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Der Tee der drei alten Damen

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4

Die Voirons, jener Höhenzug, der aussieht wie ein behaglich hingelagerter Riese, über und über schwarz behaart, schickten Windstöße als Botschafter zum See, um ihm zu verkünden, der Abend sei nahe. Langsam stand Jakob auf, wie ein Mann, den man mit einem schweren Sack bepackt hat und der sich nun aufrichten muß. Er machte ein paar Schritte – sehr unsicher waren sie – bis zu den ersten Stämmen der Lichtung, kehrte dann wieder zurück und ließ sich zu Boden fallen. Natascha packte die mageren Knabenschultern. »Siehst du«, sagte sie, »das war das Schwerste, was jetzt kommt, ist nur halb so schlimm. Und dann kann ich dir auch sagen, wie du mir helfen kannst. Wenn du es noch willst.«

Sie ließ ihre Hände über die Schultern zum Hals wandern, dann hielt sie den Kopf gepackt, drehte ihn, trotz seines Sträubens, zu sich und blickte lange in die Augen Jakobs. Der Blick hatte eine sonderbare Wirkung, Jakob riß sich los, begann zu weinen, das Gesicht ins Gras vergraben. »Mein Kleiner«, sagte die Frau, »tut es weh? Ja, es tut vielleicht weh, wenn man Bilder zertrümmert, aber es ist sicher notwendig. Du hast immer so vom Professor geschwärmt, vom ›Meister‹, wie du gesagt hast, und mich hast du auch anders gesehen, nicht wahr? Ist es das?« Jakob nickte eifrig, ein trockenes Schluchzen ließ die hervorstehenden Schulterblätter auf und ab hüpfen. Natascha hob wieder Jakobs Kopf, sie küßte die geschlossenen Augen, nahm ihnen die Tränen weg. Ihre Lippen waren weich, auch die Haut ihrer braunen Arme. Jakob wurde ruhig.

»Und nun willst du mich hassen?« sagte die Frau, die in Genf unter dem Namen Kuligina auftrat, die Agentin Dreiundachtzig, die sich Mühe gab, Politik und Liebe auf einen Nenner zu bringen, die vielleicht (wir wissen es nicht, aber anzunehmen wäre es ja) die Genossen Uljanoff und Braunstein persönlich gekannt hatte, – und vielleicht hätten diese asketischen Genossen sich aufgeregt, daß die Agentin der proletarischen Internationale mit einem Jungen schäkerte, denn Sentiment und Liebe sind eine Zerstreuung für indolente Bourgeois, und entbehren jeglicher aufbauenden Eigenschaften, – aber trotz aller dieser Erwägungen müssen wir feststellen, daß besagte Natascha eigentlich ganz zufrieden war. Sie war ja nicht so gar viel älter als dieser junge Rosenstock, vier – fünf Jahre vielleicht, sie benahm sich infantil, gewiß, aber schließlich ist die Liebe eben noch eine der wenigen Situationen, in denen man sich mit gutem Gewissen kindlich benehmen darf. Darum sagte Natascha auch: »Der kleine Junge haßt die böse alte Hexe, die Menschen quälen läßt und sich daran erfreut. Ist es nicht so?« Jakobs Lachen war darauf noch feucht, mit Schluchzen vermischt. »Du hast es doch für deine Überzeugung getan, und nicht für Geld«, stotterte er. »Vielleicht habt Ihr auch das Recht, so zu handeln, oder?«

