Читать книгу: «Die Vier-in-einem-Perspektive», страница 8

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»Der Kundenwert wächst so über das blanke Kosten-Nutzen-Kalkül hinaus. Beim Auto z. B. gilt es, die emotionalen, eventiven Mehr-Werte – Fahrspaß, Erlebnis durch Mobilität, Statusgewinn, Sorglosigkeit durch Sicherheit und Perfektion, Fahrdynamik im Verkehrsfluss, gutes Gewissen durch Umweltbeachtung, Wertbeständigkeit durch Markenimage – unternehmerisch zu neuen Wertschöpfungspotenzialen zu steigern.« (66)

Hartz nennt dies Amalgam von Mitarbeiter, Werbung und Unternehmen »Verhaltenskultur« (66). Das zugehörige »mündig-mutige« Individuum ähnelt unvermittelt Faust:

»Nur wer nach den Sternen greift und dabei die inneren Kräfte der Fantasie anfacht, vermag sich zu halten. Die Fähigkeit, neue Qualitäten zu entwickeln, hält uns nah an der Utopie […]. Es ist die Chance, im Job zu Hause zu sein.« (67)

Das Modell von Hartz ist nicht nur eine Verschmelzung von Werbung und Politik bzw. Politik als advertising. Im selben Zug wird staatliche Politik unter die Anforderungen der Wirtschaft gestellt. Dies auf doppelte Weise: Es geht einmal darum, die Gewinner zu Hochleistungen anzuspornen, zum anderen aber auch darum, die Verlierer von Unruhen abzuhalten, sie irgendwie unterzubringen, da man sich ihrer nicht einfach entledigen kann. Letzteres geschieht, indem die Unteren im Namen der Oberen angerufen werden, als ob für alle Gleiches gelte. Und in der Tat geht es auch darum, die Restgesellschaft, das, was nicht bereits profitlich verteilt ist, in die Obhut der Restmenschen zu geben, als seien sie ebenfalls Unternehmer. Dabei strahlt Hartz ein Versprechen auf Zukunft (ein sehr häufig verwendetes Wort) aus, die es für die meisten nicht gibt.

In diesem Hochgeschwindigkeitszug, als den wir uns die Gesellschaft vorstellen sollen, bleibt die Frage nach den Geschlechterverhältnissen bzw. danach, wie die Geschlechter eingespannt werden in die Reproduktion dieser Gesellschaft, seltsam leer. Wir erinnern an Gramscis Analyse der fordistischen Produktionsweise und der Stellung der Hausfrauen im Gesamtgefüge, an den männlichen Ernährer und weibliche Abhängigkeit von seinem Lohn. Bei Hartz ist die Entwicklung zumeist geschlechtlich neutral gehalten. Bis auf wenige Ausnahmen handelt er von Menschen im Allgemeinen. Aber es gibt ein Extrakapitel zu Frauen – zwei Seiten sprechen darüber, dass die »Hälfte der Zukunft den Frauen« (59 f) gehört. Hier erlahmt seine gewohnte Wortgewandtheit. Außer allgemein »Frauenförderung« zu erwähnen und einen »Girls Day« zu planen, an dem die Töchter mit in den Betrieb dürfen, empfiehlt er noch Selbstverteidigungslehrgänge, »Frauenkooperations-Seminare« sowie ein »Gleichstellungsaudit« gegen sexuelle Belästigung und begründet:

»[Im] Erfolg von morgen […] die Hälfte der Menschheit übergehen zu wollen, halbiert die unternehmerische Energie und zerstört die Wurzel unternehmerischer Verhaltenskultur – das persönliche Engagement, Initiative mit Herz und Hirn« (60 f).

