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1.5 Klänge, Instrumente, musikalische Parameter

Auf welch unterschiedliche Weise Menschen das Erleben ihrer eigenen Persönlichkeit mit Elementen der Musik verknüpfen, erstaunt und überrascht uns immer wieder. Von solchen Verknüpfungsmöglichkeiten zu wissen, kann hilfreich sein, um KlientInnen gezielt danach zu fragen und ihnen Brücken zu bauen, sich selbst und ihr Erleben genauer zu beschreiben und zu verstehen, Einsichten zu gewinnen (vgl. Kap. 20.6).

Viele KlientInnen beschreiben sich im Vergleich zu Klängen oder musikalischen Ausdrucksformen. Ein Mann erzählte, dass er fast ausschließlich leichte Musik höre: „Es muss möglichst leicht und heiter sein. Wenn ich Musik höre, die für mich schwer und spannend ist, dann halte ich das nicht aus. Davon bin ich selber zu voll. Ich mag eigentlich Wagner ganz gern, hören kann ich ihn aber nur in kleinen Dosierungen. Ich brauche eher etwas, was ein Gegenteil von mir ist.“ Eine Frau meinte: „Ich bin wie ein Musical: Immer ist was los!“ Häufig werden Eigenschaften und Qualitäten der eigenen Person mit musikalischen Qualitäten beschrieben. Dabei werden Begriffe verwendet, die uns später bei den Leibbewegungen (s. Kap. 3) und Erregungsverläufen (s. Kap. 5) wieder begegnen werden: Wie eben wird von „Spannung“ gesprochen oder von „Schwere“ und „Leichtigkeit“; jemand beschreibt sich als „Mensch der leisen Töne“; jemand anderes vergleicht sein Chaos und seine Unruhe mit einem „Free-Jazz-Konzert“. Wenn wir jemanden kennen lernen wollen, fragen wir manchmal: „Wenn Sie ein Musikstück wären, welches wären Sie?“ Die Antworten reichen von Pink Floyd bis zur Verdioper, vom Schlager bis zum verschollenen Pianostück, das niemand kennt.

Auch Vergleichen oder Identifikationen mit Instrumenten begegnen wir, wenn KlientInnen sich oder andere Menschen beschreiben. „Mein Vater war wie eine Pauke. Immer laut, immer den Takt angebend. Meine Mutter versuchte als Trompete dagegen zu halten. Auch laut. Aber ohne die Pauke stoppen zu können.“

„Welches Instrument waren Sie?“

„Meist eine Blockflöte, die nur von sich selber gehört wurde.“

„‚Ein Quintett betritt die Bühne’“, so protokolliert die Musiktherapeutin Christiane Hecker die Aussagen ihrer Klientin im gemeinsamen musiktherapeutischen Prozess. Sie hatte sie gebeten, sich vorzustellen, sie beide säßen mit geschlossenen Augen im Konzertsaal. Angekündigt sei die musikalische Aufführung des Stückes „Familie beim Mittagessen“, sie beide seien Zuhörerinnen. Die Klientin möge erzählen, was sie sähe und höre. „‚Es beginnt mit einer durchgehend in Dur-Dreiklängen gehaltenen, leicht eingängigen Melodie ohne besondere Höhen und Tiefen, gespielt von Mutter Bratsche. Wenn ich genau hinhöre, erkenne ich dazu ein später einsetzendes Tochter-Glockenspiel, das offenbar nicht die richtige Tonart finden kann oder anders als die Bratsche gestimmt ist (vielleicht pentatonisch?), aber dennoch versucht, im Einklang mit ihr zu spielen, was ihm auch erstaunlicherweise gut gelingt, da es die Melodie und den Rhythmus imitieren kann. Mit wachsender ‚Harmonie’ wird das Glockenspiel etwas kräftiger (mezzoforte), klingt aber dabei sehr bemüht.

