Turnvater Jahn

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»Vielleicht sollten wir erst einmal darüber sinnieren, welche Persönlichkeit sich hinter diesem Friedrich eigentlich verbarg«, meinte Germanus Pulvermacher. »Er war ein innerlich zerrissener Mensch, Schöngeist auf der einen und Feldherr auf der anderen Seite. Und furchtbar ruhmsüchtig war er auch. Durch seine Kriege haben viele zehntausend Menschen ihr Leben verloren. Was hat er seinen Soldaten zugerufen, als sie nicht kämpfen wollten? ›Hunde, wollt ihr ewig leben?‹ Nicht sein Genie hat Preußen im Siebenjährigen Krieg gerettet, sondern das sogenannte Mirakel des Hauses Brandenburg. Es kam auch wirklich einem Wunder gleich, dass der Nachfolger der Zarin Elisabeth Frieden mit Preußen geschlossen hat.«

»Es war kein Wunder, sondern der Wille des Herrn!«, entgegnete Alexander Friedrich Jahn empört und begann, die Anwesenden mit einigen Randverfügungen des Königs zu unterhalten, die seit einiger Zeit in Preußen kursierten. »Ein Amtskollege von mir bat Friedrich um einen Zuschuss zum Unterhalt seines Pferdes. Der König notierte am Rand des Bittbriefes folgende Begründung für seine Ablehnung: Es heißt nicht: reitet in alle Welt, sondern gehet in alle Welt und predigt allen Völkern. Ein Beamter beschwerte sich schriftlich, dass er bei einer Beförderung übergangen worden sei, und Friedrich schrieb an den Rand: (…) ich habe einen haufen alte Maulesels im Stal die lange dienst machen aber nicht das Sie Stalmeisters werden. Ein Schäfer hatte in religiösem Wahn seinen Sohn umgebracht. Friedrich gab auf dem Todesurteil folgende Anweisung: Galgen und Rad bessern solche Narren nicht. Bringt den Kerl ins Tollhaus und laßt ihn dort menschlich und vernünftig behandeln.«

Friedrich Ludwig Jahn und Philipp Pulvermacher, die Söhne, hatten sich an das Fenster des Gasthauses geschlichen, um zu hören, was drinnen gesprochen wurde. Der junge Jahn war hin und her gerissen. Einerseits vergötterte er Friedrich II., andererseits nahm er ihm übel, dass er die französische Sprache über alles geliebt hatte und sie auch viel besser beherrschte als die deutsche.

Philipp Pulvermacher lachte, als Jahn im seine Gedanken mitteilte. »Hätte er etwa preußisch sprechen sollen?«

Jahn stutzte. Soweit er wusste, gab es viele Dutzend Dialekte in Deutschland, zum Beispiel Sächsisch, Bayerisch oder Schwäbisch – aber kein Preußisch, höchstens Ostpreußisch. Doch wie sich das anhörte! »Mamsall, nimm dem Kodder und jeh auf dem Lucht! Der Schmand ist ieberjeschwaddert.« Sein Vater konnte das gut nachmachen. Aber das gefiel ihm nicht. »Alle müssen richtig deutsch sprechen, so, dass man sie auch verstehen kann«, entschied er.

»Deutschland gibt es doch gar nicht wirklich«, stellte Pulvermacher fest. »Es gibt nur das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.«

»Deutschland muss es aber geben!«, rief Jahn.

»Mit Friedrich dem Großen als Kaiser«, spottete Pulvermacher.

»Mit einem Hohenzollern als Kaiser.«

Pulvermacher lachte. »Das werden sich die anderen Staaten nicht gefallen lassen.«

»Ach was! Deutschland erwache!«

»Haha!«

Die Jungen liebten trotz ihrer kleinen Meinungsverschiedenheiten nichts mehr, als Szenen aus dem Leben Friedrichs des Großen nachzuspielen, vor allem Schlachten, in denen die großen Reitergeneräle Friedrich Wilhelm von Seydlitz und Hans Joachim von Zieten gekämpft hatten. Jahn verehrte von Seydlitz und wäre gern so gewesen wie er.

Wieder einmal war auf dem Dorfanger die Schlacht bei Roßbach geschlagen worden, und die Preußen hatten die gegnerischen Truppen in die Flucht geschlagen.

Friedrich der Große, verkörpert von Philipp Pulvermacher, trat vor, um General von Seydlitz in Person von Friedrich Ludwig Jahn den Hohen Orden vom Schwarzen Adler an die Brust zu heften. »Ohne Euch wären ich und Preußen nicht mehr!«, lobte der König.

