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Augen

Mark Anatoljewitsch war von Geburt an blind. Die Natur hatte ihm das Augenlicht versagt, aber ihn mit einem feinen Gehör und erstaunlicher Intuition ausgestattet. In seiner eigenen Wohnung bewegte er sich sicher, ohne Stock. Er kannte hier jede Erhebung, jede Ecke und stolperte nie über irgendetwas. Er lebte allein. Kinder und eine Frau hatte er nicht. Aber er hatte einen ziemlich schlechten Charakter! Die Nachbarn verkehrten nicht mit ihm. Wenn sie ihn sahen, gingen sie lieber zur Seite. Die Verkäufer in den nahegelegenen Geschäften hingegen konnten nicht ausweichen und bekamen seine Nörgelei und bissigen Bemerkungen reichlich zu spüren. Er war ständig mit irgendetwas unzufrieden, murrte und fuhr andere an. Sein verbitterter Gesichtsausdruck schreckte die Leute ab. Aber das war ihm recht. Er hatte sich längst mit der Einsamkeit abgefunden und strebte keinen Kontakt zu jemandem an. Freiwillige im Rahmen des Programms zur Unterstützung Sehbehinderter kamen oft, aber er lehnte ihre Dienste immer ab. Meistens öffnete er ihnen einfach nicht die Tür. Doch einmal, aus Langeweile, nahm er doch die Hilfe eines Mädchens namens Alina an. Er beschloss, sich ein wenig über der jungen Helferin lustig zu machen, indem er sie bis zum Äußersten forderte.

Und er dachte sich viele verschiedene Aufgaben für sie aus. Sie wischte ihm zweimal den Boden in der gesamten Wohnung. Sie schrubbte die Badewanne und die Toilette. Sie spülte das Geschirr und räumte den Balkon auf. Er hoffte, dass das arme Mädchen müde sein und ihn nicht mehr belästigen würde. Aber am nächsten Tag kam sie wieder. Lächelnd und fröhlich. Das machte Mark Anatoljewitsch furchtbar wütend! Und er sagte ihr, sie solle dasselbe tun wie gestern, nur zusätzlich die Wände im Badezimmer und der Toilette waschen. Das Mädchen tat es gehorsam und war erst gegen Abend fertig. Müde, aber immer noch so heiter, verabschiedete sie sich bis morgen.

– Na, morgen wird sie bestimmt nicht kommen! – dachte Mark Anatoljewitsch. – Und wenn sie es doch wagt, dann werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, dass dieses Treffen mit ihr unser letztes wird.

Am nächsten Tag, gegen Mittag, klingelte es an der Tür. Mark Anatoljewisch ging mit teuflischem Grinsen in den Flur.

Vor der Tür stand Alina, und daneben war ein schwaches Fiepen zu hören.

Eine feuchte, raue Zunge leckte seine Hand. Er streckte die Handfläche aus und stieß auf einen pelzigen Kopf. Alina erklärte, dass es ein Blindenhund sei, und wenn er wolle, könne er bei ihm bleiben. Mark Anatoljewitsch lehnte sofort ab, da er keine Tiere mochte. Aber der Hund schmiegte sich so an ihn, stupste so beharrlich seine Hand, dass er zustimmte. Sein Name war Marty, aber Mark Anatoljewitsch nannte ihn einfach Hund. Der reagierte bereitwillig auf den neuen Namen.

Der Hund wich keinen Schritt von seinem Herrn, legte ihm immer den Kopf auf den Schoß und bettelte um Streicheleinheiten. Zunächst scheuchte Mark Anatoljewitsch ihn weg, aber der Hund war beharrlich und setzte sich schließlich durch.

Allmählich gewöhnte er sich an sein Haustier. Er streichelte es, fütterte es, ging mit ihm Gassi. Sie verstanden sich gut. Der Hund schlief an seinem Bett und reagierte empfindlich auf jedes Geräusch. Er wollte seinen Herrn beschützen und versuchte, ihm in allem zu gefallen. Doch eines frühen Herbstmorgens begrüßte der Hund ihn nicht mit freudigem Jaulen. Er lag schweigend auf seinem Platz. Mark Anatoljewitsch streckte die Hand nach ihm aus und stieß auf einen kalten, reglosen Körper. Er streichelte ihn mit der Hand, und Tränen strömten ihm in Strömen über die Wangen. Er rief den Hund beim Namen, flehte ihn an, aufzuwachen, sagte, wie schlimm es ohne ihn sein würde. Aber der Hund schwieg.