Etwas später als das Glockenspiel setzt dann Sohn Rassel ein, der offenbar nicht unbedingt die Aufgabe zu haben scheint, mit den anderen zusammen zu spielen, der jedoch gerne mit dem Tempo und der Geschicklichkeit des Glockenspiels mithalten möchte und dabei gleichzeitig auf den Rhythmus der Bratsche achtet. Ganz schön schwierig, was der Komponist sich da ausgedacht hat! Nach einem eher angestrengt wirkenden ersten Satz klingt es trotz der unterschiedlichen Instrumente im zweiten Satz ganz gut zusammen und inzwischen stimmt auch die Tonart; offensichtlich haben die drei schon eine längere gemeinsame musikalische Erfahrungen und sind entsprechend aufeinander eingespielt …

Und was höre ich jetzt? Ein Blasinstrument – Großvater Horn – mal nah dran, mal weiter weg, aber immer relativ laut und munter, hat wohl eine komplett eigene Stimme geschrieben bekommen, klingt wie Volkslied oder Operette, oft lustig, und scheint die anderen nicht zu stören. Die Bratsche spielt nun abwechselnd mit etwas mehr Vibrato (klingt gut) und mehr Höhen, aber manchmal auch verhaltener. Glockenspiel und Rassel werden lebhafter und das Horn tritt öfter solo auf. Insgesamt hat die Musik durch das Horn einen anderen Charakter bekommen, so ähnlich wie bei einem Satzwechsel vom Andante zum Scherzo. Tut gut!

Aber was ist nun los? Ich spüre, dass sich die ganze Atmosphäre verändert, mache die Augen auf, um alles besser mitzubekommen, sehe Vater Trommel mit stark gespanntem Fell, die – ohne auch nur einen einzigen Ton produziert zu haben – durch ihr bloßes Auftreten die anderen so beeinflusst, dass sie für eine Schrecksekunde die Luft anhalten und nicht mehr weiterspielen. Die Bratsche findet als erste ihre Stimme wieder, klingt wie zu Anfang, aber angestrengter, Glockenspiel und Rassel sind kaum noch zu hören, nur das Horn ‘trötet’ scheinbar unbekümmert weiter, klingt aber auch leiser und weniger lebhaft, macht sich ‘dünn’.’“ (Hecker 2003, S.38f) So geht es weiter und weiter im Konzert und die Klientin stellt fest: „‚Solch eine ‘Orchesteraufstellung’ bringt die Dynamik voll ans Tageslicht.’“ (a.a.O., S.40)

Mit Instrumenten lassen sich also Züge der eigenen Persönlichkeit anschaulich beschreiben. Die Nutzung von Instrumenten als Metapher reizt zum Vergleich. So wird die Familie – wie oben – zum Orchester. Das Instrument, das die eigene Person verkörpert, kann in Beziehung zu anderen gesetzt werden: „Wenn ich mit mehreren anderen zusammen bin, zum Beispiel auf einer Geburtstagsparty, dann warte ich ewig auf meinen Einsatz. Ich habe im Schulorchester früher immer mitgefiebert, ob die Orchesterpauke ihren Einsatz findet. Auch ich warte und fiebere – und dann bin ich so gespannt, dass ich alles falsch mache. Zumindest kommt es mir so vor. Falscher Ton an der falschen Stelle. Und allen fällt es auf – wie die Orchesterpauke.“

Wenn wir danach fragen, gelingt es Menschen leicht, sich mit Instrumenten zu vergleichen. Wir fragen KlientInnen zum Beispiel:

 „Wenn Sie ein Instrument wären, welches wären Sie?“

 „Und welches Instrument wäre Ihr Mann/Ihre Frau, Ihr Kind, Ihre Mutter, Ihr Vater, Ihre Schwester, Ihr Bruder, Ihr Arbeitskollege, Ihr Chef …?“

 „Wenn Sie Teil eines Orchesters oder einer Band wären, welches Instrument wären Sie? Oder: Welches Instrument würden Sie spielen?“

Auch hier sind die meisten um eine Antwort nicht verlegen. Da ist einer die Violine, die nur mit anderen zusammen hörbar ist, und eine andere die Leadgitarre, während eine dritte Person sich mit dem Rhythmusinstrument im Hintergrund identifiziert. Manchmal hören wir auch überraschende Antworten, die den Kreis der Instrumente bzw. der MusikerInnen verlassen, zum Beispiel:

 „Ich bin Zuhörer, immer nur Zuhörer.“

 „Dirigent, ganz klar.“

 „Ich würde alles aufbauen und wieder abbauen und wäre während des Konzerts in der Kantine, Brötchen schmieren.“

Jedes Musikstück kann mit musikalischen Parametern wie Rhythmus, Dynamik, Tonart usw. beschrieben werden, den in der klassischen Musik entwickelten Charakteristika und Rahmen des Musizierens. Auch diese eignen sich teilweise zur Identifikation.

