Turnvater Jahn

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Jahn fuhr herum – und hätte fast laut ausgerufen: »Der Gedike, so eine Überraschung!« Er kannte Friedrich Gedike seit Jahren, denn der entstammte einer alten Theologenfamilie aus der Prignitz. Sie hatten sich aber aus den Augen verloren.

»Was macht Ihr hier?«, fragte Alexander Friedrich Jahn flüsternd. »Ihr seid doch zuletzt in Züllichau und Frankfurt an der Oder gewesen.«

»Inzwischen bin ich in Berlin Schuldirektor am Friedrich-Werderschen Gymnasium und Oberkonsistorialrath. Aber lasst uns später weiterreden!«

Nach der Trauerfeier setzten sie sich zusammen, um über die Prignitz und gemeinsame Freunde zu plaudern. Jahn kam auch auf Lenzen zu sprechen, und dabei fiel ihm wieder ein, dass er der Witwe Clara Collmitz versprochen hatte, in Berlin ihre Tochter Luise aufzusuchen. Er schilderte Gedike den Fall.

Der nickte. »Gerade hat man im Rathaus eine Verordnung wider die Verführung junger Mädchens zu Bordels und zur Verhütung der Ausbreitung venerischer Übels erlassen, denn immer häufiger werden einfältige Mädchen mit vielfältigen Versprechen nach Berlin gelockt, um dann hier in Freudenhäuser gebracht zu werden.«

»Wo befinden sich diese Etablissements?« Alexander Friedrich Jahn errötete bei dieser Frage. Er befürchtete, dass Gedike glaubte, er wolle später selbst eines dieser Häuser frequentieren.

»Es gibt eine Gasse zwischen der König- und der Klosterstraße, in der die bedauernswerten Geschöpfe in armseligen Häusern ihrem Gewerbe nachgehen.«

Dem Pfarrer Jahn war das Thema peinlich, und um nicht in Versuchung geführt zu werden, flüchtete er sich in die Bibel. »Wie steht es im 1. Buch Mose geschrieben? Über drei Monate ward Juda angesagt: Deine Schwiegertochter Thamar hat gehurt; dazu siehe, ist sie von der Hurerei schwanger geworden. Juda sprach: Bringt sie hervor, dass sie verbrannt werde

Gedike wollte sich nicht lumpen lassen und zitierte aus dem 3. Buch Mose: »Wenn eines Priesters Tochter anfängt zu huren, die soll man mit Feuer verbrennen; denn sie hat ihren Vater geschändet.«

Alexander Friedrich Jahn fuhr auf. »Nicht, was Ihr denkt! Luise ist nicht meine Tochter, sondern wirklich die der Witwe Collmitz, und ich bin – so wahr mir Gott helfe! – gewisslich nicht der Vater.«

Gedike schmunzelte. »Wer sich schon verteidigt, ohne dass er angeklagt wurde … Aber Spaß beiseite. Machen wir uns gemeinsam auf zur Stätte der Unzucht!«

»… und führe uns nicht in Versuchung«, murmelte Jahn.

Nun, an Versuchung war nicht zu denken, als sie sich in der Gasse Hinter der Königsmauer umsahen. Zu unansehnlich waren die elenden Damen, die dort ihren Körper verkauften. Pfarrer Jahn dachte ein wenig neidvoll an die Kaiser und Könige, die sich hübsche Mätressen leisten konnten. Dirne Minna, die wegen ihres Holzbeins sehr billig zu haben war, hatte sich beim Anblick der beiden gutsituierten Herren einige Einkünfte versprochen und war bitter enttäuscht, als sie lediglich nach einer gewissen Luise Collmitz gefragt wurde. »Klar kenn ick die. Aba det kostet wat, wenn ick Eure Exzellenz wat über se verrate.«

»Nun gut.« Alexander Friedrich Jahn hatte Mitleid und öffnete seinen Geldbeutel.

Minna machte einen Knicks. »Verbindlichsten Dank, Eure Hoheit. Und wat Luisen betrifft, so hat die jetzt ’n Galan, ’n Schauspiela inne Neue Commandantenstraße.«

Die beiden Männer bedankten sich und machten sich auf den Weg in die Friedrichstadt. Alexander Friedrich Jahn kannte dort nur das Königliche Nationaltheater am Neuen Markt, dem späteren Gensdarmen-Markt, das der Baumeister Johann Boumann in den 1770er Jahren auf Befehl Friedrichs des Großen ursprünglich als Französisches Komödienhaus errichtet hatte.