Dies alles trifft jedoch die Frauenproblematik, welche mit der Weise zu tun hat, wie in einer Gesellschaft die Reproduktion von Menschen stattfindet und eingeplant ist, nur peripher. Waren Frauen im alten fordistischen Modell zuständig für die psychophysische Balance – für Freizeit, Gesundheit, Ernährung, Erziehung –, sind sie bei Hartz doppelt freigesetzt. Sie sind die Abhängigkeit vom Ernährer ebenso los wie diesen selbst. Jede kann sich gleichberechtigt in die Hochleistungsgesellschaft begeben und versuchen, die genannten Aufgaben an die Gesellschaft zu delegieren, die sie unter Privatisierungspraxen und Sozialstaatsabbau an sie zurückschickt, sodass sich in der Bewerbung ums Olympiateam sehr viele Behinderte finden, am Start mit Einkaufstüten und Babys im Arm. Kinder im alten Sinn tauchen kurz als Aufgabe auf, die mittels Training zu lösen ist, mit einer Anleitung, »wie werdende Eltern ihr individuelles ›work & life balance‹-Modell gestalten können« (60 f). Wieder geht es um Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit wie lange schon, diesmal als partnerschaftliches Konfliktmodell – da ist nichts, in das sich Gesellschaft einmischen müsste. Es ist offensichtlich, dass nur eine Minderheit von Frauen zu den Gewinnern zählen wird, während die Mehrzahl in Armut lebt, wie dies schon jetzt für die ›Alleinernährenden‹ der Fall ist. Die Zahlen im Mikrozensus von 2002 weisen Anteile von 68 Prozent, 70 Prozent und 80 Prozent Frauen bei Teilzeitarbeit, Niedriglohn-Jobs und Armut aus. Die doppelt freien Mütter bilden den Sockel der Armut. Dies geht natürlich nicht aufs Konto von Hartz, sondern entspricht einem Gesellschaftsmodell, in dem Natur als Steinbruch genutzt wird, in dem also die vorhandenen Ressourcen verbraucht werden, bis nichts bleibt. Frauen tragen durch ihren ›Naturanteil‹ an der Reproduktion die Effekte neoliberaler Revolutionierung von Gesellschaft mehr, haben mehr Grund gegen Hartz und seinen »neuen Menschentyp«, der auch die Agenda 2010 bestimmt, zu streiten.

Gegen Hartz wird häufig eingewandt, er propagiere alte Familienwerte. Dies ist nur sehr bedingt richtig. Er benutzt vielmehr die mit Familie verbundenen Gefühle, um sein Projekt der »Job-Revolution« zu untermauern. Insofern kann auch sein Familiendiskurs als Studienobjekt für die Verschiebung von Sprache, Wörtern aus dem Gewohnten ins Profitunterworfene dienen. Es geht ihm darum, aus dem »beruflichen Umfeld ein Zuhause« zu machen, »die Heimat der Job-Familie« (78). »Job-Familien […] jagen der Zukunft voran« (72). Es gibt »Job-Eltern«, das sind Vorbilder in der Arbeit, »Job-Kids« (74), das sind die Lehrlinge. »Job-Familien sollen schon vom Wortsinn unterstreichen, dass ganz andere Bindungsformen nötig sind.« (75) »Im Zeitalter der Jobfamilien« werden Universitäten und Sozialleistungen »virtuell«. Auch ziehen »die Familienmitglieder neue Nachwuchskräfte an. In einer Job-Familie zu arbeiten, der die Zukunft gehört, macht Spaß« (78 f). Jeder hat »im Familien-Konzept […] einen persönlichen Entwicklungsplan« (79).

Die Vorschläge der Hartzkommission gingen im Großen und Ganzen in die Agenda 2010 der Regierung ein, aber eigentümlicherweise nichts von Hartz’ Vision vom neuen Menschen. Da dieser aber das notwendige Fundament ist, auf dem die ganze Umgestaltung der Gesellschaft ruht, bleiben die Regierungspläne so bürokratisch leer, wie der Protest dagegen aus der defensiven Klage nicht herauskommt. Man sieht nur mehr die Kürzung von Renten, von Gesundheitsversorgung, von Bildung, von Sozialausgaben, von Arbeitslosengeld usw. Wie wäre es dagegen, sich in den Kampf um den neuen Menschen einzumischen? Wie wir uns als Menschen denken und imaginieren, wohin wir wollen, wer wir sind, dazu könnte man ein buntes Volksbegehren entfachen, streiten, mobilisieren, Stücke schreiben und Straßentheater aufführen, gar Charlie Chaplins Modern Times als Postmoderne Zeiten neu drehen. »Rennen, rackern, rasen«, »fit, fähig, flexibel, fantastisch« – ist dies der Traum, den wir für unsere Zukunft hegen?