Zu ihnen zählen der Rhythmus bzw. der Takt. Eine Klientin beschrieb ihr Leben als 3/4 -Takt: „Ich bin wie der Wiener Walzer, dum-ta-ta, dum-ta-ta … In meinem Leben ist nichts geradeaus. Jeder Schritt ist eine Drehung. Irgendwie staune ich, dass ich trotzdem vorwärts komme.“ Bitten wir KlientInnen, sich bzw. ihr Leben als einen Rhythmus darzustellen, sind diese danach oft überrascht über die Deutlichkeit des Ergebnisses. Verknüpfungen mit Melodien oder Tonarten sind uns kaum begegnet, häufiger aber mit der Dynamik, also im engeren Sinne mit der Lautstärke, die bei klassischen Stücken mit Bezeichnungen wie piano, forte usw. angegeben wird. Auch Menschen beschreiben sich (und andere) als laut oder leise und meinen damit zumeist mehr als die Lautstärke ihrer Äußerungen. In der Musik finden sich über den Noten häufig Bezeichnungen des Tempos, in dem es gespielt werden soll. Auch hier weisen diese Bezeichnungen oft über das Tempo hinaus und werden zu Charakterisierungen der Musik. In diesem Sinne können sie auch als Bezeichnungen genutzt werden, mit denen Menschen sich selbst charakterisieren. Solche Bezeichnungen, die wir hier für TherapeutInnen anführen, die in der Musik nicht so sehr bewandert sind, sind zum Beispiel:

Largo = breit, sehr ruhig

Lento = langsam

Grave = ernst, schwer

Adagio = ruhig

Andante = gehend

Allegro = schnell

Vivace = lebhaft

Presto = sehr schnell

Man sieht, dass Begriffe wie „ruhig“ oder „ernst, schwer“ sich nicht nur im engen Sinn auf das Tempo beziehen, sondern die Dynamik eines Musikstückes beschreiben. Dies gilt erst recht, wenn noch ergänzende Bezeichnungen hinzu kommen wie „agitao = aufgeregt, unruhig, nervös“ oder „meno mosso = weniger lebhaft“.

Mit solchen Qualitäten der Musik können sich viele KlientInnen (und selbstverständlich andere Menschen) identifizieren. In den schon erwähnten Kapiteln 3 und 5 werden wir genauer darauf eingehen, welche Bedeutung einige dieser Bezeichnungen als Erregungsverläufe oder Leibbewegungen für Diagnostik und Therapie haben. Aber nicht nur im therapeutischen Kontext begegnen wir den Verknüpfungen solcher musikalischer Bezeichnungen mit Selbstcharakterisierungen. Während eines Spanienurlaubs sahen wir eine junge Frau, die ein T-Shirt mit der Aufschrift trug: „Adagio – ma non troppo“ (Ruhig – aber nicht zu sehr).

2
Die musikalische Biografie

Wenn ein Mensch musiziert, fängt er nie am Nullpunkt an – immer schon sind musikalische Erfahrungen vorhanden. Wenn ein Mensch ein Lied hört, ist dies nie die erste Musik für seine Ohren – immer gab es schon vorher Klänge. Jedes Tönen und jedes Musikhören hat eine Geschichte: Schon unmittelbar nach der Geburt geben die Neugeborenen ihre ersten Töne von sich, schon im Mutterleib hören die Menschen die Herztöne der Mutter und viele andere Geräusche des Mutterleibes und der Umgebung. Und in der späteren Kindheit und Jugend wachsen die Erfahrungen mit Klängen, mit eigenen und fremden, verbalen und nonverbalen. Es entwickelt sich ein Ensemble musikalischer (Vor-) Erfahrungen, das bei jeder Person einzigartig ist. Wir nennen es musikalische Biografie.

In der therapeutischen Praxis und im Alltagsgeschehen begegnet uns diese Geschichte, die musikalische Biografie, manchmal unverhofft und überraschend. Da ist der Klang der Stimme am Nachbartisch, der in uns heftige Reaktionen hervorruft: „Wenn ich diese Stimme höre, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.“ Da hört das Ehepaar auf der Urlaubsfahrt mitten im Palaver mit den Kindern auf dem Rücksitz plötzlich im Radio ein Lied – „Unser Lied!“ – und schon ändert sich die Atmosphäre. Da findet die Frau beim Umsortieren der CDs die Aufnahmen von Joan Armatrading, deren Stücke in den ersten Wochen nach ihrer Trennung vom Ehemann ununterbrochen liefen. Oder da hört der Vater, als er sein Kind im Kindergarten abholt, das Kinderlied, das sein früh verstorbener Vater immer mit ihm gesungen hat, und wird überwältigt von Trauer. Dass musikalische Biografie in jedem Menschen existiert und dass sie eine Wirkung im Alltag haben kann bzw. hat, ist keine Erfindung der MusiktherapeutInnen, sondern Lebenserfahrung. MusiktherapeutInnen können sich diese Erfahrung zu Nutze machen.