»In den letzten Jahren hat es bei uns in Berlin eine Flut von neugegründeten privaten Theatern gegeben«, erklärte ihm Gedike. Gerade bei den niederen Volksklassen seien sie in Mode gekommen, und man zeige fast ausschließlich niveaulose bis zotige Komödien. »Das bringt die Obrigkeit in Rage, geht doch damit die formende Kraft des Königlichen Nationaltheaters verloren.«

Oft waren es Tabagien- und Tanzbodenbetreiber, die ihre Säle den Privattheatern zur Verfügung stellten, und so war es auch in der Neuen Commandantenstraße. Viele fröhliche Handwerker und Dienstboten hatten sich dort mit ihren Angebeteten versammelt, als Alexander Friedrich Jahn und Friedrich Gedike eintraten und nach Luise Collmitz fragten.

»Die steht inne Küche und brät Buletten«, gab man ihnen Auskunft.

Als Luise Alexander Friedrich Jahn in der Tür stehen sah, erschrak sie zwar ein wenig, fing sich aber schnell wieder. »Ick weiß, Ihr seid der Herr Pfarrer aus Lanz. Bestimmt schickt meine Mutter Euch, damit ich wieder nach Hause komme.« Aber nein, sie kehre nicht zurück, sie wolle etwas vom Leben haben und nicht in Lenzen versauern. Ihr Johannes sei ein wunderbarer Schauspieler, mit dem sie bald durch ganz Deutschland ziehen werde, denn er gehöre auf die großen Bühnen dieser Welt.

Was sollte der Pfarrer darauf erwidern? Natürlich zog es alle jungen Menschen, die lebenshungrig und wagemutig waren, aus den Nestern in die großen Städte. Sie ließen sich wie die Motten vom Licht anziehen. Aber die meisten Motten verbrannten im Licht. Mit Schrecken kam Alexander Friedrich Jahn in den Sinn, dass sein Sohn auch ein Charakter sein könnte, der das Landleben verachtete und lieber als Fallensteller nach Amerika gehen würde, als die Tradition der Jahns fortzusetzen und Pfarrer zu werden. Was Friedrich Ludwig wohl in diesem Moment tat?

Friedrich Ludwig Jahn hatte in ebender Minute, in der sein Vater intensiv an ihn dachte, Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser zu lesen angefangen. Im Karzer des Salzwedeler Gymnasiums.

Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, dass gerade jeder Versuch darin glücken muss – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.

Friedrich Ludwig Jahn ließ das Buch sinken. Er war sich nicht ganz im Klaren darüber, was er über diese ersten Sätze denken sollte. Einerseits hielt er sie für schöngeistiges Gewäsch, andererseits aber erschienen ihm Vorstellungen von einem Blick der Seele, den man schärfen konnte, und einem individuellen Dasein, das es wichtiger zu machen galt, durchaus beachtenswert.

Blickte er auf sein Leben in Salzwedel, so war ihm, als hätte man ihn in ein Zuchthaus gesteckt. Gehorsam, Disziplin und Unterordnung standen im Gymnasium weit vor dem Wissenserwerb. In den meisten Unterrichtsstunden fühlte er sich wie auf einem preußischen Exerzierplatz. So etwas kannte er nicht, denn sein Vater wie der Hauslehrer Schmellwitz waren überaus mild gewesen, und beide hatten Rücksicht auf seine Fähigkeiten und Vorlieben genommen. Hier im Gymnasium trugen die Lehrer das vor, was sie selbst für wichtig hielten und womit sie ihrer Meinung nach glänzen konnten. Oder aber sie arbeiteten einfach stur das ab, was ihnen der Rektor vorgegeben hatte. Sich in diese Ordnung einzufügen war für Jahn unmöglich. Immer wieder lehnte er sich auf. Manchmal auch auf eine recht ungewöhnliche Art und Weise. So wie dieses Mal. Er hatte die Szene noch deutlich vor Augen.

Sein Mitschüler Johannes von Jeggesleben hatte sich gemeldet, um ihn zu verpetzen. »Herr Helffensfrieder, Friedrich Ludwig ist eingeschlafen und fängt gerade an zu schnarchen.«

Der Lehrer war zu Jahns Bank geeilt und hatte ihn hochgerissen. »Jahn, seid Ihr wirklich eingeschlafen!?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich mich so gelangweilt habe.«

Das hatte einen neuen Eintrag ins Strafbuch gegeben und ihm eine weitere Stunde Karzer beschert. Natürlich hatte er nicht wirklich geschlafen, sondern nur so getan. Helffensfrieder hatte ihnen die großen Dichtungen dieser Welt nahebringen sollen, stattdessen aber seine eigenen kümmerlichen Poeme vorgetragen und sich dabei fürchterlich gespreizt. Jahn war das mächtig auf die Nerven gegangen, und so hatte er sich schlafend gestellt, um dem Lehrer zu zeigen, was von ihm zu halten war.