Reproduktionsarbeit

Das Merkwürdige ist, dass Reproduktionsarbeit weit weniger als Erwerbsarbeit unmittelbarer Gegenstand meiner politischen und wissenschaftlichen Forschungsarbeit wurde. Und doch gab es überhaupt keine Veröffentlichung, in der sie nicht irgendwo eine Rolle spielte. Indem sie nicht im Zentrum stand, stellte sie aber auch in Frage, ob es weiterführend sei, ein Zentrum anzunehmen. Das beginnt hier mit dem ersten Text, der sich autobiographisch-politisch die Frage nach der historischen Verortung der Frauenpolitik stellt, die wir betrieben haben. Man spürt die Notwendigkeit, einen Anker in der Geschichte zu finden, die Suche nach einem Vorbild, als das unsere Frauengruppe fast natürlich keine Hausfrau wählte – wo kämen die je als Vorbild vor –, aber eine Mutter, Pelagea (nach Brecht und Gorki). Aber diese sprengt alle gewöhnlichen Vorstellungen von Müttern, sie wird im Laufe der Handlung Revolutionärin, und auf diese Weise kommen alle großen Fragen nach Partei, Revolution und Staat vor. In diesem Aufsatz erfährt man, wie die Gruppe die eigenen Erfahrungen nicht wichtig fand und sie schließlich doch zur Grundlage weiterer Forschung und Politik machte; er zeigt auf diese Weise auch, wie die persönlichen Fragen zusammenhängen mit der Politik im Großen. Man erfährt, wie das Nachdenken über die Frau im Hause zur Frage nach der Macht im Staat wird, aber auch, dass diese Erkenntnis nicht praktisch werden kann ohne Selbstkritik und Selbstveränderung jeder Einzelnen. In einer Zeit, in der die Frage, was Feminismus sein könnte, wieder aktuell geworden ist, ist dieser Text eine notwendige Grundlage. – Der Beitrag zu Knabenspielen als Menschheitsarbeit stieß in die damalige feministische Debatte wie in ein Wespennest. Zunächst veröffentlicht in einer Diskussionszeitschrift, erhielt er eine geradezu niederdrückende Menge an zerreißenden Kritiken, die schwer nachzuvollziehen sind, wenn man ihn heute studiert. Offenbar wurde sein Grundimpuls durchaus verstanden, nämlich die gesamte Denkstruktur zum Verhältnis von Kapitalismus und Patriarchat, also auch die theoretischen Grundlagen des akademischen Feminismus umzustürzen und an die Stelle eine Theorie der Geschlechterverhältnisse zu setzen, die Letztere als Produktionsverhältnisse begreift. Man liest in den einzelnen Formulierungen noch leichtes Zögern. Ich habe das Thema nicht mehr losgelassen, sondern weiter daran gearbeitet und es zehn Jahre später in einem grundlegenden historisch-kritischen Beitrag veröffentlicht (vgl. HKWF 2003, 436 – 497; eine Kurzfassung folgt am Schluss dieses Buches). Die Vier-in-einem-Perspektive taucht hier als eine Art visionärer Horizont und noch etwas unfertig als Leitfaden praktischer Politik auf. – Der Beitrag zur Neuen Mitte scheint veraltet, da er über Schröder und Blair spricht, ist jedoch hochaktuell. Im Zentrum stehen die Familienvorstellungen des Blair-Beraters Giddens; aus ihnen werden scharfe Maßstäbe für eine sozialistische Politik entwickelt, an denen auch die Auffassungen von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi gemessen werden. Keine der Fragen an sie ist überholt. – Der vierte Text scheint die Ebene der großen Politik zu verlassen, um sich in die Niederungen alltäglicher Erfahrungen zu begeben. Er ist ein Experiment, indem er ganz persönliche Erlebnisse mit sozialpolitischen Analysen im Großen in den Umbrüchen des Gesundheitswesens verknüpft. In dieser Weise ist er auch ein Vorschlag an alle, selbst so zu verfahren, um in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Schwäche wird als Analysemittel benutzt und so Erfahrung mit Kritik der politischen Ökonomie verbunden und Politik mit dieser.

Wie Pelagea Wlassowa Feministin wurde

Ich stelle mir die Frage: Warum haben wir, Frauen aus dem »Aktionsrat zur Befreiung der Frau« (den wir umbenannt hatten in »Sozialistischer Frauenbund West-Berlin«), uns Pelagea Wlassowa für unsere Zeitschrift und damit als Leitbild für uns selbst ausgesucht? Schließlich ist das Stück von Bertolt Brecht, in dem sie Hauptfigur ist, zu den Hochzeiten des Stalinismus geschrieben (1930 – 32). Auf der Grundlage eines Romans von Maxim Gorki, der während der Weltwirtschaftskrise spielt, berichtet es von einer Revolution. Was hatte das mit uns und unserer Lage in der sozialdemokratisch regierten Bundesrepublik zu tun? So merkwürdig das heute scheint, wenn man dieses Stück wieder liest, so höre ich doch zugleich hinter eigenem Staunen noch das Echo der Worte, die wir damals (1970) auf uns bezogen, mit denen wir uns ohne Zweifel gemeint und aufgerufen fühlten.

