau und einem vielleicht dreizehn Jahre alten

Knaben. Sie mußten arm, sehr arm sein, wie ihre Kleidung bewies, welche keinen Schutz

gegen die Kälte des Winters bieten konnte. Der weißhaarige, tief gebückte Alte kam mit

wankenden Schritten herein und ließ sich vor Ermüdung gleich auf den nächsten Stuhl

niederfallen. Da schloß er, ohne uns zu beachten, die tiefliegenden Augen und holte in einer

Weise laut und rasselnd Atem, daß ich glaubte, er müsse vollends zusammenbrechen. Der

Knabe legte liebevoll und besorgt den Arm um seine Schulter und streichelte ihm mit der

andern Hand die zum Erschrecken hagere Wange. Beide hatten, der eine vor Ermüdung und

der andere aus kindlicher Unkenntnis, keinen Gruß gesagt. Die Frau aber grüßte, legte das

Bündel, welches sie trug, neben dem Alten nieder, faltete die Hände und fragte in flehendem

Tone:

»Haben Sie vielleicht einen Platz für uns im Stalle?«

»Bettelvolk, das sich verstellt und nichts thun als vielleicht nur stehlen will,« flüsterte die

Wirtin ihrem Manne zu.

Sie war nicht so gutmütig wie er, der gar nicht auf diese Worte hörte, sondern die drei

Personen mit mitleidigen Augen betrachtete und sich dann erkundigte:

»Warum im Stalle und nicht im Bett?«

»Weil wir nicht bezahlen können,« antwortete die Fremde mit einem schweren Seufzer.

»Warum kommt ihr da zu uns? Hier ist keine Herberge für Handwerksburschen und Leute,

wie ihr seid!« fiel die Wirtin schnell ein.

»Wir haben nach der Herberge gefragt, aber wir konnten nicht weiter; mein Vater fiel vor

 

Müdigkeit um.«

Die Wirtin wollte noch etwas sagen, aber Franzl winkte ihr mit der Hand, zu schweigen, und

forderte die Fremde auf, ihm die Legitimation zu zeigen. Sie zog einen sorgfältig in ein Tuch

gewickelten Paß hervor, den sie dem Wirte gab. Er las ihn, schüttelte den Kopf, musterte die

drei Personen noch einmal und sagte dann im Tone des Erstaunens:

»So weit kommt ihr her – in diesem Schnee und dieser Kälte! Und nach Amerika wollt ihr –

nach Amerika, in diesen Kleidern und ohne Geld! Entweder ist das eine Lüge, oder seid ihr

nicht bei Troste!«

»Es ist keine Lüge,« versicherte sie; »der Paß beweist es ja.«

»Aber wer nach Amerika will, muß Geld haben! Die Fahrt auf dem Schiffe hat kein Mensch

umsonst!«

»Mein Mann hat uns die Schiffskarten geschickt.«

»Ihr Mann? Ist der schon drüben?«

»Ja. Er ist vor drei Jahren hinüber und hat gearbeitet und gespart, bis er uns die Schiffskarten

schicken konnte.«

»Nur die Karten? Man braucht doch auch Geld, um bis nach der Hafenstadt zu kommen!«

»Das hatten wir, denn wir haben alles, was wir besaßen, verkauft. Viel war es freilich nicht,

denn wir sind arme Leute, und die Käufer waren ebenso arm wie wir; aber bis nach Bremen

hätte es gereicht, wenn mein Vater nicht krank geworden wäre. Er bekam einen Blutsturz, und

es dauerte fast zwei Monate, ehe wir weiterkonnten; da ist das bißchen Reisegeld alle

geworden.«

»Aber, mein Gott, da hättet ihr doch nicht weiter-, sondern wieder heimgehen sollen!«

»Heim? Was wollten wir dort, wo wir nichts mehr hatten und wo es uns schon vorher schlecht

gegangen war? Wir haben doch die Schiffskarten, und drüben wartet mein Mann auf mich.«

»Ja, richtig! Aber es ist doch ein Kreuz und ein Elend, sich so ohne Geld und in einer solchen