Sein Herz zersprang vor Schmerz, ein Kloß saß ihm in der Kehle, es war schwer zu atmen. Er beugte sich über ihn, streichelte ihn unaufhörlich und weinte.

Mark Anatoljewitsch schloss die Augen und erinnerte sich an den Tag, als Alina ihm den Hund brachte. Die Erinnerung war so lebhaft, so scharf, dass er zusammenzuckte, die Zähne zusammenbiss und einen leisen, aber seelenzerreißenden Schrei ausstieß. Und als er die Augen wieder öffnete, durchbohrte ihn ein stechender Schmerz. Helles, weißes Licht schnitt in die Augenhöhlen. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie, blinzelte, wischte sich die Tränen mit den Händen ab. Und durch den Spalt zwischen den Wimpern, blinzelnd, sah er. Auf dem Boden vor ihm lag sein Hund. Rot, mit einem kleinen weißen Fleck auf dem Scheitel. Reglos.

Mark Anatoljewitsch, der neue Tränen unterdrückte, lächelte leicht und begann wieder, ihn am Kopf zu streicheln. Und erst nach ein paar Augenblicken wurde ihm klar. Er konnte sehen. Er war sehend geworden!

Er legte sich langsam auf den Boden neben den Körper seines Freundes, umarmte ihn, drückte seine Wange an ihn und weinte laut und hemmungslos, bitter und schluchzend.

Gute Manieren

An einem heißen Sommertag spielten zwei Rentner, zwei gute Kameraden, Michail Grigorjewitsch und Pawel Sergejewitsch, Schach.

In einer Laube, im Schatten eines großen Baumes.

– Was sagen Sie zu diesem meinem Zug, Michail Grigorjewitsch?

– Was soll ich sagen, Pawel Sergejewitsch, Ihr Zug war sehr angebracht und vorhersehbar. Ich habe ihn erwartet. Und dieser Bauer hat nicht umsonst gelitten. Sondern für meinen zukünftigen Sieg über Sie.

– Wie anmaßend, Michail Grigorjewitsch. Vielleicht werden Sie ja gar nicht gewinnen?

– Wer weiß, Pawel Sergejewitsch, wer weiß. Das Leben ist unberechenbar.

– Das ist wahr, Michail Grigorjewitsch. Das Leben ist so… Ich erinnerte mich an meine erste Frau. Aus irgendeinem Grund…

– Worauf wollen Sie hinaus? Sie sind am Zug.

– Ja… ich erinnerte mich, sage ich, an meine erste. Erinnern Sie sich an sie, Michail Grigorjewitsch? Swetka.

– Swetlana? Natürlich erinnere ich mich, Pawel Sergejewitsch. Sie hat Ihnen doch noch betrogen.

– Ja! Betrogen! (unflätige Beschimpfung)

– Pawel Sergejewitsch, wo bleiben Ihre guten Manieren?

– Michail Grigorjewitsch, gute Manieren hören auf, wenn der Schmerz eines gebrochenen Herzens kommt.

– Das ist wahr, Pawel Sergejewitsch, gut gesagt. Tiefsinnig! Aber wir sind doch gebildete Leute! Es steht uns nicht an, uns unflätig auszudrücken, als wären wir auf dem Markt.

– Verzeihen Sie, Michail Grigorjewitsch. Ich weiß selbst nicht, was mit mir passiert, wenn ich an sie denke.

– Alles ist klar, Pawel Sergejewitsch. In Ihrer Seele brennt der Groll der Enttäuschung über die sinnlos verbrachten Jahre mit Swetlana. Das ist alles!

– Gut gesagt, Michail Grigorjewitsch, reine Wahrheit! Es tut mir leid. Ich laufe so herum…

– Pawel Sergejewitsch, jetzt ist auch Ihr Bauer endlich geschlagen. Mein Sieg ist nicht mehr weit!

– Sehr zweifelhaft, aber na gut.

– Ich bin gezogen, jetzt sind Sie dran.

