Читать книгу: «Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket)», страница 5
»Auch das noch! Ein Aufpasser!« Curt war ganz deprimiert. »Und wieso bist du sicher, dass er uns …«
»Reg dich nicht auf, Curt«, fiel ihm Karol ins Wort, »der zuständige Funktionär heißt Peppino und ist euer Hausmeister …«
Putti lachte, auch sein Vater beruhigte sich nun wieder.
Als sie vor ihrem Haus hielten, riss ihnen der Taxifahrer die Tür auf, zog die Mütze und verbeugte sich tief. Er hatte Karol schon die ganze Nacht hindurch herumgefahren und mehr eingenommen als sonst in einem Monat.
»Wir drehen einen Film über den historischen Besuch des ›Führers‹ in Rom«, sagte Karol und gab dem Fahrer noch ein nobles Trinkgeld. »Diese ebenfalls historische Taxiquittung gehört natürlich zu den Vorkosten, die wir dem Goebbels-Ministerium in Rechnung stellen …«
»Buon giorno, Signore dottore, benvenuto Signorino Riccardo! Welch ein Glück, dass Sie wieder zu Hause sind!« Peppino, freudig bewegt, öffnete schon die Aufzugstür für sie. »Mi scusi, per favore! Mi dispiace molto, Signore dottore!«, versicherte er ihnen. »Non se l’abbia a male, prego!«
Aber obwohl nun äußerlich der Alltag wieder einkehrte, sollte es noch etliche Wochen dauern, ehe sich Eichelbaums von dem Schrecken erholten.
Dann, Ende Juli 1938, als sich schon die Sommerhitze über Rom gelegt hatte und alle Aktivitäten erlahmten, gab es eine neue Überraschung, doch diesmal eine erfreuliche: Eine amerikanische Filmgesellschaft von internationalem Rang bot Dr. Eichelbaum, dessen Ruf als hervorragender, branchenerfahrener Jurist inzwischen auch die Chefetagen von Hollywood erreicht hatte, einen langfristigen, gutdotierten Vertrag an; er sollte künftig allein ihre umfangreichen Interessen in Italien vertreten!
»Wir haben es geschafft!«, erklärte Puttis Vater strahlend, als er von den Verhandlungen nach Hause kam.
»Bleiben wir in Rom?«, wollten Frau und Sohn wissen.
»Auf alle Fälle! Ich werde nur ab und zu nach Mailand oder Venedig reisen müssen – das nächste Mal in vier Wochen zur Unterzeichnung der Verträge. Und bis dahin – so habe ich mir gedacht – machen wir endlich mal wieder Urlaub und erholen uns ein bisschen! Wir könnten zum Beispiel nach Como fahren und Erbslöhs besuchen. Was haltet ihr davon?«
Lottchen und auch Putti stimmten begeistert zu.
September 1938. Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Italien, Frankreich und England spricht Deutschland die West-CSR (Sudetenland) zu; Hitler verspricht feierlich, dass damit seine territorialen Ansprüche befriedigt sind.
9. November 1938. »Reichskristallnacht« genannte größte Judenverfolgung der Neuzeit. Zerstörung nahezu aller Synagogen, jüdischen Wohnungen und Geschäfte, umfangreiche Plünderungen, zahlreiche Tote und Verletzte sind die Folge. Den deutschen Juden wird die Bezahlung des Schadens auferlegt; 35.000 kommen als Geiseln in KZs.
März 1939. Deutsche Truppen marschieren in die »Rest«-Tschechoslowakei ein, die zum »Protektorat Böhmen und Mähren« erklärt wird, und besetzen auch das litauische Memelgebiet.
7. April 1939. Italien überfällt Albanien und besetzt das Land.
Como – Lugano – Lausanne – Paris – Le Havre
Vier sonnige Augustwochen Urlaub in Como – es war fast wie früher gewesen, als sie von Berlin aus Ferien in der Schweiz gemacht hatten.
Sie waren wieder, wie zu Beginn ihrer Emigration, im Albergo Barchetta abgestiegen, hatten häufig Erbslöhs besucht oder sie getroffen, gemeinsame Ausflüge unternommen und abends zusammen auf der Caféhausterrasse an der Piazza gesessen wie fünf Jahre zuvor, als Georg Krauss zu Besuch gekommen war. Diesmal hatte er das geplante Treffen kurzfristig absagen müssen. Herr Erbslöh vermutete, die drohende Kriegsgefahr – es ging um das Sudetengebiet, das Hitler beanspruchte – hätte Dr. Krauss’ Besuch verhindert. Tatsächlich war er, wie sie erst später erfuhren, zu einer militärischen Übung eingezogen worden.
Herr Erbslöh sah dem, wie es schien, unausweichlichen Konflikt der Großmächte mit dem Nazi-Reich optimistisch entgegen: Die Tschechen, behauptete er, wären gut gerüstet; internationale Brigaden würden ihnen zu Hilfe kommen, bis ihre sowjetischen Verbündeten, dann wohl auch Frankreich und England, mit voller Kraft eingreifen könnten, und das wäre dann das Ende der Hitler-Diktatur! Schon beim ersten Angriff der Roten Armee würden sich die werktätigen Massen in Deutschland erheben und der Nazi-Herrschaft ein Ende machen.
