Turnvater Jahn

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»Ach!« Pulvermacher seufzte. »Eigentlich müsste ich mich freuen, weil ich über Nacht ein reicher Mann geworden bin«

»Wie das denn? Bist du ein heimlicher Alchemist und hast den Stein der Weisen gefunden?«

»Nein, mein Onkel in Berlin ist gestorben, der Bierbrauer, und in seinem Testament hat er mich zum Alleinerben gemacht.«

»Das ist doch keine schlechte Nachricht!«, rief Jahn. »Gratuliere!«

»Danke. Der Haken an der Sache ist, dass ich das Erbe nur antreten darf, wenn ich mich um die Brauerei kümmere. So hat es sich mein Onkel gewünscht. Das heißt, ich muss von dir Abschied nehmen.«

»Wie?«

»Ich bin gezwungen, nach Berlin zu ziehen.«

Die Berliner präferierten seit rund hundert Jahren ein obergäriges Schankbier aus Gersten- und Weizenmalz, das im Vergleich zu anderen Biersorten etwas sauer schmeckte. Das Berlinische Weizenbier, auch Berliner Weiße genannt, hatten die Berliner nicht selbst erfunden, sondern einem Produkt des Halberstädter Brauers Cord Broihan nachempfunden. Rund siebenhundert Weißbierlokale gab es in der Residenzstadt, Biere nach Pilsener Brauart kannte man noch nicht.

Bei der großen Wertschätzung dieses Getränkes nahm es nicht wunder, dass sich zur Beerdigung des Bierbrauers Joachim Friedrich Pulvermacher rund zweihundert Menschen auf dem Sophienkirchhof eingefunden hatten, darunter auch sein geliebter Neffe Philipp aus Lanz.

Der Pfarrer ging nur mit knappen Worten auf den Lebensweg des Verstorbenen ein und konzentrierte sich für Philipp Pulvermachers Geschmack besonders am Ende seiner Predigt ein wenig zu sehr auf die Religion. »Gott, unser Vater, lass uns alle im Glauben an Jesus Christus zu der Gewissheit gelangen, dass uns auch der Tod nicht deinen Armen entreißen kann. Führe du uns alle, Herr, auf den Weg des Glaubens, auf dem wir sprechen können: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn

Philipp Pulvermacher nahm alles wie durch einen Schleier war. Es kam ihm vor, als sehe er auf einer Bühne, wie sie in langer Reihe von der Kirche zum Grab zogen, wie der Pfarrer die letzten Worte sprach, wie der Sarg hinabgelassen wurde, wie alle an die offene Grube traten, um die drei Hände Sand auf den Sargdeckel zu werfen, dabei Worte des Dankes murmelnd. Und wie dann alle im Saal der Brauerei beim Leichenschmaus zusammensaßen und sich mit vielen Anekdoten an den Verstorbenen erinnerten, mit aufgesetzter Heiterkeit der Trauer Herr werden wollten und den Gedanken an den eigenen Tod verdrängten.

Dann kam der nächste Tag. Der Vater, der auch an der Beerdigung teilgenommen hatte, reiste zurück nach Lanz, und für Philipp Pulvermacher begann ein neuer Lebensabschnitt.

Er konnte sein Glück kaum fassen. Gerade einmal 22 Jahre alt war er und schon ein gemachter Mann. Einige lästerten darüber, dass er ohne eigenes Zutun auf einmal ein Vermögen besaß, er machte sich aber nichts daraus. Das tägliche Geschäft in der Bierbrauerei lief fast von allein. Da waren tüchtige Männer am Werke, die es nur störte, wenn er ihnen hineinredete. Er konnte sich also oft dem Müßiggang widmen, und wenn der wirklich der Anfang allen Lasters sein sollte, beunruhigte ihn das nicht, denn Laster waren für ihn die Grundlage des Lebens. Jetzt brauchte er sich nicht mehr mit Philosophen quälen, deren Gedanken im zuwider waren, sondern konnte lesen und studieren, was nach seinem Gusto war. Jetzt konnte er Frauen haben, die für einen armen Studenten so unerreichbar waren wie die Venus am abendlichen Himmel. Jetzt konnte er den besten Rotwein trinken statt des billigsten Bieres. Jetzt konnte er verreisen, sooft er wollte. Und er konnte über den Bureauräumen eine vornehme Etage ganz allein bewohnen, statt in einer verwanzten Studentenbude zu hausen. Zu alledem war das Leben in der Residenzstadt doch ein wenig aufregender als das in Halle an der Saale.