»Euch zu dienen, Majestät, ist meine einzige Berufung«, gab der General zurück.

Am meisten bewunderte Jahn Friedrich Wilhelm von Seydlitz für seine Haltung während der Schlacht von Zorndorf, die, das wusste er auf den Tag genau, am 25. August 1758 stattgefunden hatte. Auch dieses Gefecht stellten die Freunde nun nach. Die Russen unter General Wilhelm von Fermor waren kurz davor, den Preußen eine schmerzliche Niederlage zuzufügen, da sprengte eine Abordnung des Königs, dargestellt von Philipp Pulvermacher, auf Seydlitz zu, der abermals kein anderer war als Friedrich Ludwig Jahn.

»Seine Majestät befehlen augenblicklich den Angriff der Reiterei!«, ließ die Delegation verlauten.

Seydlitz gab sich gleichmütig und zog an seiner Tonpfeife. »Meine Intuition sagt mir, dass der rechte Augenblick dafür noch nicht gekommen ist.«

»Seine Majestät befehlen, und Ihr, Seydlitz, haftet mit Eurem Kopf für den Angriff!«

Seydlitz dachte nicht daran, seinen weißen Stulpenhandschuh wie eine Fahne zu heben und damit das Signal zum Angriff zu geben. »Sagt dem König, nach der Bataille gehört Ihm mein Kopf! In der Bataille brauche ich ihn noch zu Seinem Dienst.«

Seydlitz wartete auf einen günstigen Moment, überrumpelte die Russen und wendete mit einer fulminanten Kavalkade das Blatt zugunsten Preußens.

»Eigentlich war das Befehlsverweigerung«, sagte Pulvermacher, nachdem alle Soldaten, preußische wie russische, im Gras des Dorfangers lagen und ihre mitgebrachten Stullen aßen. »Friedrich hätte Seydlitz eigentlich vor das Kriegsgericht stellen müssen, so wie der Große Kurfürst den Prinzen von Homburg nach der Schlacht bei Fehrbellin.«

»Der Sieg ist alles!«, war Jahn überzeugt.

»Ist er nicht!«, entgegnete Pulvermacher. »In keiner Armee kann jeder das tun, was ihm gerade beliebt.«

So stritten sich die beiden Jungen noch eine Weile, bis Vater Jahn kam und Friedrich Ludwig auf ein Pferdefuhrwerk lud. »Wir fahren zum Rudower See, damit du endlich schwimmen lernst.« Seit Friedrich Ludwig fast ertrunken wäre und nur gerettet worden war, weil Philipp Pulvermacher ihn geistesgegenwärtig am Arm gepackt und ins flache Wasser gezogen hatte, stand der Schwimmunterricht an erster Stelle.

Der Rudower See war ein langgestrecktes Gewässer, das knapp hinter Lenzen seinen Anfang nahm und sich auf der Wittenberger Chaussee gut erreichen ließ. Hier konnte man gefahrloser üben als in der Elbe.

»Wir sind eben nicht wie Jesus«, sagte Philipp Pulvermacher, der mit auf dem Wagen saß. »Wir können nicht übers Wasser wandeln, sondern müssen schwimmen lernen.«

Pfarrer Jahn tadelte ihn sogleich mit einem Vers aus den Sprüchen Salomos: »Tue von dir den verkehrten Mund und lass das Lästermaul ferne von dir sein. Und ansonsten gilt: Mens sana in corpore sano

»In Menz wohnt eine Tante von mir«, sagte Pulvermacher. »Das liegt am Roofensee, hinten im Ruppiner Land.«

»Mens mit S hinten«, erklärte ihnen Vater Jahn. »Das ist lateinisch und bedeutet Geist. Der Sinnspruch heißt übersetzt: Ein gesunder Geist soll in einem gesunden Körper wohnen. Allerdings gefällt er mir umgekehrt besser: Nur in einem gesunden und kraftvollen Körper kann sich ein gesunder Geist entwickeln. Wisst ihr, woher unser Wort Gymnasium kommt? Vom griechischen Gymnasion. Das war der Ort, an dem die Athleten für die Wettkämpfe geübt haben.«