»Das ist gleichgültig«, Natascha wurde wieder ernst. »Ich muß noch fertig erzählen. Der Professor hat seinen Vertrag gehalten, bis kurz vor Crawleys Tod. Da ist eine Veränderung mit ihm vorgegangen, plötzlich war nichts mehr mit ihm anzufangen, es war, als hätte er plötzlich einen neuen Rückhalt bekommen. Baranoff konnte drohen, so viel er wollte, er erhielt immer die gleiche Antwort: ›Bitte, tun Sie, was Sie nicht lassen können.‹ Und Baranoff konnte nicht einmal mit seinem unterschriebenen Dokument herausrücken, sonst hätte er sich selbst bloßgestellt; dieses ganze Geständnis des Professors war ja eigentlich nur eine Waffe, solange sich der Professor unsicher fühlte, und plötzlich benahm er sich sicher. Er ließ Baranoff von einer Bank zehntausend Franken überweisen, er hatte auf einmal Geld, und wir konnten nicht herausbringen, woher. Eltester, der Apotheker, wurde schweigsam, es war, als ob er vor irgend etwas Angst hätte, er ließ sich verleugnen, wenn Baranoff ihn besuchen wollte. Ich habe dann Crawley überwacht und zugleich den Professor, die beiden waren fast immer zusammen, aber jeden Tag sind sie mir auf eine oder zwei Stunden entwischt, und ich konnte nicht herausbringen, wo sie hinverschwunden waren. Und dann kam das Merkwürdigste. Nydecker, der für Crawley immer noch die Vertragsentwürfe abschrieb, brachte uns an einem Tag die Abschrift eines merkwürdigen Dokumentes: Vertragsentwurf zwischen dem indischen Randstaat, in dem der alte Bose Landverweser ist, und… du wirst es nie erraten – und Moskau. Baranoff lief zur Delegation, die wußte gar nichts von der Sache. Also machte sich jemand lustig über uns. Nydecker war darauf verschwunden. Wir haben ihn gesucht, er hatte sein Zimmer bei jener Jane Pochon, der Haushälterin des Professors. Nie war er daheim – wenigstens behauptete es die Frau. Und wie sollten wir ihre Aussagen kontrollieren? Dann kam Crawleys geheimnisvoller Tod. Ich bin am nächsten Tag ins Spital gegangen, um zu sehen, wie es dem Jungen geht. Aber ich habe nichts erfahren können. Dann, einige Tage später, an einem Abend, habe ich Eltester besucht, das heißt, ich wollte ihn besuchen, aber der Laden war geschlossen, ich habe geklopft, aber niemand hat mir Antwort gegeben. Durch die geschlossene Tür habe ich ein merkwürdiges Singen gehört, so, wie in unsern alten russischen Gottesdiensten klang es, das Singen; gegen Morgen bin ich dann noch einmal hingegangen, aber da war alles still. Am Abend haben wir dann erfahren, Eltester sei ermordet worden. Und das Schwierigste für mich ist folgendes: Ich habe gemerkt, daß Baranoff gegen mich arbeitet. Er weiß etwas, und das sagt er mir nicht. Heute hat uns ein Engländer besucht, und da hat Baranoff sehr merkwürdig gesprochen. Einen Teil der Wahrheit gesagt, einen Teil verschwiegen. Als der Engländer dann fort war, hat Baranoff telephoniert. Er hat etwas von einem ›Meister‹ verlauten lassen, und ich habe nicht verstanden, wen er damit gemeint hat. Nur, daß du den Professor ›Meister‹ nennst, hat mich auf den Gedanken gebracht, daß vielleicht doch der Professor hinter der ganzen Sache steckt. Er hat ja gewußt, daß Nydecker für uns arbeitet, und Nydecker ist jetzt im Irrenhaus, verrückt geworden, darum haben wir ihn nicht gefunden. Aber auch hinter dieser Verrücktheit steckt etwas. Ein sonst normaler Mensch, – und dieser Nydecker war ein harmloser Bursche, – hatte ein wenig überspannte religiöse Ideen, – nein«, sagte sie plötzlich fest, »der Professor ist es nicht, denn Baranoff will ja den Professor auffliegen lassen. Es muß da noch ein anderer ›Meister‹ sein. Also, du mußt mir helfen. Ich kann nicht zu dem englischen Journalisten gehen, du mußt deinem Bruder, dem Advokaten, sagen, er soll sich des Professors annehmen, Baranoff will ihn hochgehen lassen, ich habe heute einen anonymen Brief schreiben müssen, an die Staatsanwaltschaft, und dann hat Baranoff noch telephoniert…«

»Ich verstehe gar nichts mehr«, unterbrach da Jakob. »Das Ganze kommt mir wie ein ungeheurer italienischer Salat vor, du mußt klarer sein, Natascha, wenn ich dir helfen soll.«