– Und Sie, Michail Grigorjewitsch, haben zufällig die Lottoscheine für letzte Woche nicht überprüft?

– Habe ich, Pawel Sergejewitsch. Zu meinem großen Bedauern haben wir nichts gewonnen. Fortuna hat sich also von uns abgewandt. Früher haben wir wenigstens symbolische Beträge bekommen. In dieser Ziehung aber, leider und weh… Nichts!

– So was… (unflätige Beschimpfung)

– Pawel Sergejewitsch, wo bleiben Ihre guten Manieren? Wir waren doch verabredet!

– Michail Grigorjewitsch, leider hören gute Manieren auf, wenn die Bitternis der Niederlage kommt! Ich habe so gehofft, das Wochenendhaus zu gewinnen. Die Hälfte meiner Rente für diese Lottoscheine ausgegeben. Und dann… Fiasko!

– Na, regen Sie sich nicht so auf, mein Freund. Nächstes Mal hat man vielleicht Glück! Das Leben, wissen Sie, ist so…

– Das ist wahr, Michail Grigorjewitsch. Schach und matt! Verzeihen Sie!

– Was? Wie? (unflätige Beschimpfung)

– Michail Grigorjewitsch, wo bleiben Ihre guten Manieren?

– Pawel Sergejewitsch, wie Sie kürzlich bemerkten, hören gute Manieren auf, wenn die Bitternis der Niederlage kommt! Ich hatte doch so eine Strategie…

– Na, nächstes Mal haben Sie Glück, Michail Grigorjewitsch. Seien Sie nicht traurig! Noch eine Partie? Spielen wir?

– Selbstverständlich, Pawel Sergejewitsch. Diesmal habe ich bestimmt Glück!

Realität

Das automatische Tor öffnete sich langsam, und ein schwarzer Repräsentationswagen fuhr auf das Gelände einer luxuriösen dreistöckigen Villa. Er fuhr an einer Laube und einem Gästehaus vorbei, bog rechts neben einem Brunnen ab und hielt sanft vor der Treppe an. Aus der hinteren Tür stieg ein Mann in einem schwarzen Smoking, dann seine Gattin in einem langen, roten Abendkleid. Der Mann sagte seinem Fahrer, er sei für heute frei. Und seiner Frau hinterher, die bereits hinter der Tür verschwunden war, stieg er langsam die Stufen der Treppe hinauf und betrat das Haus. Er war irgendwie bekümmert und beunruhigt. Während er langsam die breite Marmortreppe in den dritten Stock hinaufging, knöpfte er unterwegs sein Jackett auf. Im Schlafzimmer angekommen, zog er es aus und legte es über einen Stuhl.

– Schatz, was ist denn wieder mit dir los, – sagte die unzufriedene Frau, während sie sich eine diamantene Halskette abnahm, – ich musste den ganzen Abend allen erklären, warum du so traurig bist. Den wahren Grund habe ich natürlich nicht genannt, denn ich halte ihn für Blödsinn! Also musste ich improvisieren, lügen. Habe gesagt, du hast Migräne.

– Das ist überhaupt kein Blödsinn, – murmelte der Mann, – sondern ein Traum.

– Eben, ein blöder Traum! Und du warst beim heutigen Galadinner ganz außer dir. Saßest irgendwo abseits. Dabei war dieses Dinner doch so wichtig für dich! Falls du dich erinnerst? Diese Leute sind große Investoren. Du brauchst sie! Oder hast du dir etwa anders überlegt, dein Geschäft zu erweitern?

Die Frau zog ihr Kleid aus und brachte es in den Ankleideraum.

– Ich erinnere mich an alles! Nur… – der Mann zog seine Hose aus und legte sie auf den Stuhl, oben auf das Jackett.

– Nur was? – Sie kam schnellen Schrittes aus dem Ankleideraum, nahm Jackett und Hose vom Stuhl und verschwand wieder dort. – Reiß dich zusammen, Schatz, du bist ein großer Geschäftsmann! Lass dich nicht von deinen Träumen manipulieren! – sagte sie laut, schon aus dem Ankleideraum.

Der Mann setzte sich aufs Bett, zog die Socken aus und legte sich unter die Decke:

– Ich verstehe nur nicht, wozu dieser Traum? Vielleicht warnt er mich vor etwas?