Die Pulvermacher’sche Brauerei lag in der Spandauer Vorstadt, in der Münzstraße, die nach dem Königlichen Münzgebäude benannt war, das man hier 1752 errichtet hatte. Bis in die Innenstadt war es nur ein kurzes Stück. Man hatte nur den Stadtgraben zu überqueren, um dann auf der Neuen Friedrichstraße – vorbei an der Garnisonkirche – Lustgarten und Berliner Schloss zu erreichen.

Joachim Friedrich Pulvermacher hatte seinem Neffen Philipp nicht nur die Brauerei hinterlassen, sondern auch die Haushälterin Madame Eugénie Neuville, eine energische und den schönen Künsten gegenüber aufgeschlossene Witwe aus der Französischen Kolonie in Berlin, in der die Hugenotten lebten. Entsetzt über die mangelhafte Bildung ihres neuen Schützlings, schleppte sie ihn, kaum war der alte Brauereibesitzer unter der Erde und eine gewisse Frist verstrichen, in die Hofoper Unter den Linden.

»Wisst Ihr, was dort gespielt wird?«, fragte ihn Madame Neuville.

»Sicher ein Flötenkonzert von Friedrich dem Großen.«

»Nein, die Oper Atalanta e Meleagro von Vincenzo Righini.«

»Ah ja.« Von dem hatte Philipp Pulvermacher noch nie etwas gehört und wertete dies auch nicht als großes Defizit.

»Righini ist ein Italiener aus Bologna«, klärte Madame Neuville ihn auf. »Seit sechs Jahren arbeitet er als Kapellmeister in Berlin, und er hat die Opernsängerin Henriette Kneisel geheiratet. Righini hat auch als Gesangslehrer ein beachtliches Renommee, Bettina von Arnim beispielsweise schwärmt von ihm. Wollt Ihr es nicht auch einmal mit dem Singen versuchen?«

Philipp Pulvermacher zuckte zusammen. »Als ich das letzte Mal gesungen habe, haben die Leute ihre – Pardon! – Pisspötte über meinem Kopf entleert.« Das hatte sich in der Kuhgasse zugetragen, als er mit Jahn grölend aus der Kneipe gekommen war.

Das Werk von Vincenzo Righini ließ er wortlos über sich ergehen, denn schnell hatte er begriffen, was von einem Berliner der höheren Stände erwartet wurde. Der Opernbesuch wurde dennoch zu einem unvergesslichen Ereignis, weil er dabei Madame Du Titre kennenlernte, eine alte Freundin seiner Haushälterin und eine elegante und sehr lebhafte Dame.

»Wie hat es dir gefallen, meine liebe Marie Anne?«, hörte er seine Madame Neuville nach der Vorstellung fragen.

Madame Du Titre lachte. »Ick hab mia sehr amüsiert, wenn bloß die eklige Musik nich jewesen wäre.«

Das gefiel Pulvermacher. Madame Du Titre hatte ihm ganz aus der Seele gesprochen. Auf dem Nachhauseweg ließ er sich gern erklären, was es mit der Freundin seiner Haushälterin auf sich hatte.

»Marie Anne ist eine geborene George. Ihr Vater besaß große Ländereien an der Spree, die Familie war sehr wohlhabend. Marie Anne hat einen steinreichen Händler und Fabrikanten mit eigener Baumwollmanufaktur geheiratet, Etienne Du Titre. In Berlin ist sie stadtbekannt, weil sie sich mächtig naiv gibt, dabei aber immer den Nagel auf den Kopf trifft. Sie spricht fließend französisch, liebt es aber zu berlinern. Als sie einmal ein neues Mädchen eingestellt hatte, eine höhere Tochter, war sie gerade durch halb Berlin gelaufen, um ihre Besuche zu machen, und hat gestöhnt: ›Ach, wat bin ick heute wieda jeloofen!‹ Worauf die Neue sie verbessern wollte, es heiße gegangen und nicht jeloofen. Darauf die Du Titre: ›Wat, gegangen? Mamsellken, ick bin jeloofen und hab den reichen Du Titre jekriegt – und du bist gegangen und hast noch keenen nich jekriegt. Also is jeloofen besser wie gegangen!‹«

Berlin war so aufregend, dass Philipp Pulvermacher erst nach vierzehn Tagen dazu kam, einen Brief an den Freund Friedrich Ludwig Jahn in Halle zu schreiben Darin teilte er ihm mit, dass er sich in seinem neuen Leben schon wunderbar eingerichtet habe. Aber so gut es mir auch geht, eines fehlt mir doch sehr, etwas, das fast so wichtig ist wie die Luft zum Atmen: das Zusammensein mit Dir. Wie geht es Dir, geliebter Herzensbruder, lieber Fritz?