»Mein Gott«, sagte Natascha, »wie spät ist es?« Sie grub aus ihrer Handtasche eine kleine Uhr. »Schon sechs! Wir müssen in die Stadt zurück. Ich will dir sagen, was du tun sollst. Du mußt den Professor überzeugen, daß er sich an deinen Bruder wendet, und ihm alles erklärt. Du mußt dem Professor sagen, daß er den englischen Journalisten um Hilfe angehen soll, und in der Irrenanstalt sollen sie auf ihren Patienten aufpassen, auf den Nydecker; wirst du dich daran erinnern? Ich weiß, morgen gibt es eine große Aktion, ich möchte sie verhindern. Der Professor, ich will nicht, daß ihm etwas geschehen soll. Also, du weißt, was du zu tun hast?«

»Sei ruhig, Natascha, ich will schon alles machen.«

»Und du weichst nicht von des Professors Seite.« Natascha schauderte leicht. »Zwei Sterbende schon habe ich sehen müssen, ich will keinen dritten mehr sehen.«

»Ruhig, Natascha, ich werde schon alles machen.«

»Manchmal glaub' ich, ›sie‹ – wie Baranoff immer sagt –sind hinter mir her.«

Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Blätter der Lichtung, die Heuschrecken hatten die Motoren ihrer Doppeldecker abgestellt. Der Abend schien daran zu denken, seinen hellen Anzug gegen einen dunkleren zu vertauschen. In der Lichtung war es still geworden.

Gräser sind geduldig. Wenn sie zu Boden gedrückt werden, richten sie sich wieder auf, und wenn der Abendtau sie nicht zu trösten vermag, so tut dies der Morgentau.

Jakob sagte leise: »Ich will dir schon helfen. Also, ich soll… , aber das kannst du mir ja noch einmal auf dem Heimweg sagen. Ich will dir helfen«, bekräftigte er, »auch wenn ich draufgehen sollte.«

»Nicht…«, sagte die Frau, »wer wird denn von Draufgehen sprechen. Ich werde ja da sein.«

Jakob schnaubte befriedigt; es befriedigte ihn offenbar, beschützen zu dürfen und doch der Beschützte zu sein.

Das Tram, das von Jussy in die Stadt zurückführt, muß um viele Kurven. Es schüttelt ihre Insassen gehörig durcheinander, denn die Schienen gehen manchmal über Felder oder über gesenkte Straßenstellen. Dieses Schütteln braucht nicht immer unangenehm zu sein. Und dann ist der Wagen, der um viertel vor sieben Uhr abfährt, meistens leer, ein flüsterndes Paar fällt nicht auf. Der Kondukteur hat genug mit der Abendausgabe seines Leibblattes zu tun, es kümmert ihn nicht, um was das Flüstern sich dreht. Um Politik oder um Liebe. Vielleicht um beides, aber das ist ihm ja gleichgültig.

Sechstes Kapitel

1

Simpson O'Key hatte Glück gehabt. Er hatte in Champel eine Wohnung gefunden, zwei Zimmer, Bad, Küche, das Ganze möbliert. Ein Landsmann von ihm, Englischlehrer, der in die Ferien gefahren war, hatte sie ihm überlassen. Charles, der Kammerdiener und Colonel, hatte ihm die Gelegenheit verschafft.

O'Key stieg gedankenvoll die Treppen herab, trat auf die Straße und schlenkerte der inneren Stadt zu. Es war verschiedenes zu tun. Er mußte nach Bel-Air, überlegte er, und er freute sich darauf. Er mußte Madge fragen, was es mit dem Mann in weißen Tennishosen für eine Bewandtnis hatte. Vielleicht hatte Baranoff recht, und man konnte allerlei aus diesem Patienten herausholen. Aber wichtiger schien ihm, Madge wieder zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Es konnte doch manchmal merkwürdig gehen im Leben. Da kam man nach Genf, ungern, denn die Ferien waren schön gewesen, und plötzlich traf man eine Frau, die man auf den ersten Blick gern hatte. »Fall in love«, nannte man das, »in die Liebe hineinfallen«. Es war ein Hineinfallen, aber ein schönes Hineinfallen. Und die Frau war noch dazu verlobt, aber das kümmerte sie nicht, sie zeigte deutlich, daß man ihr gefiel, und der andere, der offizielle Verlobte, sollte sehen, wie er zurecht kam. Grausam eigentlich gegen den armen Thévenoz. Aber schließlich, dem Mann war nicht zu helfen. O'Key fand, daß seine Liebe viel wichtiger war als die Verzweiflung des guten Thévenoz, und Thévenoz… ja, Thévenoz war auch in anderer Beziehung ein Konkurrent. Was waren das für mysteriöse Krankenbesuche, die er zu machen hatte? Hatte er etwas entdeckt? Nun, wenn er gedachte, geheimnisvoll zu tun – bitte sehr, wenn er sich jede Einmischung in seine Privatangelegenheiten verbat, – warum nicht?