– Red keinen Unsinn, Schatz! – Die Frau kam aus dem Ankleideraum und ging ins Badezimmer. – Glaubst du etwa daran?

– Ich weiß nicht… – er dachte nach. – Im Leben ist alles möglich!

Sie kam aus dem Badezimmer und legte sich ins Bett:

– Nein! Ein Traum ist nur ein Traum, – umarmte sie ihn, – unser Gehirn produziert im Schlaf alles Mögliche. All die Erlebnisse eines Menschen und alles, was er am Tag gesehen hat!

– Ich träume von einer großen, alten Eiche, von der gelbe Blätter fallen. Wo könnte ich die hier gesehen haben? Hier gibt es überall Palmen. Und Sommer 365 Tage im Jahr. Und noch weniger habe ich an sie gedacht. Ganz sicher!

– Das ist klar, aber… erinnerst du dich, du hast mir mal erzählt, dass du dieselbe Eiche geträumt hast, aber mit grünen Blättern?

– Natürlich erinnere ich mich. Das hat mich auch beunruhigt! Damals waren sie grün, und jetzt… fallen sie ab!

– Schatz, ich habe darüber nachgedacht, und weißt du, daran ist nichts Schlimmes. Einfach, als du das erste Mal von dieser Eiche geträumt hast, war Frühling. Und jetzt ist Herbst. Das ist alles! Wir leben hier, und wegen des lokalen Klimas merken wir das nicht. Aber deine biologische Uhr lässt sich nicht täuschen! Dort, wo wir herkommen, ist jetzt tatsächlich Herbst. Und dort wachsen Eichen. Übrigens!

Der Mann dachte nach:

– Nun… vielleicht hast du recht…

– Natürlich habe ich recht! Mach dich nicht verrückt und verfalle nicht in Depressionen. Das war nur ein blöder Traum, das ist alles! Die Realität ist eine ganz andere, – sie küsste ihn auf die Lippen, – lass uns schlafen, Schatz, morgen hast du ein wichtiges Meeting. Und danach gehen wir irgendwohin, lenken uns ab. Lass uns schlafen, es ist schon sehr spät.

– Gut. Gute Nacht, Liebling. Danke für die Unterstützung!

– Bitte, Schatz, – gähnte die Frau, – süße Träume.

Nach einer Minute schliefen sie fest.

Realität… sie war wirklich eine andere!

Die Realität, in der er ein erfolgreicher Geschäftsmann war, war von seinem erhitzen Gehirn erschaffen worden, das schon lange ein eigenes, von ihm getrenntes Leben führte.

In der wirklichen Realität war er nicht reich. Er besaß keine luxuriösen Villen an der Côte d’Azur. Und er war niemals verheiratet.

In der Realität befand er sich seit mehreren Jahren in einer psychiatrischen Klinik in einem äußerst schweren Zustand. Und seine liebste Beschäftigung war, den ganzen Tag schweigend aus dem Fenster auf die große, alte Eiche zu schauen, die mitten im Hof stand. Von deren Ästen seit nunmehr drei Tagen langsam gelbe Blätter fielen.

Der Freund aus Kindertagen

In einem für den Abend gemieteten Restaurant war ein Klassentreffen in vollem Gange. Fünfzehn Jahre waren vergangen, seit der einst zusammengewachsene 11. «A» die Schule abgeschlossen hatte, und nun war er wieder vereint.

Gedämpftes Licht, langsame Musik. Einige tanzten, andere, die die Tische zusammengeschoben hatten, führten angeregte Gespräche. Und wieder andere saßen einfach nur da und langweilten sich. Igor gehörte zu Letzteren.

Genauer gesagt, er langweilte sich nicht so sehr, wie er trauerte. Seit vielen Jahren hatte er nichts mehr von seinem Schulfreund Sergej gehört. Und Igor hätte sehr gerne mit ihm gesprochen, die wunderbaren Schuljahre in Erinnerung gerufen. Er saß in stolzer Einsamkeit am Tisch und nippte an seinem Wein. Plötzlich tauchte Altufew vor ihm auf – ein bulliger, kräftig gebauter Mann. Schon in der Schule war er durch sein Gewicht aufgefallen, und in den Jahren seit dem Abschluss schien er noch massiver geworden zu sein.

