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KURZ ENTDECKT
DIE FLÜCHTLINGSKRISE
Als Peter Kitzberger am Sonntag, dem 23. August 2015 nach einer Spritztour durch die mazedonischen Berge von seiner Aprilia absteigt, sieht er drei unbeantwortete Anrufe auf seinem Handy. Die Botschafterin hat versucht, ihn zu erreichen. Außenminister Sebastian Kurz hat sich kurzfristig für den nächsten Tag in Mazedonien angesagt. Kitzberger soll ihn zur Grenze nach Gevgelija begleiten. Kurz hat die Krise lange von sich ferngehalten. In seinem Nebenberuf als Integrationsminister fühlt er sich zunächst nur für anerkannte Flüchtlinge zuständig, nicht für Migration und Asylwerber. Darum kümmert sich das Innenministerium. So sind die Aufgaben verteilt, seit Kurz die Integrationsagenden nach seinem Aufstieg vom Staatssekretär zum Außenminister Ende 2013 ins neue Amt mitgenommen hat.
Auch seine europäischen Kollegen lassen die Finger von der Migration. Auf der Agenda des EU-Außenministerrats am 20. Juli in Brüssel finden sich viele Besprechungspunkte: Iran, Libyen, Tunesien, der Friedensprozess im Nahen Osten, nur eine Angelegenheit sucht man vergeblich: die Flüchtlingskrise. Mitte August reißt Kurz das Thema an sich. Dabei spielen nicht nur außenpolitische Erwägungen eine Rolle. Der Kronprinz der ÖVP hat in den Sommertagen eine starke Unterströmung in Österreich erspürt. Unterhalb der medialen Empörungswellen über die schlechte Unterbringung der Asylwerber im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen wächst in der Bevölkerung ein ganz anderer Unmut – über die Kosten der Sozialleistungen für die wachsende Anzahl von Flüchtlingen. Soll man die Hände in den Schoß legen und diese Stimmungen einfach der FPÖ überlassen? Die Frage hat für Kurz auch eine persönliche Note, eine durchaus ambivalente: Als Kind hat er miterlebt, wie seine Eltern in den 1990er-Jahren bosnische Flüchtlinge aufgenommen haben. Doch jetzt schaltet er auf hart.
Kurz wartet nicht mehr. Er beauftragt Alexander Schallenberg, den Leiter der Stabsstelle Strategie, ein Papier auszuarbeiten. Daraus wird ein Fünfpunkteplan. Am selben Tag, an dem er nach Mazedonien fliegt, schickt Kurz einen Brief an Federica Mogherini, die Hohe Repräsentantin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Kopien ergehen an alle anderen 27 Außenminister der EU und an Johannes Hahn, Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung. Österreich habe in den ersten sechs Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Anstieg von 211 Prozent bei den Asylanträgen zu verzeichnen, schreibt er, zwei Drittel der Flüchtlinge kämen über die Balkanroute. Er fordert seine Amtskollegen auf, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen und nicht bloß den Innen- und Justizministern zu überlassen. Fünf Punkte schlägt er vor: erstens die Bekämpfung der Ursachen der Fluchtbewegungen in Syrien und Libyen, zweitens die Einrichtung von Sicherheitszonen, Aufnahme- und Asylzentren in Drittstaaten möglichst nahe an den Kriegszonen, drittens einen verstärkten Schutz der Außengrenzen, viertens eine verbesserte Polizeikooperation mit den Westbalkanstaaten und fünftens Quoten zur Verteilung der Flüchtlinge in der Union. Ähnliches hat auch schon die Kommission präsentiert, nur umgesetzt hat es niemand.
Kurz will die Aufmerksamkeit auf die Balkanroute lenken, deshalb reist er nach Mazedonien. Seit Monaten steckt die ehemalige jugoslawische Teilrepublik in einer schweren Staatskrise. Die sozialdemokratische Opposition hat Abhörbänder an die Öffentlichkeit gespielt: Das ganze Volk kann nun hören, wie korrupt und autoritär das System des einstigen Hoffnungsträgers Nikola Gruevski mittlerweile ist. Da wurde geschoben, geschmiert, gedroht, erpresst und manipuliert, was das Zeug hält. Das Land ist in Aufruhr. Die Flüchtlingskrise kommt dem nationalistischen Regierungschef Gruevski nicht ungelegen. Sie kann ihm innen- und außenpolitisch nutzen, wenn er es geschickt anstellt.