»Glauben Sie mir, Herr Doktor, übers Jahr sind Sie wieder in Berlin! Vielleicht ernennt man Sie dann zum Ankläger gegen die braunen Halunken und ihre Hintermänner!«
Lotte Eichelbaum schauderte es bei dem Gedanken. Sie ängstigte sich auch, im Gegensatz zu Herrn Erbslöh, vor einem Aufstand der »werktätigen Massen«, erst recht vor der Roten Armee. Ihretwegen sollte kein blutiger Krieg oder Bürgerkrieg geführt werden.
»Bloß kein Krieg!«, fand auch Frau Erbslöh, die sonst stets die Meinung ihres Mannes vertrat.
Curt Eichelbaum, der am nächsten Morgen nach Venedig zu reisen und den Vertrag mit Universal Pictures zu unterschreiben gedachte, der ihm endlich ein von materiellen Sorgen freies Leben in Rom garantierte, meinte bedächtig: »Eine außenpolitische Schlappe, die Hitler zum Rücktritt zwingt – das wäre die beste Lösung! Aber einen Krieg, nein, den wünsche ich uns keinesfalls! Und zum Fouquier-Tinville oder Robespierre, der die Gegner aufs Schafott schickt, eigne ich mich ganz gewiss nicht. Ein solches Angebot würde ich entschieden zurückweisen!«
Putti, der sich mit Karl Erbslöh unterhalten und seinem Vater nur mit einem Ohr zugehört hatte, fragte interessiert: »Was ist dir denn noch angeboten worden, Papa? Vielleicht wäre das etwas für mich – ich bin ja in einem halben Jahr mit der Schule fertig!«
Aber da er nur Gelächter und von seiner Mutter einen vorwurfsvollen Blick erntete, stand er auf und sagte zu Karl Erbslöh: »Komm, lass uns in die gelateria gehen – ich lade dich ein!«
In der Eisdiele gleich um die Ecke arbeitete Maddalena, eine Sizilianerin, kaum älter als er, in die er – und leider auch Karl – sich verliebt hatten.
Maddalena war um diese Abendstunde nicht sehr beschäftigt. Auch hatte sie am kommenden Freitag – das war schon übermorgen – bis gegen 16 Uhr frei. Sie hatte schon halb und halb versprochen, sie dann auf einen Ausflug zu begleiten. Putti plante, ein kleines Boot zu mieten und mit ihr auf den See hinauszurudern. Karl Erbslöh ruderte nicht gern – vielleicht würde er im Strandcafé auf sie warten, wenn er zum Trost einen großen Eisbecher spendiert bekäme …
Putti war willens, sich in beträchtliche Unkosten zu stürzen, um wenigstens einmal für eine halbe Stunde mit dem Mädchen allein zu sein. Dass Maddalena sich dann von ihm küssen lassen würde, war zwar sehr unwahrscheinlich, aber es ließ sich immerhin davon träumen.
Es verlief dann am Freitag zunächst wirklich alles so, wie Putti es sich erhofft hatte: Es war der 2. September 1938, sein Vater war in Venedig und wurde erst am nächsten Tag zurückerwartet. Seine Mutter und Frau Erbslöh hatten, um der Hitze zu entgehen, sich zu einem Besuch des Palazzo Giovio entschlossen, wo sie das Antikenkabinett besichtigen wollten, und Karl war tatsächlich im Strandcafé zurückgeblieben. Also konnte er allein mit Maddalena auf den See hinausrudern.
Er hatte ihr bereits versichert, dass er sie ganz toll fände; sie hatte es lächelnd zur Kenntnis genommen und nach kurzem Zögern erklärt, er sei ein wirklich netter Junge, molto gentile, ganz anders als die Burschen, die auf der Straße immer hinter ihr her pfiffen – kurz, alles schien zum Besten zu stehen, da sagte Maddalena plötzlich: »Schau mal, Riccardo, da am Steg, wo wir abgelegt haben, da winken sie uns ganz aufgeregt zu!«
Er drehte sich um, erkannte in der Ferne seine Eltern und Erbslöhs, die ihnen aufgeregt bedeuteten, schleunigst zurückzukommen.
So endete die Ferienromanze, noch ehe sie so recht begonnen hatte, und es war auch Schluss mit dem unbeschwerten Urlaub in Como, Schluss mit Italien und mit allen Plänen und Hoffnungen, denn als sie in Rufweite waren, hörte Putti seinen Vater schreien: »Beeil dich, Junge, wir müssen rasch zum Bahnhof! Der Zug nach Chiasso fährt in zwölf Minuten!«
Ein Taxi stand bereit. Putti, noch in Trainingsanzug und Tennisschuhen, darunter die Badehose, denn er hatte vorgehabt, mit Maddalena zu schwimmen, war kaum am Ufer, da zogen ihn die Eltern auch schon mit sich. Er konnte gerade noch dem erstaunten Mädchen und Erbslöhs »Ciao – bis bald!« zurufen, da fuhren sie auch schon ab.