Lob des Lernens zum Beispiel mit der Botschaft: »Du musst alles wissen, du musst die Führung übernehmen« – wir schrieben diesen Satz leicht geändert in »Alle sollen alles wissen« auf ein Plakat und trugen ihn zur Empörung der Ordnungshüter von der damaligen Westberliner Schwesterpartei der SED auf einer 1. Mai-Demonstration.

Oder dass über das Fleisch in der Suppe nicht in der Küche entschieden wird, sodass uns ganz folgerichtig schien, »dass wir den ganzen Staat von oben nach unten umkehren« müssen.

In solchen Sätzen, Liedern, von Hanns Eisler vertont, lernten wir früh die später abstrakter gesprochenen Lehren vom Zusammenhang von Öffentlichem und Privatem, vom Persönlichen, das politisch ist.

Oder im Lied, wo gegen den Hunger ein Stück Brot, gegen die Kälte ein Flicken erkämpft wird und die Arbeiter rufen: »Wo ist der Brotlaib, wo ist der ganze Rock?«, bis sie schließlich die »Macht im Staat« fordern. Wir hungerten nicht und froren nicht, aber solche Haltungen lasen wir als Aufrufe gegen die Bescheidenheit und entzifferten sie für uns als revolutionäre Radikalität gegen kleinliche sozialreformerische Kämpfe – kurz, wir fühlten uns ausgedrückt.

Vor allem war da die Mutter, eine einfache Frau, die lernt, die Vernunft einsetzt, die ein »Maulwurf der Revolution« ist.

Im großen Einverständnis übersahen wir, dass dies auch eine Revolutionslehre ist, die Umsturz von oben denkt, angeleitet durch eine – die – Partei, eine Avantgarde, die weiß, wohin es geht, eine Lehre, die uneingeschränkt auf die Vernunft der einen setzt, um die Unvernunft der anderen zu überwinden.

Das ist nicht ganz richtig erinnert, dass wir dies alles übersahen, vielleicht besser, dass wir es bejahten, ohne es wirklich in jede Richtung zu durchdenken.

Wir dachten über uns nicht in Begriffen wie Avantgarde oder Führung, aber wir waren überzeugt, dass wir Teil einer Lernbewegung waren, angetreten, um so viel Wissen zu erwerben, dass wir gleich einer Partei oder gar mit einer imaginären Partei alle Frauen zum Umsturz der Verhältnisse bewegen könnten. Wir benutzten sogar solche Begriffe wie Partei und Massen, aber das war zur damaligen, vom studentischen Slang geprägten Zeit üblich.

Als Teil einer schnell wachsenden Bewegung, die wir zugleich mitbewegten und die sich von uns entfernte, versuchten wir das parteiliche Avantgarde-Modell bewegungsmäßig umzubauen, ohne es preiszugeben. Wir erfanden die Organisation als Durchlauferhitzer. Bei uns war man Mitglied, wir erarbeiteten ein Statut, zahlten Beiträge, gaben uns Ziele und suchten nach den besten Wegen dorthin; wir trafen uns über mehr als ein Jahrzehnt zur gleichen Zeit – mittwochs um 21 Uhr, da konnten die Kinder vorher ins Bett gebracht werden – und wir schufen ein kompliziertes Modell, nach dem wir der Tendenz nach hätten wachsen können, bis die ganze weibliche Stadt bei uns war, ohne dabei den Anspruch nach Bildung, Schulung, Lernen aufzugeben – d. h. wir organisierten uns in Schulungsgruppen. Dass wir dennoch immer etwa gleich viele – nicht mehr als 100 – blieben, dass jeweils ebenso viele gingen, wie Neue kamen, irritierte uns nicht genug – für diesen Prozess brauchten wir das Bild vom Durchlauferhitzer und erklärten die Bewegung, für die wir zusammenkamen, einfach als größer, übergreifender.