In blütenweißem Hemd und Markenjeans steht Sebastian Kurz an der Grenze in Gevgelija und blickt hinüber nach Griechenland. Er ahnt noch nicht, dass sich hier auch seine Zukunft entscheiden wird. Überall verstreut liegen einzelne Schuhe: neben der Eisenbahnstrecke, unter dem Stacheldraht, im Gestrüpp, auf dem Feldweg. Spuren einer Massenpanik. Vor vier Tagen haben die Mazedonier den Ausnahmezustand ausgerufen und versucht, die Grenze abzuriegeln. Doch das haben sie keine 24 Stunden durchgehalten, nicht einmal mithilfe von Schockbomben und Plastikmunition. Der Andrang der Flüchtlinge ist zu groß gewesen. Jetzt warten vor den Augen von Kurz wieder 200 bis 300 Menschen dicht gedrängt in der prallen Sonne zwischen den Gleisen. Eine Frau schreit laut auf Arabisch, ein griechischer Helfer beruhigt sie. Es wird nicht mehr lange dauern. Polizeivertreter Griechenlands, Mazedoniens und Serbiens haben sich in einem Krisengipfel auf Kontingente verständigt: Statt zwei sollen künftig täglich vier Flüchtlingszüge mit jeweils 500 Passagieren gen Norden fahren. Doch schon zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass auch diese Kapazitäten nicht reichen werden. In der Straße neben dem Bahnhof parken Dutzende Busse und Taxis. Der Weitertransport ist zum Geschäft geworden.
Vor einem olivgrünen Zelt nahe der Grenze mischt sich Kurz für ein paar Minuten unter bereits registrierte Flüchtlinge, die unter bunten Strandschirmen auf ihre Weiterreise warten. Ein 38-jähriger Syrer erzählt von seiner Überfahrt aus der türkischen Hafenstadt Bodrum auf die kleine griechische Insel Pserimos: 45 in einem Gummiboot, der Motor fällt aus, schreiende Kinder, ein Horror. Er will weiter in die Niederlande, dort bekommt man angeblich rasch Arbeitsgenehmigungen. Ungarn bereitet ihm Sorgen. „Vielleicht brauchen wir dort einen Schlepper“, sagt der Syrer. Unter keinen Umständen will er sich einen ungarischen Stempel in den Pass drücken lassen.
Kurz hält sich nicht lange auf, er muss durch gewundene Schluchten zurück in die mazedonische Hauptstadt Skopje. Dort streift er sich einen dunklen Slimfit-Anzug über. Bei einer Pressekonferenz im Safarow-Palast sagt er neben dem mazedonischen Außenminister Nikola Poposki, dass er „von Mazedonien, Serbien und vor allem von Griechenland eine ordentliche Grenzsicherung“ erwarte. „Einfaches Durchwinken kann keine Lösung sein.“ Doch was ist die Lösung? Diese Frage stellt Kurz während seiner Reise durch Mazedonien auch Polizeiattaché Kitzberger. Der Beamte aus Golling hat keine Antwort darauf. Er glaubt zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sich der gewaltige Flüchtlingsstrom noch stoppen lässt. Schon gar nicht mit dem Stacheldrahtzaun in Gevgelija. Denn diese Absperrung endet nach nur 200 Metern im Nichts.
Der Zaunkönig
Viktor Orbán macht schon das ganze Jahr über mobil gegen die „Völkerwanderung“, die er auf Ungarn und Europa zurollen sieht. Am 11. Jänner 2015 hängt sich der ungarische Ministerpräsident in Paris mit anderen Staats- und Regierungschefs ein, um für ein Bild zu posieren. Es soll den Eindruck vermitteln, dass die Führer der Welt dem Terror trotzen und den gewaltigen Trauermarsch einer Million Franzosen für die 17 Todesopfer der Anschläge auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt anführen. In Wirklichkeit ist das Foto gestellt, wie später eine Luftaufnahme zeigt. Ihre Menschenkette der Solidarität bilden die Spitzenpolitiker aus Sicherheitsgründen beim Place Leon Blum in einer Nebenstraße vor ihrer eigenen Entourage. Danach rauschen sie ab. Orbán setzt vor seinem Abflug noch eine Botschaft ab. Wirtschaftsmigration sei eine schlechte und gefährliche Sache, sie müsse gestoppt werden. Orbán hat sein Thema gefunden, und er schlachtet es innenpolitisch aus. So kann er sich als Beschützer der Ungarn in Szene setzen und der rechtsextremen Jobbik-Partei das Wasser abgraben.