Kälte bis nach Bremen durchzubetteln! Ich weiß gar nicht, wie lange man da zu laufen hat,

um hinzukommen. Wißt denn ihr den Weg?«

»Wir haben gefragt und werden uns auch weiter so durchfragen.«

»Na, sehr weit werdet ihr wohl nicht kommen, wenn der alte Mann so bleibt, wie er jetzt da

auf dem Stuhle sitzt!«

»Wir werden uns ausruhen, wenn er es nur noch einen oder zwei Tage aushalten kann. Wir

haben droben in Graslitz einen Verwandten, einen Blasinstrumentenmacher, der uns bei sich

behalten wird, bis sich der Vater erholt hat.«

»Nach Graslitz wollt ihr? So hoch hinauf, bei diesem Schnee? Leute, ihr seid verrückt!«

»Oder auch sie sind nicht verrückt,« sagte seine Frau. »Man soll nur Mitleid haben. Der Paß

wird wohl richtig sein; aber ob sie auch wirklich nach Amerika oder nur so herumzigeunern

wollen, das ist eine andere Frage.«

Da begann die Fremde zu weinen, wickelte noch ein Couvert aus dem Tuche, gab es dem

Wirte und schluchzte:

»Wir sind nur unglückliche Leute, aber keine Vagabunden. Wenn Sie sich überzeugen wollen,

so machen Sie dieses Couvert auf; die Schiffskarten liegen drin!«

»Nein, behalten Sie es nur; ich brauch' es nicht zu sehen,« sagte Franzl, den die Thränen der

Frau rührten. »Wollen sehen, was wir mit euch machen. Vor allen Dingen werdet ihr Hunger

haben. Setzt euch dort an den Tisch!«

Die Frau warf ihm einen innigen Blick des Dankes zu und folgte seiner Aufforderung; die

Wirtin aber stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche.

Als sie hinaus war, raunte uns Franzl in vertraulichem Tone zu:

»Jetzt ist sie wild; aber ich thu doch, was ich will. Mann ist Mann, und wenn er tausend

Weiber hat; annus producit, non ager, und nach dem Stalle werde ich diese armen Teufel doch

nicht weisen.«

Auch wir zwei fühlten Mitleid mit den Leuten und thaten ungesäumt, was wir, die wir hier

nichts zu sagen hatten, thun konnten: Ich trug mein volles Weinglas dem Alten hin, um ihn

trinken zu lassen, und Carpius, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit

wahrem Heißhunger sofort über das Essen machte.

Es verging eine ziemliche Weile, ohne daß die Wirtin wiederkam; da wurde nun auch Franzl

wild; er stand vom Tische auf und ging in die Küche, aus welcher dann die durch die Thür

unterdrückten Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten

Teile hatte der sehr erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in

besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich

der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem

verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten. daß die Wirtin der Küche

durch eine zweite Thür Valet sagte. Dann kam Franzl strahlenden Gesichtes wieder.

»Sie ist zur Nachbarin gegangen, wo nun weiter geblasen wird,« gestand er uns, die wir nicht

wenig stolz auf dieses sein Vertrauen waren. »Inzwischen können wir hier machen, was wir

wollen. Nun passen Sie einmal auf!«

Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die

ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm noch eine ganz

volle Weinflasche und trug sie den Leuten hin; er nahm alles, was auf unserm Tische stand

und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab,

setzte er sich noch selber zu ihnen hin und forderte uns auf:

»Kommen Sie auch her, meine Herren Studenten! Wir wollen uns mit diesen guten Leuten

über Amerika unterhalten. Vielleicht können wir Neues von drüben erfahren, da der Mann

dieser Frau geschrieben hat.«

»Interessieren Sie sich für Amerika?« fragte Carpio.

Er besaß nämlich eine große Vorliebe für das Land jenseits des atlantischen Oceanes, denn es

wohnte ein Verwandter von ihm drüben, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen.