Für MusiktherapeutInnen ist zuerst einmal wichtig zu wissen, dass sie selbst und ihre KlientInnen eine musikalische Biografie haben. Daraus können sie die Sicherheit und das Selbstbewusstsein ziehen, dass Musiktherapie bei ihnen und bei anderen einen Boden hat, etwas, woran sie anknüpfen können. Die eigene musikalische Biografie zu kennen und die der KlientInnen kennen zu lernen, ermöglicht Zugänge zu Mustern und Zugänge zu Wegen der Veränderung (s. a. Frohne-Hagemann, 2001, S.175ff). Einige der Möglichkeiten und Aspekte, mit denen musiktherapeutisch auf die musikalische Biografie Bezug genommen und mit ihr gearbeitet werden kann, möchten wir im Folgenden beleuchten.

2.1 Mein Leben – meine CD

Eine Klientin bzw. ein Klient oder die TeilnehmerInnen einer Gruppe bekommen die Aufgabe:

„Stellen Sie sich eine eigene Musikkassette oder eine eigene CD mit dem Titel ,Mein Leben’ zusammen. Diese CD sollte chronologisch angeordnet sein, also mit der Zeit um Ihre Geburt herum beginnen und bis heute reichen. Sie kann musikalische Aufnahmen enthalten, die für Sie in bestimmten Lebensphasen wichtig waren, oder Musikstücke, die für einen bestimmten Zeitabschnitt ihres Lebens ,stehen’.“

Um diese Arbeit zu leisten und solch ein musikalisches Lebenspanorama zu erstellen, braucht es mindestens vier Wochen Zeit. Der Zeitraum ist nicht nur notwendig für die technischen und organisatorischen Tätigkeiten (Musikstücke suchen, sie aufnehmen usw.), sondern vor allem für den inneren Prozess der Beschäftigung mit dem bisherigen Leben und der musikalischen Biografie. Oft entstehen schnell erste Ideen, verändern sich dann aber, anderes kommt hinzu, manches wird weggelassen. Unbeachtetes tritt gewichtig und tönend in den Vordergrund, „zufällig“ begegnet man der Musik, die „passt“.

Diese Arbeit kann die Intensität und die Mühe annehmen, die mit dem Schreiben eines biografischen Romans vergleichbar sind. Nicht nur die Erinnerung an vergangene Zeiten, sondern gerade auch an das Erleben, das in diesen Zeiten vorherrschend war bzw. mit diesen Zeiten verknüpft ist, wird wieder lebendig.

Die CD bzw. MC, die aus diesem Prozess heraus entsteht, ist häufig ein buntes Stil-Durcheinander. Da steht die Operetten-Melodie, die sonntagnachmittags beim gemeinsamen Fernsehschauen mit den Eltern erklang und diese Zeit repräsentiert, neben dem Jimmy Hendrix der aufbrechenden Jugendzeit. Da hört man John Cage für die Schlusszeit der ersten Ehe („Da gab es keine Musik“) neben den Kinderliedern des Gripstheaters, die man mit den eigenen Kindern geschmettert hat. Da repräsentieren harte Punkstücke die Studienzeit („Bis die Prüfungen begannen“) und die Ouvertüre der Zauberflöte die frühe Kindheit („Meine ersten Jahre waren wie Mozart, bis wir umzogen“).