Jahn suchte lange nach einer Antwort auf diese Frage, denn ihn bewegte viel in diesen Tagen. Wo sollte er anfangen? Wie sollte er werten, was er erlebte? Er wanderte weiterhin in jeder freien Stunde, er las viel, wobei er Goethe verehrte und Schiller verachtete. Er saß auch in vielen Vorlesungen, vor allem aber lebte er sich aus im Kampf gegen die »Landsmannschafterei«. An Pulvermacher schrieb er:

Ich hasse die landsmannschaftlichen Kränzchen und die Abschottung des einen deutschen Stammes vom anderen. Und es wird an unseren Universitäten nicht eher besser werden, als bis der letzte Kränzchensenior an den Gedärmen des Kränzianers erdrosselt ist. Alle deutschen Studenten müssen unabhängig von ihrer Stammeszugehörigkeit zu einer einzigen, alle Länder übergreifenden Gemeinschaft zusammengefasst werden.

Der Freund antwortete postwendend:

Ich will Dir gerne glauben, dass Du diese Ziele verfolgst, mein lieber Fritz. Mir scheint aber, dass die eigentliche Triebkraft dazu Deine angeborene Streit- und Abenteuerlust ist. Die steckt so tief in Dir drin, dass Du gar nicht anders kannst. Immer versuchst Du, andere um Dich zu scharen, und Du gefällst Dir offenbar in der Rolle des Anführers.

Wenn Jahn sich auch über diese Formulierung ärgerte, schienen die Geschehnisse Pulvermacher recht zu geben. Jahn zog mit einer kleinen Schar von Verbündeten regelmäßig aus, um die Nester der einzelnen Landsmannschaften zu verwüsten und deren Häupter mit der Peitsche oder den Fäusten zu traktieren. An die Wände schrieb er Verwünschungen und versah sie mit Ausdrücken, die mehr waren als Beleidigungen. Kein Wunder, dass er immer wieder vor den Universitätsrichter zitiert wurde.

»Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht, Jahn?«

»Für mich gibt es nur diesen Weg, um meinen Kommilitonen die Augen zu öffnen. Was sich an den deutschen Universitäten abspielt, gefällt mir ganz und gar nicht. Man muss die Verhältnisse dringend ändern!«

 

»Und warum reist Ihr ständig nach Jena, um auch dort alle aufzuhetzen?«

»Ich erkläre allen Landsmannschaften den Krieg!«

Krieg zwischen den Landsmannschaften herrschte schon lange, und die Stadt Halle litt erheblich darunter. Da die Studenten – außer in Fällen von schwerer Kriminalität – der zivilen Rechtsprechung entzogen waren und die Universitätsorgane nicht genug Autorität hatten, dem Treiben Einhalt zu gebieten, ging es in Halle chaotisch zu. Schließlich rang sich der Universitätsrath jedoch dazu durch, die Studenten härter anzupacken. »Nehmen die sitten- und zuchtlosen Zustände nicht baldigst ein Ende, wird die Universität geschlossen!«, einigte man sich.

Nun waren sich plötzlich alle Landsmannschaften einig, und mit Jahn als Anführer griff man zur schärfsten Waffe, die man hatte: Man zog geschlossen aus der Stadt, lagerte weit draußen vor den Thoren und hinterließ die Drohung, sich anderswo eine Universität zu suchen, wenn der Rath nicht klein beigebe.

Sofort war in Halle der Teufel los, denn viele Bürger, vor allem aber die Handwerker und Kaufleute, hätte es die Existenz gekostet, wenn es in Halle keine Studenten mehr gegeben hätte. So blieb dem Rath nichts anderes übrig, als den Studenten absolute Straffreiheit zuzusichern und ihnen manches Zugeständnis zu machen. Hocherhobenen Hauptes kehrten die jungen Männer nun nach Halle zurück – und bald war wieder alles beim Alten.