Endlich konnte Friedrich Ludwig richtig schwimmen, aber erst, nachdem ein alter Grönlandfahrer als Lehrmeister angeheuert worden war. Das Reiten brachten ihm Ulanen bei, bewaffnete Reiter, die ihre Pferde auf den Lanzer Weiden grasen ließen. Laufen und Klettern steckte den Dorfkindern ohnehin im Blut, und sie taten es von sich aus zur Genüge. Jahn war den anderen überlegen, weil er einmal den Affen zugesehen hatte, die vom mecklenburgischen Herzog im Schloss zu Ludwigslust gehalten wurden. Von denen konnte man viel lernen. Bei Jahn kam aber noch eine ganz besondere Art von Kraftübungen hinzu. Er half dem Vater regelmäßig bei der landwirtschaftlichen Arbeit. Das ließ die Muskeln wachsen. Doch damit nicht genug. »Der Mensch ist ein Lauftier«, pflegte der Vater zu sagen, und so oft es eben ging, nahm er den Sohn zu ausgedehnten Wanderungen mit. Unterwegs übte man Stellen aus der Bibel, insbesondere aussagekräftige Psalmen. Der Vater sprach die ersten Worte, Friedrich Ludwig musste fortfahren.

»Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn …«

»… er wird’s wohl machen.«

»Gut! Siehe, ich liebe deine Befehle …«

»… Herr, erquicke mich nach deiner Gnade.«

Im Jahre 1787 schien der Herr dieser Bitte nicht nachzukommen, denn Friedrich Ludwig Jahn litt plötzlich unter starken Schmerzen im Kreuz, bekam hohes Fieber und einen so starken Schüttelfrost, dass ihm die Zähne klapperten. Dann zeigten sich am ganzen Körper Eiterbläschen, die schließlich aufplatzten und einen unangenehmen Geruch verbreiteten.

»Er hat die Blattern«, diagnostizierte der Arzt aus Lenzen. Aber dass es die Pocken waren, hatte man im Pfarrhaus auch vorher schon gewusst.

»Wie ernst ist es?«, fragte der Vater.

»Hm … «, machte der Arzt, und das zeigte, dass es nicht gut aussah für Friedrich Ludwig. Erblindung, Verlust des Gehörs, Lähmungen und Hirnschäden drohten. Schlimmstenfalls der Tod.

Der Mensch wird durch die Verachtung mehr gerührt, als durch Verabscheuung oder Hass. Verachtung ist für die Menschen am allerunerträglichsten. Wenn ein Mensch gehasset wird, so kann er es doch noch ertragen, weil sich doch noch andere seinetwegen inkommodieren und sich ärgern, wird er aber verachtet; so inkommodiert sich kein Menschen seinetwegen, er ist ihm ganz gleichgültig, und er frägt gar nichts nach ihm.

Der Mann, der Friedrich Ludwig Jahn und Philipp Pulvermacher diesen Text von Immanuel Kant mehrmals hintereinander vorlas, war ihr neuer Hauslehrer. Nachdem Friedrich Ludwig von den Blattern glücklicherweise vollkommen genesen war, hatte sich der Vater mit Germanus Pulvermacher zur Beratung zusammengesetzt. Eine allgemeine Schulpflicht gab es noch nicht, und die gemeine Dorfschule von Lanz wollten sie ihren Kindern nicht zumuten. So hatten sie die Söhne zunächst selbst unterrichtet und auch die Mütter zu deren Belehrung herangezogen, nun aber merkten sie, dass ihr Wissen und vor allem ihre Zeit nicht ausreichten. Ihre Wahl war auf Friedlieb Schmellwitz gefallen, der aus Wittenberge kam und mehrere Jahre lang Philosophie und die Geschichte der Antike studiert hatte, ohne einen Abschluss in der Tasche zu haben. Er beschäftigte sich am liebsten mit Kant, weshalb er seine beiden Zöglinge auch gehörig mit dessen Schriften traktierte.

 

»Was fällt euch ein, wenn ihr den Text über die Verachtung hört, den ich euch gerade vorgelesen habe?«, fragte Schmellwitz.