 

»Warum nicht?« sagte O'Key laut und zog die Achseln hoch. Da sah er ganz nahe vor sich eine weiße Wölbung, er wollte schnell ausweichen, aber er hatte zu viel Schwung, prallte dagegen und entschuldigte sich wortreich. Die weiße Wölbung war der unwahrscheinlich dicke Bauch eines älteren Herrn gewesen, mit dem er zusammengestoßen war.

»Ähpfuuhh«, sagte der dicke Herr. »Sie sollten nicht an Ihre Liebste denken, dear Master O'Key, wenn Sie morgendliche Spaziergänge machen. Zur Strafe müssen Sie mich jetzt begleiten, dort unten an der Ecke ist eine stille Brasserie, die gutes frisches Bier hat, bei dieser Hitze nicht zu verachten. Kommen Sie, junger Mann, das Bier wird Ihre tiefsinnigen Gedanken klären, und ich habe übrigens mit Ihnen zu sprechen.«

»Herr Staatsrat, guten Morgen«, antwortete O'Key, »auch ich bin begeistert, daß ich Sie getroffen habe. Ich hätte Sie sonst in Ihrem Bureau aufsuchen müssen. Aber im Freien ist es unbedingt gemütlicher.«

Und verzweifelt zermarterte sich O'Key das Gehirn, um den Namen des dicken Herrn zu finden. Der Name war ähnlich wie der eines berühmten Cocktails, und er ging sie im Geiste durch: es war weder Bronx noch Side-car, auch unter den Flips und Fizz war der Name nicht zu finden, endlich, wie das immer zu gehen pflegt, der berühmteste kam ihm erst am Schluß in den Sinn. »Und sonst geht es Ihnen gut, Herr Martini, will sagen Herr Martinet?«

»Gut, mein junger Freund«, sagte Herr Staatsrat Martinet, »so gut als möglich, wenn man so dick ist wie ich. Das Fett ist eine rechte Plage, man schwitzt, man zerläuft, man zergeht, man hofft bei dieser Hitze abzumagern, aber das ist ein Irrtum. Ahpfuuhh«, seufzte Herr Martinet, und es klang wie das Ausströmen der Luft aus einem zerplatzten Veloschlauch.

Herr Martinet hatte ein Quadrupelkinn, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, und in den Falten dieses Kinns schimmerte es feucht, Tröpfchen bildeten sich, flossen zusammen, sickerten bergab, und Herr Martinet tupfte und tupfte mit einem weißen, seidenen Taschentuch – vergebens. Er sank erschöpft auf einen der kleinen Stühle, die auf dem Trottoir vor der Brasserie aufgestellt waren.

»Auguste!« rief er, »Auguste, bring mir meinen Stuhl!«

»Jawohl, Herr Staatsrat!« Und Auguste erschien mit einem breiten Rohrstuhl, der bedenklich krachte, als Herr Martinet sich in ihn versenkte.

»So, Auguste, danke, und nun ein großes Helles für mich, und für den Herrn einen Whisky, Soda mit Eis, nicht wahr, das ist doch Ihr Wunsch, lieber Freund?« O'Key nickte. Auguste verschwand, und die beiden hörten ihn drinnen mit singender Stimme die Bestellung wiederholen.

»Gesundheit!« sagte Herr Martinet und labte sich mit einem langen Schluck, dann trocknete er seine riesige Glatze, vergaß auch das Kinn nicht, fächelte sich Kühlung zu und schwieg eine Weile. O'Key wartete geduldig.

»Und wie kommen Sie mit meinem Kommissar aus, lieber Freund?« fragte Herr Martinet.