In der Arbeit an der Kassette oder CD „Mein Leben“ erklingt das eigene Leben. Klänge, Bilder, Gefühle, Erfahrungen werden lebendig, ziehen an den KlientInnen vorbei und berühren sie. Diese Erfahrung kann schmerzhaft sein oder beglückend, in jedem Fall ist sie ein wichtiger Erlebnis- und Erfahrungsprozess. Manche KlientInnen berichten, sie hätten ihr Leben „neu sortiert“. Andere sagen: „Ich habe mich gehört und ich habe mir wirklich zugehört.“

Damit dieser Erfahrungs- und Arbeitsprozess nicht uferlos wird, bedarf es eines Rahmens. Es hat sich bewährt, einen Zeitrahmen zu setzen, in dem die CD oder MC erstellt werden muss, auch wenn sie der Klientin oder dem Klienten dann noch unfertig erscheint. Und es hat sich ferner als günstig erwiesen, für das Volumen der aufgenommenen Musikstücke einen Rahmen zu setzen. Sinnvoll sind unserer Erfahrung nach etwa 60 Minuten (auch wenn manche KlientInnen dann noch bis 90 Minuten „überziehen“: „Das ging nicht anders …“ – was dann ja in Ordnung ist).

Ein solch aufregender Prozess bedarf der Spiegelung. KlientInnen haben etwas erstellt, haben damit sich, ihr Leben und Erleben präsentiert und hörbar gemacht. Nun wollen sie, dass andere es hören, und sind manchmal gleichzeitig scheu oder ängstlich, was denn die anderen dazu meinen, ob das, was sie selbst erstellt haben, überhaupt zumutbar ist usw. Die Einzeltherapie oder die therapeutische Arbeit in der Gruppe ist hierfür ein geeigneter geschützter Rahmen. Wenn Klientinnen oder Klienten hier nach und nach ihre musikalische Biografie vorspielen, hören Therapeut oder Therapeutin bzw. auch die anderen GruppenteilnehmerInnen vieles aus deren Leben. Dies bedarf des Interesses und der Zeit und ist nie Sache nur einer Therapiestunde bzw. einer einzigen Aktion. Die musikalische Biografie bietet so viel reichhaltiges Material, dass auch später an sie angeknüpft und mit ihr auf verschiedene Art und Weise weiter gearbeitet werden kann.

2.2 The best of

Auch der folgende Weg ist methodisch wie unser erster Vorschlag eine Panoramatechnik. Das Panorama ist ein Bild, über das man den Blick schweifen lassen kann, in der Malerei zumeist die große und breite Ansicht einer Landschaft oder eines historischen Ereignisses, z. B. einer Schlacht. Der Blick kann, wie gesagt, schweifen, hier oder dort verweilen, einmal diesen und einmal jenen Aspekt genauer in Augenschein nehmen. Wie bei der eben beschriebenen Methode lädt auch die folgende Methode dazu ein; im feinen Unterschied zur vorherigen, die Leben und Erleben musikalisch umgesetzt wissen wollte, liegt hier der Fokus eindeutig auf der musikalischen Biografie. Wir fordern z. B. die TeilnehmerInnen einer Gruppe auf:

„Legt eine Liste an und sammelt in den nächsten Wochen zehn Ereignisse, Musikstücke oder Gegenstände aus eurer musikalischen Biografie und schreibt sie auf. Das können Erinnerungen sein, die mit eurer musikalischen Biografie in Verbindung stehen, oder Musikstücke, die ihr gespielt oder gehört habt, die euch in irgendeiner Weise wichtig waren, Instrumente oder Gegenstände, die ein musikalisches Ereignis repräsentieren. Bringt dann drei davon mit – sozusagen ,the best of …’. Wählt also aus, welche drei euch am wichtigsten sind. Bringt die Musik z. B. auf Kassette oder CD mit, so dass ihr sie hier vorspielen könnt, oder bringt die Gegenstände mit, die mit einem Ereignis verbunden sind.“

Auch hier ist es wichtig, Zeit zu lassen und gleichzeitig einen Rahmen vorzugeben. Die KlientInnen oder GruppenteilnehmerInnen denken häufig, dass ihnen keine zehn Musikstücke oder Ereignisse einfallen, doch dann, wenn sie erst einmal angefangen haben, ihr Gehör, ihren Blick, ihre Erinnerungen schweifen zu lassen, kommt eins zum anderen, fällt ihnen viel mehr ein, als sie vorher vermutet haben. Schwierig – und besonders wichtig – ist dann der Prozess, die drei wichtigsten Musikstücke, Ereignisse etc. (The best of) auszuwählen. Was ist nur nette Erinnerung und was hat wirklich Bedeutung für mich und mein Leben – diese Fragen gilt es zu beantworten. Das Spektrum der Musikstücke, die ausgewählt werden, ist ähnlich breit, wie vorhin beschrieben. Auch die Gegenstände, die mitgebracht werden, sind sehr unterschiedlich, manche haben unmittelbaren musikalischen Bezug, z. B. das Instrument oder der alte kaputte Geigenbogen („mein erster“). Bei anderen erschließt sich der Zusammenhang mit der musikalischen Biografie erst durch die kommentierenden Erzählungen, wie z. B. beim FDJ-Hemd, das an einen erzwungenen Auftritt erinnert, oder dem Foto der Oma („… die mir die ersten Lieder beigebracht hat“).