Im Mai lässt der rechtsnationale Volkstribun per Post Fragebögen an die ungarischen Bürger schicken, um sie an einer „Konsultation über Zuwanderung und den Terrorismus“ teilhaben zu lassen. Die Fragen haben suggestiven Charakter: Ob die seitens Brüssel schlecht gemanagte Einwanderung in Zusammenhang mit dem Erstarken des Terrorismus stehe, erkundigt sich Orbán beim Volk. Und ob er statt der Migranten nicht eher ungarische Familien unterstützen solle. Das UNHCR ist entsetzt: Die ungarische Regierung fördere Fremdenfeindlichkeit und stelle Flüchtlinge als Gefahr dar. Orbán ist von dem Zwischenruf unbeeindruckt. Wenig später lässt er im Land Plakate affichieren. „Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen“, ist darauf zu lesen. Auf Ungarisch. Die Botschaft richtet sich an die eigene Bevölkerung. Orbán organisiert breite Rückendeckung für seine Ablehnung der EU-Verteilungsquoten, die er als verrückt bezeichnet. Die Beziehungen zur EU sinken unter den Gefrierpunkt, nicht zum ersten Mal seit Orbáns Amtsantritt 2010. „Hallo Diktator!“, begrüßt ihn EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei einem Gipfel in Riga halb im Scherz.
Immer mehr Migranten strömen über die grüne Grenze nach Ungarn. Anfang Juni 2015 sind es bereits über 50 000, mehr als im gesamten Vorjahr und 25 Mal so viele wie 2012. Orbán reicht es, jetzt setzt er endgültig auf einen Alleingang. Er kündigt an, an der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien einen Zaun zu bauen. Eine Sprecherin der EU-Kommission verwendet in ihrer Reaktion eine Metapher, in der sich Europas Debatten in den kommenden Wochen verhaken. „Wir haben gerade erst die Mauern in Europa eingerissen, wir sollten sie nicht wieder aufbauen.“ Ihr Nebensatz geht unter: Die EU hat keine rechtliche Handhabe. Ungarn liegt an der Außengrenze der EU. Und dort erlaubt der Schengen-Kodex den Bau von Grenzzäunen. Die Ungarn sind nicht die ersten, die Absperrungen hochziehen. Spanien hat 2005 die Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko zu Festungen ausgebaut: mit sechs Meter hohen Stacheldrahtzäunen. Auch Griechenland und Bulgarien haben Wälle an ihren Landgrenzen errichtet. Darüber hat sich kaum jemand aufgeregt. Doch Ungarn steht am Pranger. Orbán ist nun einmal der böse Bube, und er selbst schürt das Image nach Kräften, es lädt seine Bedeutung auf. Die Zaun-Entscheidung ist zunächst auch intern nicht unumstritten, wie sich Regierungssprecher Zoltán Kovács erinnert. Einzelne Beamte erheben technische Einwände, andere bezweifeln den Nutzen. Doch letztlich orientieren sich die ungarischen Behörden an internationalen Beispielen: an Spanien, Israel und den USA. Bis Ende November soll der vier Meter hohe Zaun fertig sein, heißt es anfangs. Das geht Orbán zu langsam. Gegen Ende Juli beschleunigt er die Bauarbeiten: Bis 31. August soll zumindest ein Vorzaun stehen: 150 Zentimeter hoch.
Setzt nun eine Torschlusspanik ein? Ab Mitte Juli wird die Flüchtlingskrise auch im Herzen Budapests sichtbar. Noch versuchen die ungarischen Behörden, die Personaldaten der Flüchtlinge aufzunehmen. Sie gehen dabei bisweilen nicht zimperlich vor. Doch die Aufnahmelager sind offen. Nach ihren Asylanträgen ziehen die Menschen weiter. Sie wollen nicht in Ungarn bleiben. Das ist nicht das Land ihrer Träume. Ab August lassen sich die Flüchtlinge in Ungarn kaum noch registrieren. Nur ja kein ungarischer Stempel. Denn dann könnte man ja zurückgeschoben werden.