»Danke, Herr Staatsrat, Kommissar Pillevuit ist die Freundlichkeit selbst und seine Tüchtigkeit ist so groß, daß ich mir wirklich überflüssig vorkomme. Ich begreife gar nicht, warum man mich hierher beordert hat, ich komme mir vor, wie das fünfte Rad am Wagen. Die Fähigkeiten der Genfer Polizei…«

»Ähpfuhh«, sagte Herr Martinet, »genug, mein Freund, genug der Schmeicheleien, seien Sie sparsam, sonst muß ich erröten, wie ein junges Mädchen, und das würde mir nicht gut stehen, bei meiner Korpulenz. Es freut mich, daß Sie mit Pillevuit gut auskommen. Er ist tüchtig, sehr tüchtig, aber ihm fehlt die Phantasie, ja, die Phantasie.«

Herr Martinet schwieg, er ließ seine faltigen Lider über die kleinen Augen fallen und schien einzuschlafen. O'Key nahm einen Schluck Whisky und wartete. ›Solche Leute darf man nicht drängen‹, dachte er, ›die müssen zuerst lange Redensarten machen, bevor sie zu den wichtigen Dingen kommen, und die wichtigen Dinge teilen sie dann nur so nebenbei mit, damit sie sich dann immer noch ausreden können und einen Rückzug haben. Diese schlauen Provinzpolitiker!‹ O'Key lächelte. Für ihn waren alle Staatsmänner, außer den britischen, Provinzpolitiker.

Herr Martinet stöhnte, als werde er von einem bösen Traum heimgesucht. Er öffnete seine Schweinsäuglein und sagte trübe:

»Sie haben doch die Bekanntschaft meines dichtenden Staatsanwaltes gemacht? Ja? Ein schwer zu behandelnder Herr. Reizbar und störrisch, wie ein alter Maulesel. Ja, die mageren Leute in der Politik, die sind eine arge Plage. Kein Verständnis, kein Fingerspitzengefühl, keine Gemütlichkeit. Mit dem Kopf durch die Wand, wenn sie überzeugt sind von einer Idee, und sie leiden alle an chronischer Überzeugtheit. Furchtbare Krankheit. Uns dicke Männer schätzen sogar die großen Dichter, wenigstens habe ich einmal bei Shakespeare etwas Ähnliches gelesen. Wissen Sie, was der dürre de Morsier mit der Baskenmütze im Sinne hat? Unsern Professor Dominicé zu verhaften. Einfach einsperren will er den alten Mann, unsere internationale Berühmtheit…«

»Aber er hat doch vorher immer…«

»Natürlich hat er vorher immer. Diese Art Leute hat ›vorher immer‹ irgendeine Ansicht gehabt aber wehe, wehe, wenn sie diese Ansicht geändert haben, ›Mein lieber Procureur‹, habe ich ihm gestern gesagt, ›passen Sie auf, Sie werden sich blamieren, überschlafen Sie die Sache.‹ Vergeblicher Rat! Solche Leute leiden immer an Schlaflosigkeit. Wie sagt schon der große Dichter? Dicke Männer und die nachts gut schlafen. Ich schlafe gut, lieber Freund, Gott sei Dank. Aber wissen Sie, was mir dieser Staatsanwalt geantwortet hat? ›Ich werde kein Auge zutun‹, hat er gesagt, ›bis ich nicht der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen habe.‹ Immer poetisch diese Leute, immer überspannt. ›Mein Gewissen!‹ hat er ausgerufen, ›mein Gewissen gebietet mir!‹ – und so weiter, und so weiter. Sie kennen ja den Refrain. Auguste!« rief Herr Martinet, »das Gleiche noch einmal. Trinken Sie aus, lieber Freund. Wir müssen unsern Flüssigkeitsverlust kompensieren. Gott helf mir, ist das eine Hitze! Äpfuuhh!«

»Ist das Bier frisch, Herr Staatsrat?« erlaubte sich Auguste zu fragen.