Welchen Grades die Verwandtschaft war, hatte ich nie von ihm erfahren können. Er liebte es,

den amerikanischen Vetter so tief wie möglich zu verschleiern, und ließ aus diesem Dunkel

nur zuweilen drei einzelne Blitze hervorschießen, die mir nach und nach so bekannt wurden,

daß ich sie endlich selber auch hervorschießen lassen konnte: Erster Blitz – – El Dorado!

Zweiter Blitz – – Millionär! Dritter und hellster Blitz – – Universalerbe! Ob er diese Blitze

auch jetzt erscheinen lassen werde, darauf war ich sehr gespannt.

Franzl gestand aufrichtig, daß ihm die Gegend von Eger bis nach Karlsbad viel bekannter sei

als die vielen Staaten und Territorien der United-States of America, und so setzte sich mein

alter respektive sein neuer Busenfreund in Positur und ließ denjenigen Abschnitt unsers

»Lehrbuches für höhere Schülerklassen« los, welches von den Vereinigten Staaten handelte.

Er hatte ihn nämlich wegen der oben erwähnten drei Blitze auswendig gelernt. Er fand für

seinen Vortrag in Franzl einen sehr aufmerksamen, in mir einen sehr zerstreuten und in den

drei Fremden gar keinen Zuhörer, denn diese waren zu sehr mit sich selbst und der Stillung

ihres Hungers beschäftigt, als daß sie auf die trockenen Einwohnerzahlen der verschiedenen

See-, Fluß- und andern Städte hätten achten können.

Es war rührend, anzusehen, welche liebevolle Sorgfalt die Frau ihrem Vater widmete und wie

auch der Knabe ihm das Beste von dem anbot, was er auf seinem Teller liegen hatte. Der

Greis war so schwach, daß er sich kaum aufrecht halten konnte und wie ein Kind gespeist

werden mußte. Der Wein that ihm gut, doch essen konnte er nur wenig; er schien vor allem

der Ruhe, des Schlafes zu bedürfen, und wenn ich ihm so in das abgehagerte Gesicht blickte,

war es mir so, als ob dieser Schlaf sein letzter sein werde.

Die Frau hatte, ehe sie nach dem ersten Bissen langte, laut gebetet, und man sah es ihr dabei

an, daß sie das nicht unsertwegen, sondern aus Gewohnheit und Überzeugung that; am

Schlusse des Mahles betete sie wieder und bat dann den Wirt, ihren Vater zur Ruhe legen zu

dürfen. Da aber schüttelte der Alte den Kopf und sagte mit seiner müden, hohl klingenden

Stimme:

»Nein, laß mich noch sitzen, meine Tochter! Wir sind durch Sturm und Schnee und Frost

gewandert, als überall in den warmen Stuben die Weihnachtsbäume brannten. Wir mußten

weiter, immer weiter, von Ort zu Ort, ohne uns auch mit freuen zu dürfen. Ich habe euch kein

Licht anzünden und nichts schenken können; ihr mußtet frieren und hungern während der

heiligen Tage, und da ich euch nicht auch noch mit Thränen betrüben wollte, weinte ich sie in

mich hinein. Hier aber ist mir wohl; hier sind wir freundlich aufgenommen worden; hier ist es

warm, und wir sind satt; hier wollen wir unser Weihnachtsfest feiern!«

Seine Worte waren oft durch einen trockenen, quälenden Husten unterbrochen worden. Jetzt,

als er schwieg, faltete er die Hände und bewegte leise betend die Lippen. Die Frau legte ihre

Hände auch zusammen und weinte leise vor sich nieder. Der Knabe biß die Zähne zusammen

und sah uns an, im Zweifel darüber, wie wir uns verhalten würden, wenn er sein gewaltsam

unterdrücktes Schluchzen nicht mehr niederhalten könne. Er war ein wackerer, kleiner Kerl!