Jahn hatte inzwischen eine politische Heimat gefunden: den Unitistenorden. Der war von dem pommerschen Theologiestudenten Johann Georg Schütz 1774 an der Universität Halle gegründet worden, hatte sich dem Pietismus verschrieben und führte die 3 als heilige Zahl im Ordenskreuz. Alle Zwecke der Unitisten vereinigen sich zur Erfüllung der höchsten und letzten Zwecke jedes sittlich vernünftigen Wesens, der Ausbildung aller seiner Dienste zur höchsten sittlichen Vollkommenheit, hieß es in den Gesetzen des Ordens. Man versicherte jedem Mitglied nicht nur Zutrauen, Freundschaft und Bruderliebe, sondern auch Schutz, Beistand und thätige Hilfe in jeder Noth und Gefahr. Nun bestand allerdings eine gewisse Angst vor studentischen Verbindungen, weil man fürchtete, sie könnten sich an den Forderungen der französischen Revolution von 1789 orientieren und außerdem vehement für einen Einheitsstaat kämpfen, also so manches Fürstenhaus hinwegfegen wollen. Deshalb verbot man die studentischen Vereinigungen kurzerhand, zusammen mit allen anderen geheimen Verbindungen. In Preußen erließ der König die entsprechende Verfügung im Jahre 1797. Man konnte also das orangefarbene Band der Halle’schen Loge nicht mehr offen tragen und sich nur noch heimlich treffen. Jahn, der sich wohl bewusst war, dass er einiges auf dem Kerbholz hatte, war immer auf der Hut, genoss es aber auch, halb im Verborgenen zu leben, denn das schien ihm eine gewisse Wichtigkeit zu verleihen. Dass andere sich vor ihm ängstigten und ihn auszuschalten suchten, bekam er immer wieder deutlich zu spüren, so auch, als er eines Abends zufällig aus dem Fenster sah und auf der Kuhgasse mehrere junge Männer erblickte, darunter seinen alten Erzfeind Friedrich Auras aus Schlesien, den er im Duell besiegt hatte. Ihm schwante Böses, und er sprang vom Fenster weg.

»Diesmal kann er uns nicht entkommen«, hörte er jemanden schreien. »Das Haus ist umstellt.«

»Wir schleppen ihn am besten zur Saale runter und ersäufen das Schwein!«

Jahn wusste, dass er als Einzelner gegen eine ganze Horde nicht ankommen konnte. Er saß in der Falle. Jetzt half nur noch beten. Herr, siehe mein Elend und errette mich; hilf mir aus! Zwischen den Orten Giebichenstein und Kröllwitz hatte sich die Saale einen Weg durch festes Gestein gebahnt. Das Tal hatte an dieser Stelle nur eine Breite von etwa achtzig Metern. In den Felsen hatten sich durch Regenwasser und Frost einige Höhlen gebildet, und in eine von ihnen hatte sich Jahn geflüchtet, nachdem es ihm gelungen war, Auras und seiner Horde zu entkommen. Seine Kletterkünste hatten ihn gerettet. Er war aufs Fensterbrett gestiegen und hatte sich dann auf einem schmalen Sims in Richtung des Fallrohrs der Regenrinne vorgearbeitet. Wie ein Bergsteiger hatte er sich von einer Fuge zur anderen getastet. Unten auf der Gasse hatten seine Feinde gebrüllt und auf seinen Fall gehofft. Vergeblich. Jahn hatte schließlich das Fallrohr erreicht, sich nach oben gehangelt und über die Dächer der Kuhgasse und der Großen Märkerstraße in Sicherheit gebracht.

Den ganzen Sommer 1800 über sollte die Felshöhle über der Saale seine Heimstatt sein. Um sich etwas zu essen zu besorgen, schwamm Jahn nach Kröllwitz hinüber, wo er sich Obst von den Bäumen und Kartoffeln von den Feldern holte. Die maßgebliche Lektüre in seiner Zeit als Höhlenmensch bestand in einem utopischen Roman des österreichischen Offiziers und Schriftstellers Wilhelm Friedrich von Meyern mit dem kryptischen Titel Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Darin ging es um vier Söhne, die ihren Vater und ihre Heimat verließen, um eine Wanderung durch Indien zu unternehmen. Friedrich Schiller hatte das Buch schon 1788 in der Allgemeinen Literaturzeitung furchtbar verrissen:

Die ganze, äußerst einförmige und schlecht gehaltene Fabel dient einer reinen und schönen Sittenlehre zur Hülle, die ihr aber oft so ungezwungen und oft wieder so lose angepasst wird, dass sie weniger aufklärt als verdunkelt. Nichts beleidigt indessen mehr als die barbarische Durcheinandermengung des Abstrakten mit dem Symbolischen, oder der Allegorie mit den philosophischen Begriffen, die sie bezeichnen soll.