Kürzlich wurde ich von Cristina Perincioli (vgl. 1999) mit folgendem Satz aus unserem Statut konfrontiert: »Wir organisieren uns zunächst als Frauen separat, um in theoretischer Arbeit die Ansatzpunkte zur spezifischen Frauenagitation herauszufinden. Wir sehen dies als Voraussetzung, um unter Führung der Kommunistischen Partei unsere Aufgaben im Klassenkampf zu übernehmen.«10 Die Anklage in Perinciolis Frage, die zugleich unsere Verurteilung war, wurde mir spontan zum abwehrenden Schrecken. Ich erinnerte mich nicht und hielt solche Sätze einfach für erfunden. Ich konnte das natürlich nachlesen. Und da stand es wahrhaftig zusammen mit all den anderen Sätzen über die Isolation der Hausfrau, den Glauben an die Emanzipation durch Teilnahme am »Produktionsprozess«, die so viele richtige Elemente enthielten, wie sie verkürzt und daher auch nicht richtig waren. Heute höre ich in den zitierten Sätzen in erster Linie eine demütige Unterstellungshaltung, und dies, nachdem wir damals erst angefangen hatten, aus gewohnter Bescheidenheit hervorzutreten. Das Ganze wurde noch schlimmer, wenn ich mir die damalige Kommunistische Partei in Erinnerung rief, von der mir heute hauptsächlich der Eindruck geblieben ist, dass sie grau, kleinlich, bürokratisch und vor allem in keiner Weise von der Leidenschaft getragen war, die ich doch für uns im Gedächtnis hatte. Diese Unvereinbarkeit und die neuerliche Lektüre der Mutter von Brecht und die Erinnerung an die Lieder, die wir mitgesungen hatten, brachten mich auch zum Lied über die Partei. Der Kontext: Die Mutter ist krank, der Lehrer rät ihr, im Bett zu bleiben, da sie ohnehin wenig ausrichten könne. Da kommen die Arbeiter und singen:

Steh auf, die Partei ist in Gefahr! – Du bist krank, aber die Partei stirbt. – Du bist schwach, du musst uns helfen! – Steh auf, die Partei ist in Gefahr! – Du hast gezweifelt an uns – Zweifle nicht länger: – Wir sind am Ende. – […] Steh auf, die Partei ist in Gefahr! – Steh schnell auf! – Du bist krank, aber wir brauchen dich. – Stirb nicht, du musst uns helfen. – Bleibe nicht weg, wir gehen in den Kampf. – Steh auf, die Partei ist in Gefahr, steh auf!

Natürlich können wir solche Passagen ansehen und für unpassend, verfehlt, auch einer bestimmten Position zugehörig halten, die Revolution von oben, gelenkt durch die Partei, denkt; und doch, dies erneut lesend, wusste ich auch wieder, dass und warum wir solches geschrieben hatten wie den zitierten Satz aus dem Statut. Wir hatten gar nicht an die Westberliner Kommunistische Partei gedacht, sondern an diese literarische, an dieses Wort, das für uns Hoffnung war, dass es auf uns ankäme und wir gebraucht würden in einem großen Kollektiv, das wir noch nicht kannten. Im Grunde spricht hier auch Brecht, sosehr er über die Partei zu sprechen scheint, über dieselbe als eine Existenzweise des Aufbruchs der Massen, keinesfalls als bürokratische Führung und Verwaltung. Gleichwohl war dies auch eine Illusion von uns, aber eine, wie sie in Befreiungsbewegungen überall auf der Welt vorkommt.

Dass wir also Parteinähe im Statut formulierten, obwohl wir in der Wirklichkeit keiner nahestanden, dass wir so energisch auf Organisation bestanden, Schulung für das Wichtigste hielten und an unserer Vernunft arbeiteten, brachte uns bald in Konflikte mit den bewegten Frauen, die das Wort »autonom« für sich reklamierten. Da wir zwar den damaligen rivalisierenden studentischen »Arbeiterorganisationen« ein schmackhafter Bissen waren, den sie sich einverleiben wollten, wir uns aber vielleicht nicht als Einzelne, doch als Gemeinschaft unabhängig fühlten, haben wir den Hauptvorwurf, wir seien nicht autonom, nie wirklich verstanden, ich zumindest nicht.