Das kaputte Dublin-System
Das Dublin-Spiel ist längst im Gang. Das Übereinkommen, 1990 in der irischen Hauptstadt unterschrieben und sieben Jahre später in Kraft getreten, ist auch in seiner dritten Version so ganz nach dem Geschmack von Ländern wie Deutschland und Österreich. Denn es hält ihnen Flüchtlinge vom Leib. Die Last liegt auf der südlichen Peripherie, nicht im reichen Zentrum und Norden Europas. Für Asylanträge ist demnach jenes Land zuständig, das Schutzsuchende als erstes betreten. Staaten an der EU-Außengrenze wie Italien und Griechenland sind davon besonders betroffen.
Deren jahrelange Bitten um Solidarität der europäischen Partnerländer haben nichts gebracht. Sie haben sich daher längst auf eine andere Strategie verlegt: wegschauen und durchwinken. Seit vier Jahren ist Griechenland überhaupt aus dem Spiel: Am 21. Dezember 2011 hält der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg in den Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 fest, dass ein Asylwerber nicht in einen Mitgliedstaat überstellt werden kann, in dem er aufgrund systemischer Mängel im Verfahren Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden. Ein ähnliches Urteil fällt zu Beginn desselben Jahres der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die griechischen Behörden haben das System ausgehebelt, und die europäischen Richter haben ihren Stempel daraufgegeben: Man muss Asylwerber nur schlecht, schleißig und schäbig genug behandeln, dann ist man nicht mehr für sie zuständig. Dublin ist längst tot, doch das wird erst in diesem Flüchtlingssommer so richtig offenkundig. Für Griechenland, das europäische Einfallstor auf der Balkanroute, gilt eines der wichtigsten Ordnungsprinzipien im europäischen Asylgefüge nicht mehr: Es kann getrost auf Durchzug schalten, von Amts wegen darf kein EU-Staat Asylwerber nach Griechenland zurückschicken.
Ende Juni, knapp vor dem EU-Gipfel, setzt auf einmal Ungarn das Dublin-III-Abkommen einseitig aus. Regierungssprecher Kovács zündet die Bombe in Wien im Gespräch mit Journalisten nach einer Portion Hummerkrautfleisch im Restaurant Vestibül im Burgtheater. Das Boot sei voll, Ungarn werde keine Flüchtlinge aufnehmen und schon gar keine zurücknehmen, sagt Orbáns smarter Staatssekretär für Public Diplomacy in perfektem britischem Englisch. Zwölf EU-Mitgliedstaaten sind auf Beamtenebene informiert. Es ist ein Hilfeschrei, ein taktischer Kniff, um deutlich auf den enormen Flüchtlingsandrang in Ungarn hinzuweisen. Die Aufregung ist groß. Alle pochen auf die Dublin-Schimäre. Damit das System nicht vollkommen zusammenbricht, muss zumindest der Schein gewahrt bleiben. Ungarn rudert zurück – und bekennt sich zu europäischem Recht.
Doch die Lage entgleitet. Im August sind bereits mehr als 100 000 Menschen auf der Balkanroute unterwegs. Es werden mehr und mehr. Der Budapester Bahnhof Keleti hat sich zum Drehkreuz für Flüchtlinge und Schlepper entwickelt. Hunderte campieren auf dem Vorplatz oder im Untergeschoß und täglich gesellen sich neue Ankömmlinge hinzu, ihr Hab und Gut in Rucksäcken. Viele versuchen ihr Glück auf eigene Faust, kaufen einfach Tickets für Züge nach Österreich und Deutschland. Andere heuern Fahrer an. Noch ist für sie die Grenze nach Österreich nicht offen. Doch die Behörden können oder wollen nicht lückenlos kontrollieren, auch nicht in den Zügen. Es gibt zwar trinationale Streifen, die ungarische, deutsche und österreichische Polizisten gemeinsam durchführen. Doch offenbar zu wenige. Langsam rauen die Nerven auf. Deutsche Polizeibeamte beklagen sich öffentlich, dass ihre österreichischen Kollegen wegschauen. Die Innenminister fangen die Unstimmigkeit wieder mit Gelöbnissen zur Zusammenarbeit ein.