Jahn meldete sich als Erster. »Dass ich nicht weiß, was inkommodiert heißt.«

»Das kommt vom lateinischen Verb incommodare, was ›beschwerlich fallen‹ bedeutet. Sich inkommodieren übersetzen wir am besten mit ›sich Mühe machen‹.«

»Warum sagt Kant das nicht gleich auf Deutsch?«, empörte sich Jahn. »Er kommt doch aus Königsberg.«

Die Augen des Hauslehrers begannen zu leuchten. »Du sprichst mir aus dem Herzen. Wir brauchen eine einheitliche Muttersprache, damit unsere vielen kleinen Staaten zu einem großen Ganzen zusammenwachsen. Hinweg mit Latein und Französisch!«

In den nächsten Tagen übte der Hauslehrer mit seinen beiden Schüler das Eindeutschen. »Repartie

»Geistesgegenwärtige Antwort.«

»À tout prix

»Um jeden Preis.«

Auf diese Weise begann Jahn zwar auch, französisch zu lernen, viel wichtiger war aber die Beschäftigung mit der deutschen Sprache.

Auch ließ Schmellwitz keine Stunde vergehen, in der er nicht beklagte, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein großer Flickenteppich aus kleinen und kleinsten Staaten sei. »Wie sollen wir unter diesen Umständen jemals Geltung in der Welt erlangen?«

Pulvermacher nahm ihn auf die Schippe. »Sagen Sie ruhig, dass wir eine quantité négligeable sind!«

»Eine Größe, die vernachlässigbar ist«, übersetzte der Hauslehrer mit bösem Blick.

Jahn fand den Zustand Deutschlands, Österreich dazugerechnet, wie Schmellwitz unerträglich. Täglich hatte er das Elend direkt vor Augen. Lanz und die Prignitz waren preußisch, nebenan lag das kleine Herzogtum Mecklenburg, das kaum lebensfähig war, und jenseits der Elbe dehnten sich mehrere kleinere Staaten und Kurhannover aus, das in Personalunion mit Großbritannien verbunden war. Und begleitete er Germanus Pulvermacher, wenn der Hopfen an die Küste, nach Wismar, lieferte, dann betrat er schwedisches Hoheitsgebiet.

Über die Situation im Raume Thüringen und Sachsen machte sich Schmellwitz immer wieder lustig. »Dort gibt es das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, das Herzogtum Sachsen-Meiningen, das Herzogtum Sachsen-Altenburg, das Fürstentum Reuß Ältere Linie und das Fürstentum Reuß Jüngere Linie.«

So ging es mit dem Unterricht durch den Hauslehrer Schmellwitz bis ins Jahr 1791 hinein, dann aber wurde das schmächtige Männlein durch Vermittlung eines Freundes zum Rektor einer Schule in Neustadt (Dosse) berufen, und in Lanz musste man sich etwas Neues einfallen lassen.

»Ich denke, dass die Knaben nun auf eine richtige Schule gehören«, sagte Vater Pulvermacher. »Sonst verweichlichen sie nur und werden im Leben nichts Rechtes.«

»Dann fragen wir unsere Söhne am besten selbst, welchen Weg sie einschlagen wollen.«

»Ich möchte einmal Advokat werden«, erklärte Friedrich Ludwig Jahn. »Damit ich armen Bauern helfen kann, denen Unrecht geschehen ist.«

»Und ich möchte Professor für die Geschichte der Antike und Philosophie werden«, sagte Philipp Pulvermacher.

Die beiden Väter sahen sich an und waren sich einig, ohne noch ein weiteres Wort zu wechseln, dass die beiden Jungen aufs Gymnasium gehörten. Es bot sich die Schule in Salzwedel an.

2

Das Strafbuch füllt sich

1791 – 1794

Das Gymnasium in Salzwedel war stolz genug, nicht jeden Jungen aufzunehmen, der von seinen Eltern zum Unterricht angemeldet wurde. Die Kandidaten hatten sich zwar keiner hochnotpeinlichen Befragung zu unterziehen, doch die Aufnahmeprüfung war nicht leicht.

Der Rektor hieß Christian Wolterstorff, war ein hochgebildeter Mann, Lehrer und Prediger zugleich, beherrschte das Hebräische und das Griechische und gebrauchte diese Sprachen auch, wenn er am Gymnasium das Neue Testament abhandelte. Seine Laufbahn hatte er 1778 am Collegium Fridericianum in Königsberg begonnen, war 1782 Schulleiter in Memel geworden und 1785 nach Salzwedel gekommen.