Vielleicht könnte ich ihn aufs Denken beziehen: Sollte er meinen, dass wir uns im Denken nicht wirklich auf freien autonomen Bahnen bewegten? Obwohl ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, dass man sich ganz außerhalb von Geschichte stellen und ganz autonom denken kann, ergäbe ein solcher Vorwurf einen bestimmten Sinn, unter dem ich den folgenden Lernprozess abbilden möchte.

Ich kann natürlich nur einen kleinen Ausschnitt berichten. Modellhaft nehme ich die Geschichte der »Schulungsgruppe 6«, die zugleich ganz einmalig und wiederum ganz exemplarisch dafür stehen kann, was damals mit uns geschah.

Lernen, um zu wissen

Wenn genügend Neue ins Plenum kamen, bildeten wir neue Schulungsgruppen, die sich jeweils einer Schulungsleiterin – das war eine Frau, die schon mindestens ein Jahr bei uns war und in einer Schulungsgruppe gelernt hatte –, zugesellten. Ich war eine solche Leiterin und bot also ein Thema an, in diesem Fall »Bildung und Lernen«, und zu mir kamen diejenigen, die dazu Lust hatten oder mich mochten. So ein Thema ergab sich aus praktischen Problemen, damals z. B. aus der geringen Qualifikation von Mädchen, die zahlreich nicht einmal einen Hauptschulabschluss machten. Unsere Idee war, innerhalb eines Jahres so viel Wissen zur geschlechtsspezifischen Bildung und zum Lernen zu erarbeiten, dass wir öffentlich auftreten und Mädchen überzeugen könnten, wie wichtig Lernen und Abschlüsse für ihre Position in der Gesellschaft waren. Das heißt auch, dass wir dem Trugschluss aufsaßen, dass eine bessere Ausbildung Frauen zur Gleichberechtigung verhelfen könnte; zudem nahmen wir an, dass auch die Entscheidung fürs Lernen von uns veränderbar war und dass diese Veränderungskompetenz wiederum durch Wissenserwerb erreichbar sei.

Ich erstellte eine Literaturliste; wir trafen uns abends, einmal pro Woche; wir erarbeiteten die Texte und aßen und tranken, bevor wir auseinandergingen, und taten das mit wachsendem Vergnügen. Bald kamen wir an den Wochenenden auch außerhalb Berlins zusammen, d. h. wir lebten einen wachsenden Teil von Zeit gemeinsam, wir verreisten (schon Pelagea 3 schmückt auf der Umschlagseite ein Foto von uns, wie wir in Bikinis im hohen Gras fern von Berlin im Kreis sitzen, lesen, schreiben, diskutieren); wir feierten Geburtstage, kochten gemeinsam und durchstreiften die Berliner Kneipen bei Nacht, was zu der damaligen Zeit für Frauen als anstößig galt. Wir organisierten Konferenzen, Demonstrationen, kurz, wir wuchsen als Gruppe, die aus ganz unterschiedlichen Frauen bestand, was Alter, Beruf, Ausbildung anging, so zusammen, dass wir bald, weil wir so einig und begeistert waren, in der Politik des Frauenbundes bestimmend waren. Aber schon kam die Zeit, nach der wir uns gemäß dem Statut trennen mussten, jede eine neue »Keimzelle« werden würde. Obwohl wir uns auch verantwortlich für den Gesamtverein fühlten, begannen wir ernsthaft und vernünftig, eine Regelverletzung zu erdenken und zu begründen, um uns nicht zu trennen. Wir kamen nicht auf die Idee zu behaupten, dass wir vielleicht noch nicht genug gelernt hätten, das hätte ja das gesamte Konzept von Schulung als Schneeballsystem in Frage gestellt; wir erfanden stattdessen eine neue »notwendige Aufgabe«, die nur wir als Gruppe erledigen konnten: Wir wollten ein Buch darüber schreiben, wie wir als Gruppe gelernt hatten; ein Buch für die Frauenbewegung, das ihr das Lernen so leicht und vergnüglich machen sollte, wie wir es erfahren hatten. Dafür veranschlagten wir ein weiteres gemeinsames Jahr.