Der betende Greis kam mir jetzt nicht mehr wie ein Bettler vor. Wenn die Berge hoch zum

Himmel steigen, bedecken sie ihre Häupter mit Schnee, und wenn der Schnee des Alters den

Menschen krönt, ist er dem Himmel nahe; Himmelsnähe aber erweckt Ehrfurcht in jeder

fühlenden Menschenbrust. Der mit zitternden Lippen um Einlaß in den Himmel bittende Alte,

die still weinende Frau und der mit seinen Thränen kämpfende Knabe, sie waren für mich

ihrer Bettlerschaft entkleidet und zwangen mich, an die Schriftworte zu denken: »Wo zwei

oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Welchen

Eindruck machte die jetzige Situation gegen die kindische Heiterkeit, welche vorher hier

geherrscht hatte! Während draußen in der Abendkälte das Elend sich mühsam durch die

verschneiten Wege geschlichen hatte, waren wir beschäftigt gewesen, die Zeit mit

schülerhaften Witzen totzuschlagen. Ich schämte mich!

Der Wirt schien etwas ähnliches wie ich zu fühlen; er räusperte sich einigemal, wie um aus

einer inneren Verlegenheit herauszukommen, und sagte dann:

»Ja, ihr sollt hier Weihnachten feiern; ich thue es; ich hole ihn herein!«

Er ging in den Flur hinaus, und dann hörten wir ihn jenseits desselben eine Thür öffnen,

welche, wie wir später erfuhren, in das Wohnzimmer führte. Wer der »ihn« war, den er holen

wollte, sahen wir, als er einen buntbehangenen Christbaum getragen brachte, dessen Lichter

noch nicht ganz abgebrannt waren. Er stellte ihn auf den Tisch, bat uns, die Lichter

anzuzünden, und entfernte sich dann wieder. Der fremde Knabe sprang auf und bat uns mit

strahlenden Augen, uns helfen zu dürfen, ein Wunsch, den wir ihm natürlich mit Freuden

erfüllten.

Dann kam Franzl wieder. Er brachte einige Kleidungsstücke von sich und seiner Frau, auch

einen Kuchen und eine Wurst, welche er unter den Baum legte; dazu fügte er fünf blanke

Gulden, indem er sagte:

»Hier, das beschert euch das heilige Christkind, welches eure Thränen gesehen und euer

Gebet gehört hat. Bedankt euch bei ihm und nicht bei mir!«

Welch eine Freude gab es jetzt! Die Augen des Greises öffneten sich weit, um das Licht der

Weihnachtskerzen in sich aufzunehmen; die Frau weinte jetzt nicht mehr Schmerzens-,

sondern Freudenthränen, und der Knabe schlang seine Arme um ihren Hals, um das

Schluchzen, welches ihn jetzt von neuem übermannen wollte, an ihrer Brust zu verbergen. Ich

konnte nicht anders, ich mußte in die Tasche greifen und einen Gulden herausnehmen, den ich

zu den fünf des Wirtes legte. Als Carpio dies sah, sagte er leise zu mir:

»Ja, ihr könnt geben, ihr! Der Franzl hat reich geheiratet, und du hattest fünf Thaler, ich aber

nur drei; ich bin der Ärmste und kann nichts – – und doch, doch, ich kann auch etwas geben,

wenn auch kein Geld wie du; paß nur auf!«

Er bat um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren:

»Ich verkünde große Freude,

Die Euch widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Euer Heiland Jesus Christ – –«

Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir,

 

sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme? Je weiter er

sprach, desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch

die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner;

seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex

des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche

jetzt sein Herz erleuchtete? Er breitete die auf dem Tische liegenden Hände auseinander und

öffnete sie, als ob er, sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung aufrichtend und den

vorher so müden Kopf hoch hebend, eine unsichtbare, von oben kommende Gabe ergreifen

und festhalten wolle. Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte,

langsam auf, so daß er kräftig und kerzengerade am Tische stand, und bat:

»Noch einmal das letzte, noch einmal! Oh bitte, wiederholen Sie es von da an, wo der Priester

spricht!«

Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine,

sondern die Worte eines andern seien:

»Und der Priester legt die Hände

Segnend auf des Toten Haupt:

›Selig, wer bis an das Ende

An die ewge Liebe glaubt!

Selig, wer aus Herzensgrunde

Nach der Lebensquelle strebt

Und noch in der letzten Stunde

Seinen Blick zum Himmel hebt!