Als er Friedrich Ludwig Jahn zur Aufnahmeprüfung eintreten sah, dachte er als Erstes: Bauernlümmel! Wer so stämmig war und so vor Kraft strotzte, der konnte nichts im Kopfe haben. Ein bisschen durchgeistigt sollte ein Junge schon aussehen, wenn er aufs Gymnasium wollte. Wahrscheinlich hätte Wolterstorff den Knaben gleich wieder Hause geschickt, wenn er nicht mit dessen Vater ein wenig befreundet gewesen wäre. »Nun gut, nehmt Platz!«, sagte er schließlich nicht unfreundlich, aber doch ziemlich distanziert. »Beginnen wir mit der Heiligen Schrift. Da werdet Ihr als Pfarrerssohn wohl einigermaßen sicher sein. Wo finden wir in der Heiligen Schrift zum ersten Mal die zehn Gebote?«

»Im 2. Buch Mose, 20. Kapitel. Am Anfang steht: Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollt keine anderen Götter haben neben mir. Das zweite Gebot heißt: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen. Dann kommt: Du sollst den Feiertag heiligen, Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren …«

»Danke, das genügt.« Der Pfarrer in Lanz hatte gute Vorarbeit geleistet. Wolterstorff hätte also beruhigt sein können, aber sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Friedrich Ludwig Jahn aufsässig war und er sich vor ihm in Acht nehmen musste. Der Rektor war zwar zu gutmütig, um Jahn allzu schwierige Fragen zu stellen, hätte ihn aber gern scheitern gesehen. Von diesem Wunsch getrieben, diktierte er ihm einen kurzen Text, der für einen Dreizehnjährigen eigentlich viel zu schwer war, und auch die Rechenaufgaben, die er ihm stellte, waren eher für Sekundaner als für Quintaner gedacht. Prompt gelang es Jahn nicht, die Aufgaben zu lösen, und auch in der Rechtschreibung machte er zu viele Fehler. »Diese Leistungen reichen nicht, mein Lieber.«

»Ich bin hier, um das alles zu lernen«, sagte Jahn ebenso selbstsicher wie treuherzig.

Wolterstorff hatte nun ein schlechtes Gewissen, auch dem Lanzer Amtsbruder gegenüber, und baute Jahn eine Brücke. »Was meint Ihr, Friedrich Ludwig, wo Eure Stärken liegen?«

Jahn musste nicht lange überlegen. »Ich kenne mich nicht nur in der Bibel sehr gut aus, sondern auch in der Geschichte.«

»Dann sagt mir doch bitte, seit wann wir in Preußen einen König haben!«

»Seit 1701«, antwortete Jahn, ohne zu zögern. »In diesem Jahr hat sich der Markgraf Friedrich III. von Brandenburg in Königsberg selbst zum König in Preußen gekrönt. Im Volke hieß er wegen seiner schiefen Schulter der Schiefe Fritz. Die Hebamme hatte ihn unglücklich auf die Erde fallen lassen.«

»Sehr gut, mein Junge. Und was hat sich bei Fehrbellin Großes zugetragen?«

Wieder musste Jahn nicht lange überlegen. »Im Sommer 1675 hatten die Schweden Teile Brandenburgs besetzt. Ihr Befehlshaber war Feldmarschall Wolmar von Wrangel. Die brandenburgischen Truppen unterstanden dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm und dem Generalfeldmarschall Georg von Derfflinger. Der Prinz von Hessen-Homburg und der Oberleutnant Hennigs haben die Schweden schließlich mit ihrer Reiterei in die Flucht geschlagen.«

Unter diesen Umständen konnte Wolterstorff die Aufnahme auf das Gymnasium nicht verweigern, eine Ablehnung hätte ihm sein Amtsbruder in Lanz nie verziehen. Zumal seine Animosität Friedrich Ludwig Jahn gegenüber lediglich auf einem unguten Gefühl beruhte und sich formal nichts gegen den neuen Zögling einwenden ließ. Also notierte er am 8. Oktober 1791:

D. VIII. M. Octobris Johannes Fridericus Ludovicus Christopherus Jahn, ecclesiae Lanzensis filius, anno aetatis XIII in Cl. II receptus.

Das hieß, dass Jahn in die zweite Klasse, die Quinta, des Gymnasiums Salzwedel aufgenommen worden war.

Salzwedel lag im Nordosten der Altmark, an der Mündung der Salzwedeler Dumme in die Jeetze, einen Nebenfluss der Elbe. Die Stadt war an der Stelle der alten Salzstraße entstanden, an der eine Furt durch die gar nicht einmal so schmale Jeetze führte. Als Gründer galt Albrecht der Bär, der die nahe gelegene Burg Salzwedel hin und wieder bewohnt hatte. Die Stadt gehörte später, vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert, zur Hanse und gelangte so zu einiger Blüte.