»Jaja, Auguste, ausgezeichnet. Grüßen Sie den Patron. Ich komme heute abend zu meinem gewohnten Piquet, sagen Sie ihm das. Und er soll eine Flasche Neuenburger aufs Eis legen. Bei dieser Hitze! Am Abend trinke ich lieber Wein. Es ist gut, Auguste, ich danke Ihnen, mein Freund. Ich glaube, Sie werden gerufen. Ja, Herr Journalist, das sind so Sachen. Ich habe einen Aufschub herausgeschunden bei unserm Staatsanwalt. Bis morgen. Morgen soll der Professor verhaftet werden. Natürlich nur unter uns. Ich erzähle Ihnen das, um zu demonstrieren, wie schwer es ein gerechter Mann in unserer Stadt hat. Sie sind Zuschauer. Gewissermaßen handelnder Zuschauer. Und ich habe Vertrauen zu Ihnen. Die Empfehlung, die Sie mir überbrachten, stammte von einem guten Freunde, einem Bruder, möchte ich sagen. Mein Gott, mein Gott, diese Hitze! Und nun soll ich mich in mein Bureau begeben. Übrigens, was ich noch sagen wollte… ja, wir haben ein paar ganz gute Advokaten in dieser Stadt. Diplomatische Leute, die nicht immer gerade Fensterscheiben zertrümmern müssen. Da haben wir zum Beispiel einen gewissen Isaak Rosène, den ich Ihnen sehr empfehlen kann. Ein tüchtiger Junge, in der Politik daheim, jaja. Falls Sie einen Rat brauchen sollten…«

»Danke, Herr Staatsrat«, sagte O'Key, seine Stimme kam ihm seltsam fern vor, der Whisky begann zu wirken. Der dicke Herr vor ihm, mit seiner öligen Beredsamkeit, war ungemein sympathisch. O'Key spürte Anwandlungen, ihm auf den Bauch zu klopfen, aber das ging nicht an. Er war ein großer Mann in der Genfer Politik, Freimaurer, darum hatte er von einem »Bruder« gesprochen, hatte sicher in dieser Versorgungsgenossenschaft auf Gegenseltigkeit einen hohen Grad inne, und plötzlich platzte O'Key los. Es war ein stummes Lachen, das seinen Körper schüttelte. Er hatte sich Herrn Martinet in Ordenstracht vorgestellt, mit dem kleinen Lederschurz über dem dicken Bauch.

»Lachen Sie, mein junger Freund«, sagte Herr Martinet und blinzelte mit seinen klugen Schweinsäuglein. »Lachen ist gesund, und wenn Sie auch über mich lachen, so schadet es nichts. Sehen Sie, ich habe diverse Abmagerungskuren probiert, aber mir nur den Magen verdorben und den Schlaf verloren. Jetzt habe ich mich damit abgefunden. Wissen Sie übrigens, daß wir seit drei Wochen hohen Besuch in unsern Mauern haben? Wir haben ja ständig hohen Besuch, ich weiß, aber das sind alles bürgerliche Hoheiten, die nicht viel zu bedeuten haben. Die haben sich alle mit dem Munde in die Höhe geschafft, aber jetzt – jetzt, mein Freund, haben wir einem waschechten Prinzen von uraltem Adel unsere Gastfreundschaft gewährt. Dem Maharaja Jam Nagar. Lauter ›a‹ in seinem Namen. Es klingt wie ein gelber Trompetenruf, finden Sie nicht auch? Ja, auch ich war einmal Dichter, aber das ist fern. Schöne Namen, wie aus einem parnassischen Sonett, vermag ich aber auch jetzt noch zu schätzen. Der Maharaja Jam Nagar! Welch schöner Name!«

»Der ist in Genf?«fragte O'Key, und der Mund blieb ihm offen. Der Whisky hatte seine Kaltblütigkeit untergraben. Und in seinem Kopfe war ein großes Chaos. Wußte der Colonel diese Tatsache? Daß der vertriebene Prinz in Genf war? Er sah den listigen Blick des Staatsrates Martinet auf sich gerichtet und beherrschte sich.

»Da staunen Sie, Master O'Key. Aber ich teile Ihnen dies nur zur privaten Orientierung mit. Der Maharaja ist natürlich inkognito hier. Nennt sich George Whistler und hat eine Villa gemietet, die Villa des alten de la Rive, die seit Ewigkeiten leer steht. Auch ganz einsam liegt sie, draußen an der Straße, die nach Jussy führt. Er hat nur zwei Diener. Ich habe es durch Zufall erfahren, durch einen Zufall. Wissen Sie, uns Brüdern, auch wenn wir den andern noch so lächerlich erscheinen, uns Brüdern bleibt nichts verborgen. Wir verstehen uns, lieber Freund, nicht wahr? Aber interessant ist die Sache doch, oder? Denn zu gleicher Zeit beherbergen wir ja den Verweser jenes Randstaates, den berühmten Sir Avindranath Bose. Merkwürdig demokratischer Mann, der verehrte Sir Bose, finden Sie nicht auch? Schließt Freundschaften mit alten Köchinnen. Jaja, man hat's nicht leicht, wenn man das Departement für Justiz und Polizei unter sich hat. Graue Haare könnte man bekommen. Gut, daß der eigene Haarboden unfruchtbar geworden ist. Sonst…« Und Herr Martinet fuhr sich mit dem Seidentüchlein über die blankpolierte Glatze.