Da Jahn Schiller ohnehin nicht mochte, kümmerte ihn diese Kritik nicht im Geringsten. Ihn beeindruckte vor allem, dass in dem Roman die staatstreue Gesinnung zu einem religiösen Kult erhoben wurde. Dya-Na-Sore war die Quelle für Jahns spätere Verherrlichung der Vaterlandsliebe. Die Liebe des Lebens muss der Liebe des Vaterlandes weichen, konnte er bei von Meyern lesen. Oder auch: Nationalhass ist eine ebenso notwendige Eigenschaft, als Vaterlandsliebe. Und es gab Dialoge wie diesen:

»Wer bist Du?«, fragte ihn der König.

»Ein Knabe, der lieber ein Mann wäre.«

»Warum?«

»Um in der Verteidigung meines Vaterlandes zu sterben!«

Die Vorstellungen von Vaterlandsliebe, Heldentod und Sieg gruben sich unauslöschlich in Jahn ein, zumal sie in einer durchaus packenden Sprache zu Papier gebracht waren. Auch die Forderung nach Ausbildung des Körpers, nicht nur des Geistes, fand sich bei Meyern.

Dieser Roman hat mir eine neue Welt eröffnet, sollte Jahn an Pulvermacher schreiben. Ich habe mir vorgenommen …

Weiter kam er nicht, denn unten am schmalen Flussufer tauchten seine alten Feinde wieder auf. »Wir finden dich überall auf der Welt!«, schrie Friedrich Auras zu ihm hinauf. »Jetzt holen wir dich und prügeln dich windelweich!«

Jahn hatte mit einer solchen Attacke gerechnet und sich deshalb einen Haufen handlicher Steine zurechtgelegt. Damit eröffnete er nun ein Bombardement, bei dem sich die Angreifer blutige Köpfe holten, so dass sie alsbald den Rückzug antraten.

Jahn überlegte. Seine Höhle war nun kein Geheimnis mehr. Er konnte also sein Leben als Eremit genauso gut aufgeben und in die Kuhgasse zurückkehren.

Dort angekommen, wollte er sich – auch das war eine Folge der Lektüre von Dya-Na-Sore – als Schriftsteller und Poet versuchen. Sein Erstling sollte den Titel Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche tragen. An den Freund Philipp Pulvermacher schrieb Jahn über sein Vorhaben:

Heißer kann kein Feuer brennen als das in mir! Es wird ein einziges Loblied auf Preußen werden. Nur zwei Völker in der Welt sind groß und heilig zu nennen: die Griechen des klassischen Altertums und die Deutschen. Und unter deren Stämmen sind vor allem die Preußen zu preisen. Sprachlich scheint mir da ein Zusammenhang zu bestehen. Ich zitiere mich selbst: Kein Volk zählt eine so lange Reihe von guten Fürsten, verdienten Staatsmännern, tapferen Feldherrn als die Preußen. So schlage ich auch vor, die katholischen Heiligen aus dem Kalender des protestantischen Preußen zu streichen und sie durch die Namen Friedrich Wilhelm, Friedrich, Schwerin, Keith, Winterfeld, Seydlitz und Ziethen zu ersetzen.

Als die Antwort aus Berlin eintraf, hatte Jahn den Schlusssatz seiner Abhandlung bereits zu Papier gebracht. Er las den Brief – und erbleichte. Was sich der Freund erlaubte, war unfassbar.