Durch Salzwedel nun liefen Friedrich Ludwig Jahn und Philipp Pulvermacher und fühlten sich wie ausgewilderte Tiere, die sich neugierig, aber auch ein wenig ängstlich mit ihrem neuen Terrain vertraut machten. Natürlich hätte keiner von beiden zugegeben, dass ihnen ein wenig bange war – Jahn am allerwenigsten. Es war gut, dass die Freunde sich aneinander festhalten konnten. Einen Wermutstropfen gab es allerdings, denn der Rektor Wolterstorff hatte sie in zwei verschiedene Klassen gesteckt: Jahn in die Quinta und Pulvermacher in die nächsthöhere Jahrgangsstufe, die Quarta, wohl, weil er ein paar Monate älter war. Womöglich fürchtete Wolterstorff aber auch, die Freunde könnten im Doppelpack die Gemeinschaft der Alteingesessenen gefährden.

Da Friedrich Ludwig und Philipp Wittenberge und Wismar kannten, imponierte ihnen Salzwedel nicht sonderlich, obwohl die Stadt mit St. Marien, St. Katharinen, St. Lorenz und der Mönchskirche immerhin vier stattliche Gotteshäuser zu bieten hatte. Dazu kamen die wunderschönen Fachwerkhäuser in der Altstadt, das Rathaus, die Stadttore, die mittelalterlichen Befestigungen und die Burg. Vom Burggarten aus sahen die beiden Freunde auf die Stadt hinunter.

»Was hat Salzwedel mit Lanz gemeinsam?«, fragte Pulvermacher.

Jahn überlegte lange. »Auch hier wohnen nur Menschen.«

»Das auch, aber vor allem schreibt man beide mit Z.«

Als sie durch die Straßen gingen, schaute Pulvermacher jeder Frau, die ihnen entgegenkam, aufmerksam ins Gesicht.

»Was soll denn das?«, fragte Jahn.

»Ich suche die berühmte Salzwedeler Dumme.«

»Mensch!«, lachte Jahn. »Das ist der Name eines Flusses, er bedeutet so viel wie Eichenbach. Dumme kommt vom altslawischen Wort dabu, was für Eiche steht.«

»Das kannst du einem Dummen erzählen, aber mir nicht.«

»Mein Vater hat es mir so erklärt.«

Bald hatten sie ihre Unterkunft beim Leinenweber Witte erreicht. Ihr Zimmer war zwar nicht gerade feudal, dafür hatten ihre Eltern aber nur wenig Kostgeld zu zahlen. Die beiden Väter waren, nachdem sie ihre Söhne in Salzwedel abgeliefert hatten, nach Lanz zurückgekehrt.

Am nächsten Morgen ging es zum ersten Mal in die Schule. Das Gymnasium lag vor dem Lüchower Tor und war schnell erreicht. Für Jahn ließ sich alles gut an.

»Herzlich willkommen in unseren Reihen!«, empfing ihn Johann Jacob Schönpflug, der in der ersten Stunde unterrichtete und auch gleich reimte: »Friedrich Ludwig, der Du bist aus Lanz/​Verleihe unserer Quinta von nun an neuen Glanz!«

Alexander Friedrich Jahn war zufrieden, dass es sein Sohn mit dem Salzwedeler Gymnasium so gut getroffen hatte, und nutzte die Zeit, die er sonst immer mit dem Unterricht verbracht hatte, zu Ausflügen nach Perleberg und Wittenberge, vor allem aber nach Lenzen, das für Lanz eine Art Sonne war, um die man kreiste. Es war der Kirchenmusiker Caspar Movius, der den Pfarrer Jahn nach Lenzen zog. Movius war hier am 26. Oktober 1610 zur Welt gekommen und hatte es zu einigem Ruhm gebracht. Die Hymnodia Sacra und die Psalmodia Sacra Nova, seine ersten Sammlungen geistlicher Vokalmusik, waren um 1635 entstanden, später war das Werk Triumphus Musicus Spiritualis hinzugekommen. Über diesen Mann wollte Alexander Friedrich Jahn eine kleine Schrift verfassen. Er verbrachte etliche Stunden im Archiv, um aber bald feststellen zu müssen, dass wohl in Greifswald, Rostock und Stralsund, wo Movius studiert und als Schulmann gewirkt hatte, mehr über ihn zu finden sein würde als in seiner Geburtsstadt.