In der Schule galt er als Rowdy, und Igor ging ihm lieber aus dem Weg. Und jetzt setzte sich genau dieser Rowdy zu ihm an den Tisch, runzelte die Stirn und fragte mit ernster Miene:

– Wie geht’s, Potapow?

Igor schluckte nervös und antwortete stotternd:

– Normal… Warum?

– Serjoga ist nicht gekommen?

– Leider nein, – antwortete Igor traurig.

– Hast du ihn angerufen?

– Nein.

– Warum nicht?

Igor machte eine kurze Pause vor der Antwort und überlegte, warum Altufew nach Serjoga fragte? Er war doch nicht mit ihm befreundet gewesen. Hatte nicht einmal mit ihm gesprochen.

– Ich habe seine Telefonnummer nicht.

– Was? – grinste Altufew. – Du bist mit ihm seit der ersten Klasse befreundet. Ihr wart immer zusammen, unzertrennlich. Und du erzählst mir, du hast seine Nummer nicht? Quatsch!

– Nun, ich hatte seine Nummer… früher. Er hat sie wahrscheinlich gewechselt.

– Nehmen wir an. Und in den sozialen Netzwerken hast du nach ihm gesucht?

– Nein, – antwortete Igor und senkte beschämt den Blick.

– Warum nicht?

– Weiß nicht.

– Was heißt, weiß nicht? – Altufew drängte wie ein Ermittler beim Verhör. – Das ist dein bester Freund! Und du erzählst mir, du hast nicht nach ihm gesucht? Was für ein Freund bist du denn?

Igor wischte sich mit der Hand die feuchte, vor Aufregung schwitzende Stirn:

– Ich… habe gesucht… Natürlich habe ich nach ihm gesucht. Nur nicht gefunden. Das ist alles!

– Verstehe! – sagte Altufew lächelnd. – Und bist du zu ihm nach Hause gegangen?

– Wozu? – wunderte sich Igor.

– Wie, wozu? Du weißt doch, wo er wohnt?

– Weiß ich.

– Na also. Kannst ihn nicht erreichen – wärst doch zu ihm nach Hause gegangen!

– Er ist von dort weggezogen, – antwortete Igor schnell.

– Schon lange?

– Gleich nach dem Abitur.

– Allein oder mit den Eltern?

– Mit den Eltern, natürlich. Wohin denn ohne sie.

– Klar… – sagte Altufew misstrauisch. – Hör mal, Potapow. Igor. Weißt du, was ich heute mache? Weißt du, wer ich bin?

– Nein, – antwortete Igor erschrocken und, nach einem schnellen Blick zur Seite, rutschte er nervös auf dem Stuhl herum.

– Ich bin Psychologe. Ein guter, hochbezahlter Psychologe mit großer Erfahrung und Reputation. Ich habe fünf Bücher über Psychologie geschrieben. Halte Vorlesungen für Studenten. Ein sehr angesehener und autoritativer Mensch in der Welt der Psychologie.

– Verstehe, – sagte Igor langsam und angespannt.

– Ich bin Psychologe geworden dank dir!

– Was soll das heißen? – wunderte sich Igor.

– Ganz wörtlich! Dank dir und deinem Freund Serjoga. – Er lächelte und fuhr begeistert, mit leuchtenden Augen, fort: – Nach der Schule wurde ich neugierig und beschloss, dieses Phänomen genauer zu studieren. Und ich war so fasziniert, dass ich zu dem wurde, der ich heute bin!

– Ich verstehe nicht. Wovon redest du? Welches Phänomen?

– Igor, – Altufew rückte den Stuhl etwas näher und sah ihm fest in die Augen, – es gibt keinen Serjoga!

– Wie das?

– Ganz einfach! Du hast ihn dir ausgedacht! Kinder tun das oft. Aus Einsamkeit erfinden sie sich Freunde.

Igor lächelte:

– Was redest du da, «ausgedacht». Ich saß mit ihm in einer Bank.

– Du saßest allein! Du hast dir einen Freund ausgedacht und jahrelang blind an seine Existenz geglaubt. Und nach dem Abitur hast du dich selbst davon überzeugt, dass er in eine andere Stadt gezogen ist und die Telefonnummer gewechselt hat.