Suchtest du noch im Verscheiden

Droben den Erlösungsstern,

Wird er dich zur Wahrheit leiten

Und zur Herrlichkeit des Herrn.

Darum gilt auch dir die Freude,

Die uns widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Auch dein Heiland Jesus Christ!‹« – –

Da legte der Alte die ausgebreiteten Hände wieder ineinander, sank auf den Stuhl zurück,

schloß, indem ein seliges Lächeln über sein Gesicht ging, die Augen und wiederholte leise,

doch so, daß wir sie hörten, die Worte:

»Darum gilt auch dir die Freude, – – die uns widerfahren ist, – – denn geboren wurde heute –

– auch dein Heiland Jesus Christ! Das gilt auch mir – – mir – – – mir! Ich habe ihn gesucht –

gesucht – gesucht – – und heut ist er gekommen! Ich sehe ihn; ich sehe seinen Stern; ich sehe

das Licht, welches da leuchtet auf den Feldern von Bethlehem! Und wie war das, wie? Ich

meine das, was Simeon sagte, als er im Tempel den Heiland sah.«

Ich nickte Carpio zu, und dieser antwortete:

»Herr, nun lässest du in Frieden

Deinen Diener zu dir sehn,

Denn sein Auge hat hienieden

Deinen Heiland noch gesehn!«

»Ja, ja, so ist es; ich sehe ihn!« fuhr der Alte fort, noch immer geschlossenen Auges. Er

bewegte die Lippen wieder wie früher, jetzt aber nicht betend; das sah man deutlich; er schien

nach Worten zu suchen, nach Worten, welche er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange

nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: »Und wie, wie heißt es in dem Gedichte von dem

Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?«

Diesesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:

»Betend faltet er die Hände,

Hebt das Auge Himmel an:

›Vater, gieb ein selig Ende,

Daß ich ruhig sterben kann!

Blicke auf dein Kind hernieder,

Das sich sehnt nach deinem Licht;

Der Verlorne naht sich wieder;

Geh mit ihm nicht ins Gericht!‹« – –

»Blicke auf dein Kind hernieder,« wiederholte der Greis,- – »das sich sehnt nach deinem

Licht; – – der Verlorne naht sich wieder; – – geh mit ihm nicht ins Gericht! – – – Nicht, nein,

nein! – – nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem

angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst

verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und

dann kam es flüsternd und immer leiser und langsamer werdend über seine Lippen: »Suchtest

du noch im Verscheiden – – droben den Erlösungsstern – – wird er dich zur Wahrheit leiten –

– und zur Herrlichkeit des Herrn – –! Wahrheit – – Herrlichkeit, oh Herrlichkeit – –! Ich bin

müde; ich will schlafen, schlafen gehen – – schlafen gehen – – schlafen!«

Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.

»Mein Gott, er stirbt – er stirbt!« sagte der Wirt besorgt.

»Nein, er stirbt nicht,« beruhigte ihn die Frau. »Er ist nur müde von dem weiten, schweren

Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen

muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!«

»Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?«

»Halb geht er, und halb halte ich ihn.«

»Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das

Licht nehmen!«

Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt,

von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Thür hinaus. Als ich nun mit

Carpio allein war, sagte dieser:

»Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine

erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute;

ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande angehören.«

Der allerwegs zerstreute Freund pflegte dergleichen Beobachtungen sonst nicht zu machen;

ich war ganz seiner Ansicht, erkundigte mich aber:

»Warum denkst du das?«

»Sie haben eine Weise, sich auszudrücken, welche auf einen bessern als den gewöhnlichen

Arbeiterstand schließen läßt. Und sodann hat der Alte die Disposition, den Gedankengang

deines Gedichtes so schnell begriffen und sich einzelne Strophen so leicht gemerkt, daß ich

darauf schwören möchte, er habe es früher mehr mit geistiger als mit anderer Arbeit zu thun

gehabt. Oder bist du anderer Meinung?«

»Nein. Ich vermute sogar noch mehr.«

»Was?«

»Daß diese Familie unter einem sehr schweren Schicksale gelitten hat.«

»Verdienter Weise?«

»Ob verdient oder nicht verdient, das kann ich natürlich nicht wissen. Der angstvolle Blick,

mit welchem der Greis so plötzlich aufgerissenen Auges um sich schaute, giebt auch keinen

Anhalt. Diese Angst kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missethaten beziehen.