 

So saß er am Nachmittag ziemlich ernüchtert in einem Gasthof in der Nähe des neuen Rathauses. Das war erst 1713 errichtet worden, nachdem einer der vielen Stadtbrände das alte zerstört hatte. 1756 war es mit einer Turmuhr versehen worden, die allerdings nur einen Stundenzeiger besaß. Jahn konnte also nur in etwa erahnen, wie spät es war. Es mochte halb fünf nachmittags sein, als ihn eine Frau durch das Fenster zur Straße hin erkannte und eintrat, um mit ihm zu reden.

»Herr Pfarrer, darf ich einen Moment stören? Ihr habt einmal unseren Pastor hier vertreten, daher kenne ich Euch. Ich höre überall viel Gutes über Eure Arbeit.«

»Bitte, nehmt Platz!« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht.

Die Frau stellte sich als Clara Collmitz vor, Witwe des verstorbenen Elbschiffers Martin Collmitz. »Ich habe mehrere Kinder«, begann sie. »Alle sind sie gut geraten, nur Luise ist dabei, ein liederliches Frauenzimmer zu werden. Sie ist mit einem Galan nach Berlin gegangen, und ich fürchte, dass sie da in einem … na, Ihr wisst schon … landen wird.« Das Wort Freudenhaus wagte sie nicht auszusprechen. »Da Ihr öfter in der Residenz zu tun habt, wollte ich Euch bitten, nach Luise zu sehen und sie nötigenfalls auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.«

»Von Herzen gern.«

Anfang März 1792 reiste Alexander Friedrich Jahn das nächste Mal nach Berlin, denn am 8. März war einer seiner Freunde an hitzigem Brustfieber gestorben. Es handelte sich um den Theologen Friedrich Germanus Lüdke, seines Zeichens Diakonus und Archidiakonus an der Nikolaikirche. Alexander Friedrich Jahn war einen Tag vor der Beerdigung angereist und hatte so noch Zeit, sich ein wenig in der Stadt umzusehen.

Als Cicerone wünschte er sich keinen Geringeren als Karl Philipp Moritz, Professor für die Theorie der schönen Künste an der Akademie der Künste und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Seinen Werdegang hatte er einem Freund der Familie Alexander Friedrich Jahns zu verdanken, ebenfalls Pfarrer, der Moritz’ Begabung erkannt und ihm nach einer gescheiterten Lehre als Hutmacher den Besuch eines Gymnasiums in Hannover ermöglicht hatte. Durch diesen Freund kannten sie sich. Seit kurzem war Karl Philipp Moritz dabei, eine richtige Berühmtheit zu werden, denn sein Roman Anton Reiser war in aller Munde.

Als Alexander Friedrich Jahn ihn in seinem Gartenhaus in der Münzstraße abholen wollte, traf er Moritz in einem recht bedauernswerten Zustand an. Die Haushälterin hatte zuerst versucht, den Besucher abzuwimmeln. »Der Herr Professor sieht es äußerst ungern, wenn er durch einen bloßen Komplimentenbesuch bei seiner Arbeit gestört wird.«

»Ich werde die berühmte Ausnahme sein.« Alexander Friedrich Jahn hatte seinen Namen genannt und gebeten, gemeldet zu werden.

Als er endlich eintreten durfte, fand er Moritz auf seinem Sofa ausgestreckt, halbnackt. Der Schriftsteller hustete anhaltend. »Das ist nichts Schlimmes«, erklärte Moritz, nachdem er sich ein wenig aufgerichtet und Jahn begrüßt hatte. »Ich habe nur die Schwindsucht. Das passiert ausgerechnet mir, wo ich doch einige Semester Medicin studiert habe! Ich will sogar bald meine Christiane Friederike heiraten. Schließlich bin ich erst 36 Jahre alt. Eine Menge schreiben will ich auch noch.«

»Ich wünsche Euch Gottes Segen auf all Euren Wegen«, sagte Pfarrer Jahn und setzte sich auf einen wackligen Stuhl, der weit genug vom Hustenden entfernt war. »Der Anton Reiser ist Euch übrigens vorzüglich gelungen.«

Moritz lächelte. »Danke, wenn auch die Kritiker sagen, der Roman stehe in der Tradition von Goethes Werther

»Das ist doch ein Lob!«

»Und zugleich der Vorwurf, dass mir nichts wahrhaft Originelles eingefallen sei.«