Mit diesem hoffnungsvollen Auftrag, wiederum etwas zu erarbeiten, das wir an solche, die wir weniger wissend dachten, weitergeben wollten, uns also schon im Vorhinein nützlich fühlend, setzten wir uns ans Werk. Zunächst schrieben wir Zusammenfassungen zu all den Aufsätzen und Büchern, die wir gelesen hatten, und verfassten so eine Art Studienbuch, das, ohne Umschweife gesprochen, total langweilig und zudem bürokratisch geschrieben war. Nichts von der Leidenschaft, die uns beim Lernen beseelt hatte, nichts von der Stärke, die die Gemeinsamkeit vermittelt hatte. Darüber hinaus handelte unser Buch gar nicht vom Lernen, nicht von den Frauen, die solches erfahren hatten, sondern von dem, was wir gelesen hatten, zum Beispiel von Jägern und Treibern, vom Staat und vom Wirtschaftswachstum, vom Tier-Mensch-Übergangsfeld. Wir hatten schon 80 Seiten geschrieben und noch war keine einzige Frau irgendwo aufgetaucht. Wir hatten uns selbst auf jeden Fall vergessen. Das war in der ersten Hälfte der siebziger Jahre; damals war uns schon bewusst, dass die Frauen in der Bewegung, für die wir dieses Buch schreiben wollten, es wegen des schreienden Frauenmangels darin keinesfalls lesen würden.

Wir legten das bisher Geschriebene beiseite und versuchten, uns zu besinnen, wie wir eigentlich zusammen gelernt hatten. Die Erinnerung, obwohl noch ganz frisch, wollte sich nicht verlebendigen. So gaben wir uns die Aufgabe, je einzeln aufzuschreiben, was uns bei der Frage des gemeinsamen Lernens einfiel, kleine Geschichten, jähe Erlebnisse, Lust am Lernen, Lernerfolg oder auch Mühe und Unlust. Das Lesen dieser Alltagstexte stürzte uns in den nächsten Schock. Während alle Frauen in der Gruppe ganz unabhängig von ihrem Bildungshintergrund inzwischen in der Lage waren, ein wissenschaftliches Buch oder einen Aufsatz in klaren Worten zusammenzufassen, waren die Geschichten aus dem eigenen Leben äußerst schlecht geschrieben; sie waren zumeist sprachlos in Bezug auf Gefühl und Vernunft. Und was für uns das Schlimmste war: Sie erwiesen sich mit all ihren Klischees als tief verwurzelt in eben den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den Werten und Ideologien, die wir überwinden wollten. Sie sprachen gewissermaßen mitten aus einem ideologischen Common Sense, waren verankert in der herrschenden Kultur und doch von uns geschrieben, die wir uns klug und geschult gedacht hatten, fähig, andere zu belehren. Kurz, wir hatten ungeprüft angenommen, dass wir über die Verhältnisse erhaben wären und anderen, weniger Glücklichen, helfen müssten, sich ebenfalls zu erheben.

Aus diesem schweren Schock, uns selbst als Kinder dieser Verhältnisse zu erfahren, zogen wir eine Reihe von wichtigen und schwierigen Lehren, die rückblickend unser Aufbruch in den Feminismus waren, wenn auch in eigener Form.

Ich skizziere knapp: Natürlich hatten wir zu unserer Zeit, da wir noch ›alles wussten‹, die Praxis der Selbsterfahrungsgruppen, die zu Beginn der neuen Frauenbewegung standen, mit äußerstem Misstrauen gesehen und für uns selbst niemals in Betracht gezogen. Wir wollten uns nicht selbst erfahren. Jetzt, da wir einen Bruch erfuhren zwischen dem, was wir über uns glaubten, und dem, wie wir uns schrieben, wurde es notwendig, unsere Erfahrungen und wie sie von uns gedeutet wurden, selbst zum Gegenstand von Forschung zu machen. Wir rückten also Erfahrung ins Zentrum unserer Erkundungen, das war der Beginn von Erinnerungsarbeit. Wir wurden so etwas wie eine Selbsterfahrungsgruppe, die allerdings die Art, wie diese Gruppen vorgingen, verschob. Wir begriffen, dass wir selbst diejenigen waren, an denen wir studieren konnten, was Frauwerden in dieser Gesellschaft bedeutet und wie wir das gemacht hatten. Wir erkannten, dass wir wie alle anderen waren, was uns zwar unserer Hauptabsicht beraubte, die ich jetzt das »Fackelträger-Syndrom« nennen will, nämlich anderen den Weg zu weisen, wohin es gehen sollte, uns aber dafür unversehens ein riesiges empirisches Forschungsfeld ins Haus lieferte: uns selbst als Frauen wie alle anderen, widerständig, einverstanden, brüchig und entschlossen. Wenn wir uns selbst als Teil dieser gesellschaftlichen Verhältnisse dachten, die wir als irgendwie uns äußerliche und von uns unabhängige Strukturen zu kritisieren gelernt hatten, mussten wir uns als Persönlichkeiten wahrnehmen, welche ebendiese Gesellschaft reproduzierten, in die wir mit Herz und Verstand, mit Gefühl und Vernunft verstrickt waren.