Mein lieber Fritz,

wäre ich doch nur an Deiner Seite geblieben und hätte Dich davon abgehalten, Dich derart zu verrennen! Sicher machst Du Dich mit Deiner kleinen Schrift bei vielen Preußen beliebt – wenn auch bei weitem nicht bei allen! –, aber dafür ziehst Du Dir den Spott wie den Zorn aller anderen deutschen Stämme zu und bestärkst sie noch in ihrer »Landmannschaftssucht«, wie Du das nennst. Es fehlt nur noch, dass Du eine eigene preußische Sprache forderst! Die alten Pruzzen sollen ja eine gehabt haben, die musst Du nur wieder hervorkramen. Sie sollen, sagt man mir, so ähnlich gesprochen haben wie die Letten und die Litauer … Da einer meiner Gehilfen in der Brauerei aus Litauen stammt, hat er mir meine letzte Zeile übersetzt, und so etwa müsste es dann auf Pruzzisch klingen: Sveikinu Jus nuoširdžiai ir tave apkabinti, kaip ištikimas savo seno bičiulio Pilypo.

Nur langsam beruhigte sich Jahn. Bei längerem Nachdenken sah er jedoch ein, dass der Freund so unrecht gar nicht hatte. Eigentlich kam es nicht so sehr auf einen preußischen als vielmehr auf einen deutschen Patriotismus an. Was sollte er nun mit der fertigen Schrift anfangen? Sie einfach zu zerreißen oder im Herd zu verbrennen, brachte er nicht übers Herz. Wahrscheinlich wäre sein Werk über den preußischen Patriotismus erst vergilbt und dann doch irgendwann im Müll gelandet, wenn Jahn auf der Kuhgasse nicht der Kommilitone Christian Hoepfner begegnet wäre und ihn nach ebendieser Schrift gefragt hätte, über die sie schon des Öfteren gesprochen hatten.

»Ich will sie doch nicht veröffentlichen«, bekannte Jahn. »Es ist mir zu viel von Preußens Gloria drin.«

»Das finde ich schade!«, bekannte Hoepfner. »Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich der Menschheit so etwas vorlegen könnte.«

Da hatte Jahn eine spontane Idee, vielleicht war sie zunächst auch nur als Spaß gedacht. »Du kannst die Schrift gern haben und unter deinem Namen veröffentlichen, für zehn Thaler.« Diese Einnahme würde seine finanziellen Probleme vorerst lösen.

Hoepfner machte große Augen. »Das ist doch nicht dein Ernst!«

»Doch«, versicherte Jahn.

Es folgte ein Handschlag, und die Sache war abgemacht. So erschien Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche unter dem Namen O. C. C. Hoepfner. Der vermeintliche Autor schwieg sich zeitlebens über diesen Handel aus, nicht anders als Friedrich Ludwig Jahn selbst.

Erst einmal schien Ruhe in Jahns Leben einzukehren, doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Bald gab es wieder heftige Zusammenstöße mit seinen Professoren, dem Universitätsrichter und seinen Feinden aus den Landsmannschaften. Und dann kam, was kommen musste: Er wurde zum Rektor gerufen.

»Jahn, das Maß ist voll! Ihr seid mit sofortiger Wirkung von der Alma Mater Halensis relegiert.«

Andere Männer hätten nun an sich gezweifelt, nicht aber Friedrich Ludwig Jahn. Die Relegation bewies in seinen Augen nur, welch außergewöhnlicher Mensch er war. Wie hätte ihn diese mediokre akademische Brut in Halle auch verstehen können? Für Jahn stand, was auch immer geschehen mochte, fest, dass er vom Schicksal ausersehen war, ein großer Deutscher zu werden. Wenn all die kleinen Geister in Halle längst der Vergessenheit anheimgefallen waren, würde er in den Geschichtsbüchern stehen. Mit welchen Taten, das wusste er im Jahre 1800 noch nicht.

Die Überzeugung von der eigenen Person mochte ebenso überhöht gewesen sein wie sein Sendungsbewusstein, aber beides machte ihn ungemein stark und sollte ihm später ein mitreißendes Charisma verleihen. Schon jetzt prallte alles an ihm ab, was ihn und sein Handeln in Frage stellte. Jahn sah sich schon auf einem Denkmalssockel stehen, bevor er große Taten begangen hatte.

 

Nach seiner Exmatrikulation wanderte er erst einmal durch Mittel- und Norddeutschland, bis er endlich in Lanz zur Ruhe kam.