Merkel und das Mädchen
„DAS KÖNNEN WIR
NICHT SCHAFFEN!“
In Deutschland sind die Flüchtlingsheime bereits zum Bersten voll. Angela Merkel hat noch kein einziges besucht. Sie hält sich raus. Die Medien geißeln sie dafür. Seit dem 15. Juli 2015 hat die deutsche Langzeitkanzlerin ein veritables Imageproblem. An diesem Tag führt sie ein Bürgerdialog namens „Gut leben in Deutschland“ in eine Schule nach Rostock. Ein Routinetermin: die Kanzlerin im beigen Blazer inmitten einer Runde von artigen Jugendlichen. Doch dann schildert Reem Sawihl, ein eloquentes 14-jähriges palästinensisches Flüchtlingsmädchen aus dem Libanon, dass sie und ihre Familie bald abgeschoben werden. Ihr Traum von einem Studium in Deutschland droht zu platzen. Nicht zu wissen, wie die Zukunft aussehe, sei bedrückend. „Es ist wirklich sehr unangenehm, zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man es selber halt nicht mitgenießen kann.“ Merkel antwortet nett, aber klar. Das Verfahren dauere zu lange. Der Libanon sei kein Kriegsgebiet. „Wenn wir jetzt sagen: ‚Ihr könnt alle kommen und ihr könnt alle aus Afrika kommen, das können wir auch nicht schaffen.‘“ Reem bricht in Tränen aus. Das rührt die Kanzlerin. Sie geht auf das Mädchen zu und streichelt es. Und weil die Kanzlerin aus der Rolle fällt und niemand Trost durch Handauflegung spenden kann, wirkt sie, zusätzlich genervt von Bemerkungen des Moderators, irgendwie linkisch und unbeholfen. Das Video wird viral. Hämische Kommentare folgen. Merkel wird als gefühlskalt dargestellt. „Die Eiskönigin“ hatte der „Stern“ später getitelt und damit ihre Haltung in der Griechenlandkrise gemeint. Solche Bilder können sich schnell verfestigen. Das macht Merkel und ihre Berater nachdenklich.
Die Stimmung in Deutschland ist volatil in diesem Flüchtlingssommer 2015. Bundespräsident Joachim Gauck spricht von einem hellen und einem dunklen Deutschland, einem helfenden und einem geifernden. In Heidenau, einem kleinen Städtchen in Sachsen, protestiert rechtsextremer Pöbel tagelang mit Steinen, Flaschen und ausländerfeindlichen Parolen gegen 250 Asylwerber, die provisorisch in einem leer stehenden Baumarkt untergebracht werden sollen. Die Republik ist geschockt. Deutschland zeigt sein hässliches Gesicht. Merkel bietet den Radikalen die Stirn. Sie fährt nach Heidenau – und wird dort wüst beschimpft. Keine zwei Wochen werden sie und Deutschland die Gelegenheit haben, sich von einer anderen Seite zu zeigen, einer strahlenden, moralisch einwandfreien und menschenfreundlichen Seite.
Spätestens im August wendet Merkel ihre volle Aufmerksamkeit der Flüchtlingskrise zu. Diese Frage werde Europa noch sehr viel mehr beschäftigen als die griechische Schuldenkrise und die Stabilität des Euro, sagt die deutsche Kanzlerin Mitte des Monats öffentlich. Sie hat sich eine Strategie zurechtgelegt. Merkel will eine europäische Lösung. Unbedingt. Alternativlos. Mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vereinbart sie, die Hotspot-Idee auch auf Griechenland auszurollen und die Zahl der zu verteilenden Flüchtlinge auf 160 000 zu erhöhen. Das ist kühn. Denn bisher hat nicht einmal die im Mai präsentierte Miniversion des Modells auch nur annähernd funktioniert. Doch Merkel sieht keine andere Lösung. Am 9. September soll Juncker den Plan vorstellen. Und bis dahin will sie auch den renitenten Viktor Orbán bearbeiten. Immerhin 54 000 Flüchtlinge, mehr als ein Drittel der Gesamtzahl, sollen den Ungarn im Rahmen des Verteilungsmechanismus abgenommen werden. Das ist doch ein Angebot. Aber so viel Zeit bleibt nicht mehr. Denn die Ereignisse überschlagen sich. Und eine Kommunikationspanne erhöht das Tempo.
Ein Tweet setzt Massen in Bewegung
Am 25. August setzt das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine folgenreiche Kurznachricht ab: Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht verfolgt. Eine fatale kommunikative Fehlleistung. Der Vermerk ist eigentlich für interne Zwecke gedacht – eine Maßnahme zur Beschleunigung der Asylverfahren, um die deutschen Bundesländer zu entlasten. Aber irgendwie hat die Hilfsorganisation Pro Asyl über ein Leck Wind davon bekommen. Und nun bestätigt die unterbesetzte Pressestelle des BAMF auf Anfrage auch noch per Twitter. Dabei ist die Information keineswegs für die Öffentlichkeit bestimmt, schon gar nicht in der verkürzten Form von 127 Zeichen. Im deutschen Bundesinnenministerium ist man entsetzt. „Wir wurden überrascht und sind absolut nicht begeistert gewesen“, erinnert sich die für die Migration zuständige Staatssekretärin Emily Haber.