Als der Pedell den Karzer wieder aufschloss und Jahn in die Freiheit entließ, war es später Nachmittag geworden. Jahn sehnte sich nach Lanz und dem Pfarrhaus. Jetzt wäre es Zeit gewesen, noch eine Stunde mit dem Vater durch die Gegend zu streifen und Bibelverse zu ergänzen.

»Wer seine Missetat leugnet, dem wird es nicht gelingen …« – »… wer sie aber bekennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen.«

Er hatte seine Missetat nicht geleugnet und würde sich nicht ein zweites Mal schlafend stellen, um einen unfähigen Pädagogen zu ärgern, also brauchte er sich keine Sorgen um sein Seelenheil zu machen. Außerdem war er im Recht, denn einen Lehrer wie Helffensfrieder hätte man niemals auf die Quintaner loslassen dürfen.

Manchmal dachte Jahn daran, das Gymnasium zu verlassen und nach Hamburg zu gehen, um Schiffsjunge zu werden. Auch Friedrich der Große hatte flüchten wollen, weil er sein eingeengtes Leben nicht mehr ertragen hatte.

 

Philipp Pulvermacher versuchte immer wieder, ihm solche Gedanken auszureden. »Friedrich der Große ist damals Kronprinz gewesen, was du nicht bist. Außerdem ist er vor seinem Vater davongelaufen, und du liebst und verehrst den deinen. Mir scheint, du willst nur vor dir selbst davonlaufen – aber wie soll das gehen?«

Jahn sah zwar ein, dass der Freund recht hatte, lehnte sich aber weiterhin auf. Das führte dazu, dass er in der Quinta bald ziemlich isoliert war und täglich heftige Gefechte mit seinen Lehrern und seinen Mitschülern ausfocht. Am häufigsten stritt er sich mit Johannes von Jeggesleben, einem hochnäsigen Adelsspross, der ihn als Bürgerlichen verachtete und für einen Bauerntölpel hielt.

»Ich bin kein Bauernsohn«, wandte Jahn ein. »Mein Vater ist Pfarrer.«

Von Jeggesleben lachte. »Das mag sein, aber er hat trotzdem Kühe im Stall und baut Hopfen an.«

»Das ist unmöglich!«, ließ sich Hans Christian Packebusch vernehmen, Sohn eines reichen Kaufmanns und das Alphatier in der Quinta. »Sonst wäre doch bei Friedrich Ludwig nicht Hopfen und Malz verloren.«

»Was will der eigentlich hier bei uns?«, fragte Peter Paul Stampeel, der aus einer der großen Salzwedeler Familien kam, und reimte in bester Helffensfrieder’scher Manier: »Zurück mit dir ins Kuhkaff Lanz,/​hier hast du nichts zu suchen!/​Sonst kappen wir noch deinen Schwanz,/​und du wirst uns bis in alle Ewigkeit verfluchen.«

Da konnte sich Jahn nicht mehr zurückhalten und versetzte von Jeggesleben, der direkt vor ihm stand und am lautesten gelacht hatte, einen solch heftigen Schlag auf die Nase, dass das Blut nur so spritzte.

»Warum habt Ihr das getan?«, fragte ihn Christian Wolterstorff, der Rektor, als der Vorfall zur Untersuchung kam.

»Ich wollte wissen, ob sein Blut wirklich blau ist«, antwortete Jahn.

Darauf folgten gleich zwei dicke Einträge ins Strafbuch, einer für den Faustschlag und der andere für unbotmäßiges Verhalten. Das hielt Jahn aber nicht davon ab, sich auch noch mit Packebusch und Stampeel anzulegen. Beide konnten es nicht ertragen, dass er ihnen nicht nur an Intelligenz, sondern auch an Gewandtheit und Körperkraft überlegen war und bereits reiten, schwimmen, schießen und klettern konnte.

»Wie ein Affe!«, stellte Packebusch fest.

»So sieht er auch aus«, fügte Stampeel hinzu.

Jahn stürzte sich auf sie. Packebusch besiegte er im Box- und Stampeel im Ringkampf. Der eine lief daraufhin zum Rektor, weil er unter einer leichten Gehirnerschütterung litt, der andere, weil er Würgemale am Hals davongetragen hatte. Abermals fragte Wolterstorff Jahn nach dem Grund für sein aufsässiges Benehmen.