»Ich wundere mich«, sagte O'Key, der ganz nüchtern geworden war, »ich wundere mich, Herr Staatsrat, über Ihre hervorragende Kombinationsgabe. Warum sind Sie nicht… Diplomat geworden?«

»Sie wollten etwas anderes sagen, Master O'Key. Warum sind Sie nicht bei uns, wollten Sie sagen und meinten das ›I.S.‹, habe ich nicht recht? Junger Freund wozu? Ich handle nicht gern. Ich bin Zuschauer. Ich ärgere gern die Leute, alles Eigenschaften, die gut zu einem Politiker passen. Ich habe Vermögen, was will ich mehr? Wie sagte Cäsar? Lieber der Erste in Genf als der Zweite in London. Oder so ähnlich. Ich bin der Erste hier. Meine Kollegen von den andern Departements? Sie hassen mich. Der Große Rat haßt mich, einstimmig haßt er mich, aber er braucht mich. Mein Lieber, merken Sie sich das. Ohne Schieber kommt man in der Politik nicht aus. Wenn ich Schieber sage, ist das ein grobes Wort. Ich meine einen Menschen, der allerhand weiß und das allerhand Wissen auch zu verwerten vermag. Wenn die Leute etwas brauchen, zu wem kommen sie? Zum dicken Martinet! Jaja. Weiß der Kollege vom Erziehungsdepartement nicht, wie er einen unliebsamen Lehrer, der in der Schule Sozialpolitik treibt, am besten los wird, dann können Sie zehn zu eins wetten, daß er den Papa Martinet antelephoniert. Ich gebe Ihnen das nur als Beispiel. Wenn Sie einmal nicht ein — und aus wissen, ich will Ihnen lieber auch meine Telephonnummer geben. Hier ist sie.« Herr Martinet zog aus der hinteren Hosentasche unter vielen Seufzern eine Lederbrieftasche, kramte in alten Rechnungen, Postchecktalons und fand schließlich ein schmutziges Stückchen Papier. »Leicht zu merken, drei mal drei ist neun, und auch von hinten gelesen, gibt die Nummer das Gleiche. 33 9 33. Und dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Leben Sie wohl, junger Freund, begeben Sie sich halt nicht in Gefahr, damit die schönen Augen einer kleinen Ärztin nicht zu tränen brauchen. Leben Sie wohl.«

 

Die Hand Herrn Martinets war klein und trocken, zierlich fast, im Vergleich zu dem massigen Körper. O'Key fühlte etwas wie Respekt für den dicken Mann, der so lächerlich aussah. Aber dumm war er nicht, der Herr Staatsrat Martinet. Und noch war O'Key keine zehn Schritte gegangen, so hörte er:

»Master O'Key, ich habe noch etwas vergessen.«

Herr Martinet winkte ihn ganz nahe heran, er machte Zeichen, bis O'Key sein Ohr fast vor den Mund des Staatsrates gebracht hatte. Dann flüsterte Herr Martinet intensiv: »Passen Sie auf, O'Key, alte Damen sind gefährlich. Alte Damen sind das Gefährlichste, besonders wenn sie Tee trinken. Denken Sie an meine Worte. Alte Damen, die Tee trinken. Und wenn die alten Damen noch mit Staatsanwälten und fremden Politikern verkehren, dann sind sie doppelt gefährlich. Ich hab eine alte Tante gehabt, die hat fünf Katzen zu Tode gefüttert. Ja. Bis sie geplatzt sind, regelrecht geplatzt. Vielleicht werd ich auch einmal platzen. Leben Sie wohl, O'Key. Der große Baumeister sei mit Ihnen.«

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