In Wien schlägt Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner die Hände über dem Kopf zusammen, als sie davon erfährt. „Ich halte das für einen schweren Fehler, damit werden die Schleusen geöffnet und falsche Hoffnungen geweckt“, sagt sie zu ihrem befreundeten deutschen Amtskollegen Thomas de Maizière. Doch der Tweet lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Er entwickelt ein Eigenleben, geht wie ein Lauffeuer um die Welt. Merkel erhält danach von Syrern Liebesbotschaften auf sozialen Medien. Die Flüchtlinge sind schnell informiert. Sie sind vernetzt, die meisten haben Handys. Egal, wo sie hinkommen, ihre erste Frage ist immer, wo sie ihre Geräte aufladen können. Jetzt sind auf einmal alle Syrer. Die Kurznachricht wird zur Waffe der Schleuser.
Das mächtige Deutschland ist nicht in der Lage, die Informationen zu steuern. Es passiert nicht zum ersten Mal. Als de Maizière am 19. August bekanntgibt, dass bis zum Ende des Jahres mit 800 000 Asylwerbern zu rechnen sei, kommt die Botschaft in Afghanistan ganz anders an. Deutschland nehme 800 000 Afghanen auf, heißt es dort schnell. Ganze Großfamilien beantragen nun Reisepässe und die afghanischen Behörden stellen sie bereitwillig aus. Es ist die Zeit, in der Trittbrettfahrer aufspringen und die Krise befeuern. Der Iran und Pakistan nützen die Gelegenheit, um afghanische Flüchtlinge loszuwerden. Die Türkei lässt Schlepper an ihrer Küste zu Griechenland gewähren. Und auch die Russen treiben ihr eigenes Spiel. Internationale Nachrichtendienste haben Hinweise darauf, dass Russland Äußerungen von Merkel auf irreführende Weise übersetzen und in Flüchtlingslagern Falschmeldungen streuen lässt: Ihr könnt alle kommen, Deutschland nimmt alle auf.
Bilder des Grauens
Am 27. August 2015 kommt Merkel nach Wien. In der Früh überreicht ihr Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann das Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich. Doch das ist nicht der Anlass ihres Besuchs. Sie nimmt am Westbalkan-Gipfel teil. Die Regierungschefs, Außenminister und Wirtschaftsminister Mazedoniens, Albaniens, Kosovos, Serbiens, Kroatiens, Montenegros und Sloweniens sind eingeladen. Der Rahmen in der Wiener Hofburg ist gediegen: zur Eröffnung Kammermusik von Felix Mendelssohn Bartholdy. Der Ablauf ist bei solchen Veranstaltungen bis ins letzte Detail geplant und getaktet, die Abschlusserklärung längst ausbuchstabiert. Diesmal soll es nicht nur um EU-Beitrittsperspektiven, um Infrastrukturprojekte und Jugendaustausch gehen. Auf der Agenda steht auch das Thema Nummer eins: die Migration. Gastgeber Werner Faymann hat drei Botschaften in seiner Eröffnungsrede: Asyl sei ein Menschenrecht, eine verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen unerlässlich und der Kampf gegen Schlepper vorrangig. Hinter den Kulissen will er gemeinsam mit Merkel Mazedonien drängen, seine Grenzen besser zu kontrollieren. Im Schlusscommuniqué wird dann lediglich von verstärkter Zusammenarbeit bei Grenzmanagement und Asyl die Rede sein.