»Ich wollte Gerechtigkeit walten lassen«, antwortete dieser. »Wenn mich keiner der Lehrer in Schutz nimmt, muss ich mich eben selbst wehren. Außerdem wissen jetzt alle, was das Pankration ist.«

»Was bitte?«, fragte Wolterstorff.

»Das ist eine Kombination aus Boxen und Ringen, die bei den Olympischen Spielen im alten Griechenland ausgetragen wurde. Dass Ihr das nicht wisst!«

»Jahn, das gibt zwei neue Einträge ins Strafbuch!«

Den kümmerte das wenig. Er glaubte, dass all seine Handlungen dem Willen Gottes entsprangen, hatte er doch unzählige Male gebetet: »Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.«

Der einzige Schüler aus seiner Klasse, mit dem er sich ein wenig anfreundete, war Georg Friedrich Roth. Der kam aus Hindenburg in der Altmark, einem Dorf, das noch kleiner war als Lanz. Aber das war eigentlich ohne Belang.

Nicht nur mit dem Lehrer Helffensfrieder legte sich Jahn ständig an, sondern auch mit anderen Pädagogen, allen voran Heinrich Dürzer, einem äußerst gemeinen Mann, der ihn immer wieder vorzuführen und zu diminuieren suchte.

Als Dürzer einmal den Klassenraum betrat, schrie er auf, denn ein Schüler, der aus Hameln stammte, hatte in einem Anfall von Heimweh den Rattenfänger gemalt, allerdings nicht mit den davonziehenden Kindern, sondern mit einer Schar von besonders hässlichen Ratten. »Wischt das weg!« Mit abgewandtem Gesicht wartete Dürzer, bis das Bild nicht mehr zu sehen war. Auch im Anschluss hatte er noch Mühe, Haltung zu bewahren. Er betrachtete sich wegen seiner Rattenphobie als Schwächling und suchte das zu überspielen, indem er sich nun vor der Klasse umso härter zeigte. Als Erstes bekam der Zeichner einen Eintrag ins Strafbuch, dann stürzte sich Dürzer auf Jahn, der besonders impertinent gegrinst hatte. »Jahn, übersetzt! His nuntiis litterisque commotus Caesar duas legiones in citeriore Gallia novas conscripsit et inita aestate in ulteriorem Galliam qui deduceret Q. Pedium legatum misit.«

Jahn stand auf und bekundete, bei seinem Vater und dem Hauslehrer Schmellwitz zu wenig Latein gehabt zu haben, um sich an Caesars De Bello Gallico heranwagen zu können.

»Ihr versucht es!«

»Ähm … Sein Nuntius schrieb Caesar einen Brief … einen Brief, dass die Legionen in Gallien zittern würden … «

Dürzer bog sich vor Lachen. »Le monde n’a jamais vu un tel imbécile!«

Das konnte Jahn sehr wohl übersetzen. »Die Welt hat noch nie einen solchen Dummkopf gesehen!« Er murmelte, dass er sich dafür rächen werde.

»Stampeel, macht Ihr weiter!«

»Die Berichte und Briefe veranlassten Caesar, zwei neue Legionen im diesseitigen Gallien auszuheben und zu Beginn des Sommers dem Legaten Q. Pedius den Auftrag zu geben, sie in das Innere Galliens zu führen.«

»Jahn, diese Sätze schreibt Ihr Euch in Euer Kollegheft!«

»Ich führe kein Kollegheft. Mein Gedächtnis ist so vortrefflich, dass ich solcher Tintenkleckserei nicht bedarf.«

»Euren renitenten Geist werden wir Euch schon noch austreiben!«

Jahn lächelte. »Das schafft einer wir Ihr ganz sicher nicht!«

»Ab mit Euch!«

So wanderte Jahn wieder einmal in den Karzer und bekam einen weiteren Eintrag ins Strafbuch des Salzwedeler Gymnasiums.

Nachtragend war er nicht, aber Dürzers Bemerkung von dem Dummkopf, den die Welt noch nicht gesehen habe, wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Lange dachte er darüber nach, wie er dem Lateinlehrer am besten eins auswischen konnte, aber ihm wollte nichts Rechtes einfallen. Schließlich kam ihm der Zufall zu Hilfe. Sein Quartiersgeber, der Leinenweber Witte, kämpfte schon seit einiger Zeit gegen die Wanderratten in seinen Kellerräumen, die sich schneller vermehrten, als er sie erschlagen konnte. Witte hatte schließlich eine Falle konstruiert. Aber nur selten fand sich ein Nager darin, denn die Ratte als solche war unglaublich klug. Hatte der Leinenweber doch eine gefangen, übergoss er sie mit Rübenöl und steckte sie an. Das arme Tier schrie und quiekte dann derart erbärmlich, dass alle anderen Ratten in Panik aus dem Keller flohen und die Botschaft weitergaben, diese Stätte in Zukunft tunlichst zu meiden. Das half so lange, bis die Warnung in einer nachfolgenden Generation verlorenging.