Als sein Vater von dem Universitätsverweis erfahren und sich die Rechtfertigungsversuche seines Sohnes angehört hatte, schloss er die Augen, schüttelte den Kopf und murmelte, was bei Jesaja im 5. Kapitel geschrieben stand: »Weh denen, die Böses gut und Gutes böse heißen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen!«

Jahn lachte nur und konterte mit einem anderen Spruch aus der Bibel: »Wenn jemands Wege dem Herrn wohl gefallen, so macht er auch seine Feinde mit ihm zufrieden.«

Seine Mutter und seine Schwester behandelten ihn wie einen Kranken, mit dem man schonend umgehen musste, was ihn wenig störte. Das Pfarrhaus in Lanz war eine Art Sanatorium für ihn, und nach einigen Wochen fühlte er sich so gut erholt, dass er bereit war, zu neuen Ufern aufzubrechen.

»Wohin willst du? Und was willst du tun?«, fragte ihn der Vater, als er sah, dass der Sohn wieder einmal sein Ränzel schnürte.

»Ich habe keine bestimmte Absicht. Allein die Zeit wird zeigen, wann und wo sich das erfüllt, was mir vorgeben ist. Ich bin wie ein Wanderer aus Dya-Na-Sore. Irgendwann werde ich am Ziel sein. Was mir vorbestimmt ist, das wird auch geschehen.«

Zuerst führte ihn der Weg nach Berlin. Er feierte ein Wiedersehen mit seinem alten Freund Philipp Pulvermacher, bei dem er ein feudales Gästezimmer bezog.

»Willst du jetzt etwa in Berlin studieren?«, fragte Pulvermacher. »Das wird schwer werden, denn hier gibt es keine Universität.«

»Scherzbold!«, rief Jahn, um sogleich hinzufügen: »Die Residenz des großen Preußen ohne Universität – das ist doch eine Schande!«

»Es wäre schon längst eine gegründet worden, wenn die Verantwortlichen keine Angst gehabt hätten, dass du hier studieren willst«, lästerte Pulvermacher.

Jahn ärgerte sich über diese Bemerkung keineswegs. »Ach, weißt du, dass man mich überall kennt und fürchtet, erfüllt mich mit einem gewissen Stolz. Ich bin wenigstens wer.«

Pulvermacher legte nun dar, dass er auf einen solchen Ruhm nicht aus sei. »Ich lebe nach der Devise: Ich erhoffe nichts, ich befürchte nichts, ich bin frei. Das macht mich äußerst glücklich. Und wenn ich dann noch eine von meinen Tänzerinnen oder Schauspielerinnen im Bett habe, schreie ich sogar vor Glück. Ekstase ist ein Geschenk Gottes!«

Jahn war dazu erzogen worden, solche Reden als Werk des Teufels zu sehen. »Weißt du nicht, dass du damit nicht nur eine junge Frau ins Unglück stürzen kannst, sondern auch dich selbst? Denn wie steht es im 5. Buch Mose geschrieben? Ist’s aber die Wahrheit, dass die Dirne nicht Jungfrau gefunden, so soll man sie heraus vor die Tür ihres Vaters Hauses führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen. Und was dich betrifft, so fällt mir ein: Wenn einer eine verlobte Dirne auf dem Felde kriegt und ergreift und schläft bei ihr, so soll der Mann allein sterben, der bei ihr geschlafen hat.«

»Ach was, eine Steinigung muss man in Berlin nicht befürchten! Und wenn ich es mit einer Frau treibe, dann im Bett und nicht auf dem Felde.«

»Das ist nicht mein Niveau!«, erklärte Jahn.

»Schade«, murmelte Pulvermacher.

Der sittliche Verfall seines Freundes war für Jahn erschreckend. Dennoch hätte er ohne die finanzielle Hilfe Pulvermachers nicht ein noch aus gewusst. Der stellte ihm nicht nur eine kostenloses Unterkunft, sondern auch Essen, Trinken und neue Kleidung.

Berlin, das spürte Jahn bei diesem Aufenthalt instinktiv, war die Stadt, in der sich alles entscheiden würde. Sie würde für sein Leben von Bedeutung sein – obwohl sich derzeit nicht einmal das kleinste Anzeichen dafür finden ließ. Berlin dümpelte dahin, er dümpelte dahin.

Zu den größten Ereignissen seiner ersten Monate in der Preußenresidenz zählte die Fertigstellung der neuen Charité nach fünfzehnjähriger Bauzeit. Auch das gesellschaftliche Leben war nicht gerade umwerfend. Pulvermacher schleppte ihn mit zu etlichen Feiern der französischen Gemeinde in Berlin, weil er seiner Haushälterin, dieser Madame Neuville, nichts abschlagen mochte. Nun war Jahn alles Französische ziemlich zuwider, allein schon die »parfümierte Sprache«, wie er es ausdrückte. Aber er ging mit, um in seinem Zimmer nicht völlig zu vereinsamen. Immerhin lernte er bei den fêtes ein paar interessante Personen kennen.