Doch zu diesem Zeitpunkt hat längst ein anderes Ereignis den Gipfel überschattet. Kurz nach 13 Uhr macht Faymann die deutsche Regierungschefin auf eine Eilmeldung aus seinem Kanzleramt aufmerksam. Er zeigt ihr die Nachricht auf dem Handy: In einem Lkw sind mehrere Leichen gefunden worden. Am Ende zählen die Ermittler 71 Tote in dem Kühllaster, den die Autobahnmeisterei in einer Pannenbucht der Ostautobahn bei Parndorf nach 24 Stunden Stehzeit gefunden hat. 59 Männer, acht Frauen, vier Kinder aus dem Irak, Afghanistan, Syrien und dem Iran. Aus dem Fahrzeug tropft Leichenflüssigkeit. Die Flüchtlinge sind elendiglich erstickt in dem Transporter für Gefrierhühnerfleisch; die Schlepper haben sie auf 14,26 Quadratmetern zusammengepfercht und die Türe von außen verschlossen. Nach Luft ringend, haben die Menschen im Todeskampf wie wild an die Außenwände geschlagen. Der Fahrer hat das Klopfen vernommen, aber nicht aufgemacht. Das dokumentieren Tonbandprotokolle, die die ungarische Staatsanwaltschaft zum Prozessbeginn in Kecskemét fast 22 Monate später vorlegt. Die ungarische Polizei hat die Schlepperbande abgehört, aber den Mitschnitt zu spät ausgewertet.
Faymann und Merkel sind tief erschüttert. Dieser Moment, das Parndorfer Drama, verbindet sie. Das ist kein stilles Massensterben mehr, weit weg im Mittelmeer. Die Schrecken der Flüchtlingskrise sind auf einmal ganz nah und sichtbar. Die Tragödie lässt sich nicht mehr verdrängen. Der weiße Volvo-Kühllaster mit der braunen Aufschrift einer slowakischen Geflügelfirma – das Y im Logo zu einem Huhn stilisiert – wird eines der ikonischen Fotos dieses Sommers. Bundespräsident Heinz Fischer hält beim Mittagessen mit den Regierungschefs und Ministern des Westbalkan-Gipfels eine Schweigeminute ab. Alle sind sich einig: So kann es nicht weitergehen.
Die Korridorlösung
Der Vorplatz unter der Neorenaissancefassade des Keleti-Bahnhofs in Budapest quillt inzwischen über. Die steinernen Statuen von James Watt und George Stephenson, den Erfindern der Dampfmaschine und der Dampflok, blicken mittlerweile auf Tausende Flüchtlinge herab, die alle nach Deutschland wollen. Und das rufen sie auch immer wieder, unter rhythmischem Geklatsche. Die Polizei riegelt den Bahnhof ab. Journalisten aus aller Welt haben sich eingefunden. Sie berichten von beschämenden Zuständen. Vom ungarischen Staat haben die Flüchtlinge nichts zu erwarten, kein Wasser und auch kein Essen. Sie sind auf private Hilfe angewiesen. Die ungarische Regierung steht wieder einmal am Pranger. Der mediale Druck ist enorm. Am 31. August zieht sich die Polizei auf einmal zurück. Hunderte stürmen die Züge. An diesem Montag werden am Ende 3650 Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof ankommen. Nur sechs stellen einen Asylantrag. Der Rest reist in Zügen weiter Richtung Deutschland.
Merkel nimmt Kontakt zu Orbán auf und versucht, den Dublin-Tweet des Bundesamts für Migration vergessen zu machen. Sie spricht öffentlich von einem „Missverständnis“, das sich sicher schnell ausräumen lasse: Die Dublin-Verordnung gelte weiterhin in ganz Europa. Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner schlägt in die gleiche Kerbe. Dublin ersatzlos zu streichen, komme nicht infrage. Explizit fordert sie eine neuerliche Klarstellung von Deutschland. Berlin reagiert gereizt auf diese Empfehlung. Im ORF-Sommergespräch mit Hans Bürger im Ringturm über den Dächern Wiens verpasst Werner Faymann dem ungarischen Premier einen heftigen Seitenhieb. „Dass die in Budapest einfach einsteigen und man schaut, dass die zum Nachbarn fahren – das ist doch keine Politik.“ Ungarns Ministerpräsident müsse für Kontrollen und für die Einhaltung der Gesetze sorgen. „Wo ist denn da der starke Regierungschef, der immer auffällt durch besonders undemokratische Maßnahmen?“