Wieder einmal war es so weit, und Witte konnte seiner Leidenschaft als Kammerjäger nachgehen. Diesmal sogar mit überraschendem Erfolg, denn in seiner Falle steckten gleich zwei Ratten. Es waren ausgewachsene Exemplare von stattlicher Größe. Der Hausherr rief seine Arbeiter herbei, sie zu bewundern und ihn zu beglückwünschen. Auch Jahn eilte in den Keller. Beim Anblick der Tiere dachte er sofort an Dürzer – und schon wusste er, wie er sich an dem Lehrer rächen konnte. »Ihr braucht zum Anstecken nur eine«, sagte er zu Witte. »Könnt Ihr mir die andere geben?«

»Wozu denn?«

»Ich will mit ihr ein kleines Experiment machen.«

Da Witte annahm, dass der Junge sich als Tierarzt ausprobieren wollte, trieb er eine der zwei Ratten in einen Blechkasten und schenkte sie Jahn. Der wartete ab, bis es dunkel geworden war, und schlich sich dann zur Steinthorstraße, wo Heinrich Dürzer, der alleinstehend war, eine kleine Wohnung angemietet hatte. Das Glück war auf Jahns Seite, denn das Schlafzimmerfenster stand zum Lüften weit offen. Es war ein Kinderspiel, den Blechkasten zu öffnen und die Riesenratte zu entlassen. Schnell waren die Fensterflügel zugezogen, und dann lief Jahn, so schnell er konnte.

Etwa fünf Minuten später hallte ein Schreckensschrei durch die stille Steinthorstraße. Heinrich Dürzer lag zwei Tage lang mit einem Schock danieder.

Als sich Alexander Friedrich Jahn auf den Weg zu seinem Sohn machte, war er recht frohgemut. Wolterstorff hatte ihm in einem Brief geschrieben, er möge baldmöglichst in Salzwedel vorbeischauen.

»Sie werden den Jungen in die nächsthöhere Klasse stecken wollen«, hatte Dorothea Sophie beim Abschied zu ihrem Mann gesagt. »In die Quarta, wo Philipp schon ist.«

»Das glaube ich auch. Irgendwann mussten sie in Salzwedel merken, dass unser Sohn allen überlegen ist.«

So fiel er aus allen Wolken, als der Rektor nach ein paar einleitenden Floskeln zum Thema kam. »Der Grund, aus dem ich Euch, lieber Freund, nach Salzwedel gebeten habe, ist die Sorge um Friedrich Ludwig. Bitte, gebt ihn auf eine andere Schule! Er will hier nicht recht gedeihen.«

»Wie?« Vater Jahn glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

Wolterstorff wollte den Pfarrer nicht verletzen und ihm deshalb nicht offen ins Gesicht sagen, dass man den Störenfried endlich loswerden wolle. Nur sehr verklausuliert und diplomatisch legte er dar, was ihn und das Kollegium bewegte. »Unser Schulalltag ist auf Ruhe und Ordnung ausgelegt, niemand darf abweichen vom festgelegten Pfad. Das entspricht jedoch nicht der Natur Eures Jungen. Sein Freiheitsdrang ist nicht zu bändigen, und er hat ein so ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, dass dem niemand Genüge tun kann, so leid es uns tut.«

Alexander Friedrich Jahn konnte nun nicht mehr an sich halten. »Wozu sind Pädagogen denn da? Doch dazu, um Menschen wie meinen Sohn zu formen!«

Nun wurde Wolterstorff doch deutlicher. »Das hat hier keiner geschafft. Euer Sohn reizt alle mit seiner Schroffheit und seinem trotzigen Geist. Er ist grüblerisch und macht die Lehrer mit seiner Rechthaberei rasend. Wenn ihm etwas gegen den Strich geht, fährt er sofort auf. Oft ist er derart überspannt, dass ich ihn in den Kerker verweisen muss.«

»Soll ich Eure Worte als Consilium Abeundi verstehen?«, fragte Alexander Friedrich Jahn.

»Ich bedauere sehr, dies bejahen zu müssen.«

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