Doch, das geht uns nichts an. Ich stimme dir aber darin bei, daß es wirklich eine ergreifende

Weihnachtsfeier war, die ich nicht so leicht vergessen werde.«

»Ich auch nicht. Du hast recht: Diese Leute gehen uns eigentlich nichts an; aber ich möchte

doch gar zu gern wissen, wer oder was sie sind oder vielmehr früher gewesen sind.«

Jetzt kam der Wirt, um die bescherten Gegenstände zu holen und hinaufzutragen. Als er dann

wieder zurückkehrte und sich zu uns setzte, sagte er:

»Der Abend hat so lustig angefangen und so ernst geendet; für uns drei aber darf er noch nicht

zu Ende sein. Ich freue mich, solche Leute, wie Sie sind, einmal bei mir zu haben. Wir trinken

noch eine Flasche Wein und bleiben so lange wie möglich auf. Und morgen lasse ich Sie erst

recht noch nicht fort!«

»Aber Ihre Frau – –?« fragte ich.

»Oh, die hat Verstand! Nämlich, was gebildete Menschen, besonders Studenten betrifft, weil

ich auch einer gewesen bin. Da schwelgt sie auch gern mit in meinen Erinnerungen und

meinen Gefühlen. Das alte, gute Wort Multis ictibus dejicitur quercus ist ihr ebenso gut wie

mir bekannt. Aber Bettler, Bettler und sonstiges Gesindel, das mag sie gar nicht leiden; da

schimpft sie über jeden Kreuzer, den ich gebe; ich aber gebe gar zu gern, weil ich nämlich

früher auch nichts gehabt habe, meine klassische Bildung natürlich abgerechnet.«

»Wird sie, wenn sie von der Nachbarin zurückkehrt, hier hereinkommen?«

»Nein.«

»So kann der Baum, der zum Verräter würde, hier stehen bleiben?«

»So lange wir aufbleiben, ja; dann trage ich ihn hinüber.«

»Aber sie wird morgen sehen, daß die Lichter vollends abgebrannt sind!«

»Alle Bomben! Ja, das ist wahr!« rief er aus. »Das giebt dann eine Hetz, die ich vermeiden

möchte. Was ist da zu thun? Ich weiß mir keinen Rat! – – Halt, halt, ich hab's, ich hab's! Sind

Sie klug genug, es zu erraten, Herr?«

»Nein.«

»Ich steck' nachher neue Lichte in die Dillen; die brennen wir an und löschen sie wieder aus,

wenn sie halb herunter sind. Da denkt sie, es sind die alten. Pfiffig muß man sein, pfiffig, sag

ich Ihnen, Herr – – – Sa – – Saff – – – Wie heißen Sie eigentlich? Ich kann mir diesen Namen

gar nicht merken. Karb – – Karb – – und Saff – – Saff – –!«

Ich erklärte ihm, daß Carpio und Sappho nur unsere Studentennamen seien, und nannte ihm

unsern richtigen. Mein Freund nahm daraus die Veranlassung, seine Gründlichkeit zu zeigen,

und sagte:

»Ich kann Ihnen sogar Schwarz auf Weiß beweisen, daß ich den genannten Namen mit

vollster Berechtigung trage. Hier ist mein Reisepaß!«

Er griff in die Westentasche, wo er, wie er sich genau erinnerte, die Legitimation in sichere

Verwahrung gebracht hatte, zog aber die Finger leer zurück. Nun suchte er in der andern

Westentasche, dann in allen Rock- und Hosentaschen, vergeblich; der Paß war wieder einmal

verschwunden.

»Wo er nur hingekommen sein mag?« fragte er bestürzt. »So ein Papier, welches noch dazu

gestempelt ist, kann doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwunden sein!«

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