Auch Faymann pocht auf die Dublin-Regeln, auf Fingerabdrücke und die Registrierung von Flüchtlingen. Doch agiert Österreich anders? All das sagt der Kanzler eines Landes, das am 31. August die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge selbst einfach nur weitergewinkt hat zum deutschen Nachbarn. Dem an sich besonnenen CDU-Vorsitzenden im Europaausschuss des Bundestags, Gunther Krichbaum, kommt die Galle hoch. Er fordert die EU-Kommission auf, Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Österreich zu prüfen. „Es ist skandalös, dass Flüchtlinge nun ungeprüft und ohne Ausweiskontrolle nach Deutschland kommen“, sagt er. Doch auch in den kommenden Monaten wird Österreich so verfahren und keinen einzigen durchreisenden Migranten registrieren. Ungarn ist gar nicht erfreut über Faymanns Belehrung, die auch noch eine Tirade gegen Zäune, Mauern und Wachtürme in Europa beinhaltet. Es zitiert den Österreichischen Botschafter in Budapest, Ralph Scheide, ins Außenministerium. Während die Flüchtlingskrise ihrem Höhepunkt zutreibt, liegen die Nachbarbeziehungen am Boden. Das wird sich noch rächen. Orbán lässt den Keleti-Bahnhof jetzt wieder abriegeln. Die Deutschen und Österreicher wollen es ja nicht anders, sie haben sich ja beschwert über die Flüchtlingszüge. Der provisorische Zaun an der Grenze zu Serbien hält kaum jemanden auf. Immer mehr strömen nach Budapest. Die Stimmung ist aufgeheizt. Der Budapester Ostbahnhof wird zur Bühne, in der sich die Geschichte unter den Kameras internationaler Fernsehstationen wie unter einem Brennglas verdichtet.
Gerry Foitik, den Bundesrettungskommandanten des Roten Kreuzes, erinnert die Szenerie an 1989. Damals hatte seine Organisation geholfen, DDR-Flüchtlinge aus der deutschen Botschaft in einer Nacht- und Nebelaktion nach Westdeutschland zu führen. Ähnliches schlägt er nun im österreichischen Innenministerium vor. Warum holen wir die Flüchtlinge nicht einfach ab? Ein Beamter winkt sofort ab. „Dann kommen Sie wegen Schlepperei ins Gefängnis.“ In Wien haben Facebook-Aktivisten, angefeuert von Robert Misik, dem späteren Biografen von Faymanns Nachfolger Christian Kern, eine ähnliche Idee. „Konvoi Budapest Wien – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ nennen sie ihre Initiative. Sie wollen Schutzsuchende mit Privatautos aus Ungarn abholen. Am Sonntag, dem 6. September, um 11 Uhr soll auf dem Parkplatz des Praterstadions die erste Wagenkolonne starten. Ein paar fahren schon früher los. Sie werden am Donnerstag verhaftet. Wegen Schlepperei.
Auf Regierungsebene ist niemand daran interessiert, einen Korridor zu errichten. Das ist keine Option, weder für Österreich noch für Deutschland. Die Angst vor einer Sogwirkung, vor einem endgültigen Zusammenbruch des Dublin-Systems, ist zu groß. Und Orbán will unter allen Umständen verhindern, dass sich die Krise im Herzen der ungarischen Hauptstadt institutionalisiert. Ein Korridor zöge noch mehr Flüchtlinge an. Er aber will sie raus haben aus Budapest. Zu diesem Zeitpunkt drängen ihn Merkel und Juncker dazu, Hotspots für Flüchtlinge zu errichten, einen davon in Budapest. Im Gegenzug sollen sie von Ungarn aus in der EU verteilt werden. Doch das ist für Ungarn ein absolutes No-Go. Es sträubt sich gegen große Flüchtlingslager. Die Kapazität der Zentren übersteigt nie 200 Personen. Orbán plant acht bis neun kleinere Asylzentren, um die Flüchtlinge auf jeden Fall aus Budapest wegzubringen.
Am 3. September endet ein solcher Versuch in einem Riesenskandal. Unter dem Vorwand, dass die Reise nach München gehe, locken die ungarischen Behörden Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof in einen Zug, dessen Sonderlokomotive noch dazu mit Grafiken verziert ist, die an das paneuropäische Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze vor dem Fall der Mauer 1989 erinnern. Die Menschen kaufen Fahrkarten, stürmen die Waggons, reichen Kinder durch die Fenster. Doch der Zug hält 35 Kilometer außerhalb von Budapest im Flüchtlingslager Bicske, dort wirft sich ein verzweifelter syrischer Mann mit seiner Frau und einem Baby auf die Gleise. Das Foto geht um die Welt, meist versehen mit einem falschen Bildtext, in dem ungarischen Polizisten unterstellt wird, Gewalt anzuwenden.
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