Die Teilnehmerin einer Fortbildungsgruppe bringt zur Arbeit mit ihrer musikalischen Biografie drei Erlebnisse, die Bedeutung für sie haben, mit. Mit ca. 5 Jahren, erinnert sie sich, an der Seite ihres Vaters ein Konzert eines Knaben-Chores besucht zu haben und dabei fast implodiert zu sein vor Erregung und Begeisterung. Als etwas größeres Mädchen – dieser Erinnerung gibt sie ebenfalls entscheidende Bedeutung – sang sie während einer musikalischen Theateraufführung in der Schule ein kesses Lied. Die dritte wichtige musikalische Station erlebte sie erst vor kurzem: Da sang sie Lieder von Friedrich Holländer in der Kirche! Nun, in der Gruppensituation, erzählt sie diese drei Erlebnisse, lässt die anderen teilhaben an ihrer kindlichen Bewunderung für den Knabenchor, singt das kesse Lied aus der Schulzeit und ein Lied von Hollaender. Die Therapeutin sagt: „ Darf ich dir etwas über mich mitteilen? Wenn ich dich so erlebe, wie du erzählst und singst, und wenn ich dabei auf meine Resonanz achte, dann spüre ich deutlich mein Herz. Es ist einerseits aufgeregt und klopft stark, zieht sich aber gleichzeitig zurück, engt sich ein, fühlt sich fast ein bisschen eingesperrt, zieht in jedem Fall irgendwie die Bremse. Wenn ich hinhöre, was mein Herz möchte, dann möchte es, glaube ich, aus der Einsperrung heraus, möchte sich in die Weite hinein ausdrücken.“ Während der letzten Worte hat die Teilnehmerin schon leise zu weinen angefangen und sagt jetzt: „Was du sagst, berührt mich sehr. Es trifft genau das, was ich in meinem Herzen spüre.“

„Magst du mal probieren, aus dem Herzen heraus zu singen? Vielleicht das Lied von eben, das von Friedrich Hollaender?“

„Ja“, und sie zögert ein wenig, um dann mit leiser Stimme zu sagen: „Aber ich weiß nicht, wie.“

„Was brauchst du, um aus deinem Herzen heraus zu singen, um dein Herz singen zu lassen?“

Sie braucht nur einige kleine Momente zum Überlegen und die Aufforderung, ruhig ein bisschen mutig zu sein in dem, was sie sich wünscht oder was sie fordert, um dann zu sagen: „Kannst du bitte (zu der Therapeutin gewandt) in meinen Rücken kommen, dich in meinen Rücken stellen und kann die Gruppe sich und mich bitte an den Händen fassen und einen Kreis bilden?“

Die GruppenteilnehmerInnen fassen sich und sie an den Händen, die Therapeutin stellt sich hinter ihren Rücken und fragt, ob sie ihre Hände auf den Rücken legen soll oder darf, vielleicht auf die Rückseite des Herzens. Das wird ausprobiert, bis die Klientin schließlich sicher weiß, dass sie die Hände der Therapeutin in ihrer Nierengegend spüren möchte. Und dann beginnt sie zu singen, nicht das vorgegebene Lied, sondern Töne aus dem Jetzt heraus, mit einer Stimme, die aus dem Herzen kommt und die Herzen der anderen erreicht.

In diesem Beispiel hat die Arbeit mit der musikalischen Biografie zu einem neuen Thema der Teilnehmerin, dem ihrer eigenen Stimme (s. Kap. 1.4) und ihrer Identität als Sängerin, geführt.

Man kann die Arbeit mit der musikalischen Biografie sehr offen gestalten und allen Spuren folgen, die sich ergeben. Es kann auch sinnvoll sein, die Weiterarbeit auf einige Fragen zu zentrieren: „Was hast du vom Musizieren und Musikhören in deinem Leben gehabt?“, „Wovor hat es dich bewahrt?“, „Wie haben sich durch Musikhören und Musizieren deine sozialen Kontakte verändert?“

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