»Das stimmt nicht«, erwiderte Alexander Friedrich Jahn. »Ich habe den Eindruck, der Roman ist in weiten Teilen autobiographisch. Der junge Anton ist begabt – wie Ihr. Sein Lehrherr ist ein Hutmacher – wie Euer einstiger Meister. Er leidet an der Enge seiner Umgebung, bricht aus und flüchtet sich in die Welt des Theaters – nicht anders als Ihr.«

Karl Philipp Moritz schmunzelte. »Es scheint, als hättet Ihr mich durchschaut. Ich denke gern an die Zeit zurück, in der ich mich als Schauspieler versucht habe. Schauspieler sein heißt, sich selbst zu erforschen, sich selbst darzustellen, voller Empfindsamkeit zu sein.«

Pfarrer Jahn kam auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. »Ich hatte gedacht, wir flanieren zusammen ein wenig durch die Residenzstadt.«

»Das ist leider ausgeschlossen. Der März ist noch kein Monat, in dem ich meine Lunge dem kalten Wind aussetzen möchte.«

Es wurde ein trauriger Abschied, denn Alexander Friedrich Jahn spürte, dass Karl Philipp Moritz wohl bald vom Herrn in die Ewigkeit heimgeholt werden würde.

Da auch andere Bekannte unabkömmlich waren, sah er sich gezwungen, allein durch die Straßen zu gehen und nach neuerrichteten Gebäuden Ausschau zu halten. Als Erstes stach ihm die seit 1786 geschlossene Académie militaire ins Auge, wo junge Edelleute erzogen worden waren. Auch das Haus der Gebrüder Ephraim an der Ecke Poststraße und Mühlendamm fand sein Wohlgefallen. Was ihm als Pfarrer besonders gefiel, war das auf Kosten des Königs neugebaute Predigerwitwenhaus in der Nähe des Neuen Marktes. Als Prunkstück empfand er auch die Königsbrücke, die nach Plänen von Carl Philipp Christian von Gontard umgebaut und 1780 eingeweiht worden war. Die Krönung bildeten natürlich Schloss und Schlossplatz und die Straße Unter den Linden mit dem Zeughaus, dem Palast des Prinzen Heinrich, dem Opernhaus und der Königlichen Bibliothek. Hier, so schien es Alexander Friedrich Jahn, konnte Berlin schon ein wenig mit Wien konkurrieren, wenn auch noch nicht ganz mit Rom, Paris oder London. Dazu waren Berlin und Preußen einfach zu arm.

Den Abend verbrachte er bei einem Bekannten in der Brüderstraße, in dessen privaten Räumen die vor knapp einem Jahr von Carl Friedrich Christian Fasch gegründete »Singe-Academie zu Berlin« probte. Fasch, Sohn eines Barock-Komponisten, war aus Zerbst nach Berlin gekommen und hatte es bei Friedrich dem Großen zum Hofcembalisten und Hofkapellmeister gebracht. Im September 1791 hatte er in der Marienkirche mit seinem Chorwerk zum 51. Psalm – Miserere Mei – viel Furore gemacht. Erstmals hatten Männer und Frauen Seite an Seite in einem Chor gesungen. Der A-capella-Klang fand großes Gefallen bei den Menschen, auch Alexander Friedrich Jahn war davon sehr angetan.

Am nächsten Vormittag ging es zur Trauerfeier hinaus zum Friedhof am Halleschen Thor. Die Trauerrede hielt ein Propst, dessen Namen Jahn nicht behalten hatte. Das Gesagte erschien ihm auch recht dröge. »Friedrich Germanus Lüdke hat vieles veröffentlicht, herausragend aber ist seine Schrift Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit aus dem Jahre 1774, in der er mit philosophischer Bestimmtheit den Unterschied zwischen wahrem und falschem Religionseifer hervorhebt. Seine liberalen Mitmenschen aber lobten ihn vor allem für sein 1772 erschienenes Communionbuch. Mit einer anrührenden, das Herz ergreifenden Sprache breitet er darin seine Wahrheiten über das heilige Abendmahl aus. Wir gehen nicht fehl, wenn wir Friedrich Germanus Lüdke als einen der bedeutendsten evangelischen Theologen der Aufklärung bezeichnen.«

»Was man von mir nicht gerade behaupten kann«, murmelte Alexander Friedrich Jahn – und erschrak, denn Ruhmessucht hatte er bisher noch nicht an sich festgestellt.

Als die Trauergäste die Friedhofskapelle verließen und dem Sarg in langer Reihe zum ausgehobenen Grab hin folgten, trat ihm jemand in die Hacken. »Oh, Pardon!«

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