Es war schwierig, unsere Politik zu ändern, aber es war faszinierend, uns plötzlich selbst als Forschungsfeld zu entdecken und andere Frauen im ganzen Land und auch im Ausland zu gewinnen, ebenso zu verfahren, um möglichst vielfältig die in den Wissenschaften vernachlässigte Frage der Frauensozialisation oder besser: Frauenvergesellschaftung zu erkunden. Wiederum war es unerhört schwierig, uns selbst zu ändern, mit unseren Gefühlen zu arbeiten ebenso wie mit der Weise, wie wir spontan Alltag dachten und wie wir eine Verbindung zwischen Gefühlen und Haltungen und Alltagsleben vermuteten.

In Bewegung kam ebenso eine mit dem Glauben an die Machbarkeit von Veränderung durch Wissen zusammengehende Harmlosigkeit in Bezug auf Sprache. Als aus den USA Sprachpolitik und damit der Verdacht, Sprache wäre Werkzeug und Träger von Herrschaft, in die westdeutsche Frauenbewegung kam, hatte ich einen selbstbewussten, hochnäsig-kämpferischen Artikel dagegen geschrieben, den ich »Verteidigung der Frauenbewegung gegen den Feminismus« nannte. Das war 1973. Umstandslos hatte ich mir die Politik mit etwas so Luftigem wie Sprache als eine Art Schwächung der harten Kämpfe ums Materielle gedacht. Jetzt mussten wir erkennen, dass mit und in Sprache nicht nur Politik gemacht werden musste, sondern dass sie selbst die ganze Zeit Politik mit uns machte, durch uns hindurch sprach, sodass sie uns unterwarf in bestimmte Denkweisen, die sie vorgab, die wir durchbrechen mussten, sollten wir jemals den Zusammenhang unserer eigenen Persönlichkeiten mit den herrschenden Verhältnissen begreifen. Jetzt klagten wir Sprache nicht nur an, sondern wir begannen Spracharbeit als Arbeit mit uns selbst.

Diese doppelte Erfahrung änderte unsere Politik auf mehrfache Weise. Wir konnten uns nicht mehr als Frauengruppe denken, die anderen den Weg weisen konnte, und wir konnten unser eigenes Lernen nicht mehr als vorübergehende Anstrengung, als kompensatorisch auffassen, bis wir genauso geeignet waren für Politik, wie wir die Männer dachten. Erst jetzt wurde ganz deutlich, dass wir uns auch als unvollständige Männer wahrgenommen hatten, was in Themen vom gleichen Lohn, gleicher Ausbildung, Arbeitsschutz usw. sich ausdrückte. Es dämmerte uns, warum uns selbst diese Politik zwar notwendig, aber auch langweilig schien und warum wir selbst dazu beigetragen hatten, sie als Vorstufen zur eigentlichen Politik, die später auch für uns kommen würde, wahrzunehmen. Die Themen, die wir jetzt aufsuchten, waren Weiblichkeit, Liebe, Sexualisierung, endlich das Verhältnis von Vernunft und Gefühl und Lernen, aber jetzt nicht von anderen, sondern als weibliche Praxis von uns in dieser Gesellschaft.

Diese Lernbewegungen waren eine umfassende Wendung in den Feminismus, allerdings bei gleichzeitigem Versuch, eine ganze Reihe von damals gebräuchlichen Formen für uns zu verschieben, so u. a. die Opferdiskurse, die am besten mit dem Satz »Wir werden nicht als Frauen geboren, sondern dazu gemacht« zusammengefasst werden können, den die Frauenbewegung, schlecht übersetzt aus Simone de Beauvoirs Diktum »On ne naît pas femme, on le devient«, auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Ich verwandelte dies in die These, dass wir es selbst sind, die uns machen – wenn auch in bestimmten Strukturen und Verhältnissen –, und so auch diejenigen sind, die sich verändern und befreien können – und dass diese Selbstveränderung eine revolutionäre Tat ist.

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22 декабря 2023
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9783867548984
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