Igor senkte schweigend den Kopf.

– Erstaunlich! Dein Gehirn hat nicht nur erfunden, wie er aussieht. Es hat ihm einen Namen und Nachnamen gegeben, erfunden, wo er wohnt und wie seine Eltern aussehen. Es hat alle eure Dialoge erschaffen und sogar seine Hobbys. Erinnerst du dich, was er sammelte?

– Briefmarken… mit Kosmonauten, – antwortete Igor leise, ohne den Kopf zu heben.

– Faszinierend, wozu das menschliche Gehirn fähig ist, Potapow! Je mehr ich es studiere, desto mehr erstaunt es mich. Also danke für meine strahlende Zukunft!

– Bitte, – murmelte Igor halblaut.

– Weißt du, Potapow, ich war in der Schule auch ein Einzelgänger. Alle hatten Angst vor mir wegen meiner Statur und meines ernsten, wie allen schien, grimmigen Gesichts. Sie sind mir drei Meilen weit aus dem Weg gegangen, wenn sie mich nur sahen. Und ich kann doch nichts dafür, dass ich so groß gewachsen bin und einen ernsten Gesichtsausdruck habe. Ich wollte auch mit jemandem befreundet sein. Mit dir zum Beispiel hätte ich gerne Freundschaft geschlossen. Aber sobald ich auf dich zukam, bist du weggelaufen. Ich habe dich beobachtet, wie du mit Serjoga zu reden schienst. Wie du ihn im Unterricht abschreiben ließest, vorsichtig, damit die Lehrerin es nicht merkte. Wie ihr nach der Schule zusammen nach Hause ginget. Sah, wie du traurig ohne ihn warst, wenn er angeblich krank war. Ich habe all das beobachtet und eure Freundschaft beneidet! Beneidet und nicht verstanden, warum du dir einen Freund ausdenkst, wenn du mit einem echten Menschen Freundschaft schließen könntest. Mit mir zum Beispiel. Potapow, wenn du nur wüsstest, wie einsam ich war! Niemand wollte mit mir befreundet sein! Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, allein zu sein. Ich wurde grob und böse. Und nur das Studium der Psychologie rettete mich vor vielem Unglück im Leben. Wer weiß, wohin mich meine Wut hätte führen können! Also… Danke dir. So… irgendwie so.

Igor sah Altufew mit schuldbewusster Miene an:

– Entschuldige mich. Ich wusste nicht, dass du in Ordnung bist. Dein Aussehen war in der Tat sehr furchterregend!

Sie lächelten beide.

– Wenn ich das nur gewusst hätte… Es tut mir leid!

– Ach, lass gut sein. Du bist halt auf Stereotype reingefallen! Wenn ein Mensch groß ist und ein ernstes Gesicht hat, dann ist er bestimmt ein Rowdy. Viele haben immer noch Angst vor mir. Und ich kann nicht mal kämpfen.

Sie tauschten wieder ein Lächeln aus.

– Hör mal, – sagte Igor, – es ist mir so peinlich, aber ich kenne nicht mal deinen Vornamen. Alle nannten dich immer nur beim Nachnamen.

– Ich heiße Sergej.

– Wirklich? – Igor lachte. – Donnerwetter. Das hätte ich nie gedacht. Und ich, stellt sich heraus, hätte einen Freund Serjoga haben können!

– Hättest du! – lächelte Altufew.

– Na, da wir alles geklärt und uns gegenseitig um Verzeihung gebeten haben, können wir dann vielleicht… Wenn du nichts dagegen hast, uns treffen, Freundschaft schließen? Wenn in der Kindheit die Freundschaft nicht geklappt hat, vielleicht klappt es ja jetzt?

– Ich bin nur dafür! – antwortete Altufew lächelnd. – Werde es meiner Frau erzählen, sie wird schockiert sein.

– Meine auch, – kicherte Igor, – sie kennt dich von meinen Erzählungen her ausschließlich als Rowdy.

– Siehst du… Stereotype!

– Entschuldige, Serjoga!

– Ist nicht schlimm. Passiert!

Den Rest des Abends verbrachten sie in ungezwungenem und fröhlichem Gespräch miteinander.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
06 ноября 2025
Объем:
121 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9785006842328
Правообладатель:
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