Die erste anregende Begegnung bescherte ihm François Charles, in Berlin Franz Carl Achard genannt, dem sie nach einem Gottesdienst im Vorraum des Französischen Doms begegneten. Er sei 1753 in Berlin geboren worden und ein stadtbekannter Mann, wie Pulvermacher seinem Freund Jahn versicherte. »Wenn ich mal einen Roman schreibe, dann mache ich ihn zu meiner Hauptfigur«, erklärte er noch. »Er hat sich im Selbstunterricht naturwissenschaftliche Kenntnisse angeeignet und im Chemielaboratorium von Andreas Sigismund Marggraf gearbeitet.«

»Was ist daran so bemerkenswert?«, fragte Jahn.

»Nichts. Aber er hat immerhin für zwei große Skandale gesorgt. Erst hat er eine geschiedene Frau geheiratet, die neun Jahre älter war als er und keinerlei Vermögen mit in die Ehe brachte, dafür aber eine Tochter. Mit der hat Achard dann ein Verhältnis angefangen, nachdem die Ehe mit der Mutter schiefgegangen war. Die Siebzehnjährige hat prompt ein Kind von ihm bekommen. Inzwischen lebt Achard mit seiner Hausangestellten in wilder Ehe, zwei Kinder haben sie auch schon.«

»Schön zu hören, welche kulturellen Errungenschaften die Franzosen mit nach Berlin gebracht haben«, brummte Jahn.

»Nun, Achard ist Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und fast ein Genie. Er hat die Elektrizität erforscht und versucht, mit Stromstößen Taubheit und Wahn zu heilen.«

»Der Mann müsste wohl selbst als Erster geheilt werden.« Pulvermacher lächelte. »Friedrich der Große hat ihn sehr gelobt und soll gesagt haben: ›Wenn es Ihnen gelingt, durch Elektrizität den Dummen Geist zu verschaffen, sind Sie mehr als Ihr Gewicht in Gold wert.‹ Englische und französische Grassorten hat er in Preußen einführen wollen. In Berlin hat er einen Heißluftballon aufsteigen lassen. Auch einen Zeigertelegraphen soll er erfunden haben, und auf hohen Häusern lässt er Blitzableiter anbringen. Das ist unfassbar!«

Er brach ab, denn der Mann, von dem sie gerade gesprochen hatten, kam auf sie zu. Pulvermacher machte Jahn mit Achard bekannt.

»Womit beschäftigt Ihr Euch gerade?«, wollte Pulvermacher wissen.

Achard zog eine Runkelrübe aus der Tasche. »Mit der hier.«

»Wo habt Ihr die her?«

Achard lachte. »Von meinem eigenen Acker in Französisch Buchholz.«

»An wen wollt Ihr die Rüben verfüttern?«, fragte Jahn.

»An alle meine lieben Preußen.«

»Warum das?«

»Weil in den Rüben viel Zucker drinsteckt. Der König hat mir gerade ein Darlehen gewährt, damit ich mir in Cunern an der Oder ein Gut kaufen und dort jede Menge Rüben anbauen kann. Ich werde eine Fabrik errichten lassen, um dann aus den Rüben Zucker zu gewinnen. Das Zuckerrohr ist passé, der preußischen Runkelrübe gehört die Zukunft!«

Jahn war beeindruckt. Die Welt wartete auf außergewöhnliche Menschen wie Achard, die Neues zum Segen der Menschheit erschufen. Nur wer dies schaffte, der wurde berühmt und später unsterblich.

Der zweite Mann, dessen Bekanntschaft Jahn bei einem Fest der Französischen Kolonie machte, war der Baumeister David Gilly.

»Wenn du mit ihm ins Gespräch kommst«, warnte ihn Pulvermacher, »dann frage nie nach dem Mädchennamen seiner Frau!«

»Warum denn nicht?«

»Weil der Name Ziegenspeck lautet. Wenn seine Frau von den Hugenotten abstammen würde … « Er überlegte einen Augenblick. » … hieße sie lard de chèvres. Das hört sich wunderbar an!«

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