Vor sich im Taxi sah er die drei kleinen Koffer, mit denen sie aus Rom gekommen waren. Die Mutter wischte sich die Augen mit dem Taschentuch, mit dem sie eben noch Frau Erbslöh ein Lebewohl zugewinkt hatte.
»Was ist denn los? Müssen wir weg?«
»Ja«, erklärte sein Vater, und es klang sehr deprimiert, »heute früh hat die italienische Regierung beschlossen: Alle Juden – außer solchen mit amerikanischen Pässen – müssen Italien bis zum 31. März nächsten Jahres verlassen – oder sie werden nach Abessinien deportiert!«
»Aber dann haben wir doch noch ein halbes Jahr Zeit, Papa – weshalb beeilen wir uns so?«
»Es ist keine halbe Minute mehr zu verlieren – jeden Augenblick kann die Schweiz die Grenzen schließen!«
Sie trafen am Bahnhof ein, als der Zug aus Mailand schon einlief, der sie in die nahe Schweiz bringen sollte. Er war völlig überfüllt. Vor allen Wagentüren hingen Menschentrauben. Auf den Trittbrettern stehend und sich an die Griffe klammernd, waren viele, die in den Abteilen keinen Platz mehr gefunden hatten, schon von Milano bis Como mitgefahren. Es grenzte an ein Wunder, dass es ihnen gelang, Lottchen in ein Abteil zu drängen und selbst noch mitzukommen, wenn auch unter Verlust von Papas grauem Homburg und zweier Koffer. »Halt dich nur ja gut fest!«, rief ihm der Vater vom Trittbrett des nächsten Wagens aus zu, noch ganz außer Atem. Zum Glück waren es nur fünf Kilometer bis zur Grenze.
Die allermeisten im und am Zug waren deutsche Emigranten, die ebenfalls nicht gezögert hatten, alles stehen und liegen zu lassen, um noch in die Schweiz zu kommen. Alle waren erschöpft und verzweifelt. Als der Zug in Chiasso hielt, herrschte nervöse Spannung.
Die schweizerischen Grenzbeamten waren zunächst sprachlos vor Staunen. Die Nachricht von der Ausweisung aller deutschen Flüchtlinge aus Italien hatte sie noch nicht erreicht, und es waren ihnen keine Instruktionen für einen solchen Sonderfall erteilt worden. Nach kurzer Beratung machten sie sich an die Abfertigung, versahen Pass um Pass mit ihrem Stempel. Die in den Abteilen zusammengepferchten Menschen atmeten auf, weinten und lachten zugleich. Sie hatten es geschafft! Die Passkontrolle nahm mehr als eine Stunde in Anspruch. Die Hitze im stehenden Zug und das Gedränge wurden zur Qual. Von Neuem breitete sich bei den noch nicht Abgefertigten die Angst aus, es könnte doch noch etwas dazwischenkommen, was ihre Einreise in die rettende Schweiz verhindern würde.
Endlich ruckte der Zug an und fuhr weiter. Eine Viertelstunde später erreichten sie Lugano.
»So, jetzt habe ich genug!«, rief Curt Eichelbaum seinem Sohn zu. »Wenn es uns gelingt, Mama aus ihrem Abteil zu befreien, bleiben wir hier!«
Es war 19.30 Uhr, als sie wieder vereint auf dem Bahnsteig standen: Papa im eleganten Zweireiher, nun leider ohne Hut, in der Tasche den Anstellungsvertrag der Universal Pictures, der aber keinen Rappen mehr wert war, weil er nur für Italien galt; Lottchen im leichten Sommerkostüm, mit kleinem Strohhut und Schleier sowie Spitzenhandschuhen, wie sie es für die Besichtigung des Antikenkabinetts für angemessen gehalten hatte; Putti im hellblauen Trainingsanzug, darunter die Badehose. Seine Tennisschuhe waren von der Bahnfahrt sehr schmutzig. In der Hand hielt er das einzig gerettete, etwas ramponierte Köfferchen mit Mamas Nachtzeug und Kosmetika …
»Wir müssen sehen, dass wir noch in einem Hotel unterkommen – es ist Freitagabend – bis Montag wird mein Bargeld wohl reichen«, sagte sein Vater. »Es war wahrhaftig überflüssig, Fahrkarten 1. Klasse zu lösen …!«
Als sie durch die Bahnhofshalle gingen, hörten sie einen Beamten seinem Kollegen zurufen: »He, Giulio – Anweisung aus Bern! Ab sofort dürfen Flüchtlinge aus Italien nicht mehr einreisen! Gib es rasch durch nach Chiasso – da läuft gleich der Express aus Rom ein!«
Jetzt erst wurde es Putti klar, dass es kein Zurück mehr gab – kein Abitur am Lycée, keine Juniorpartnerschaft mit Signore Luigi, auch kein Zuhause mehr mit eigenen Sachen … Alles, aber auch tatsächlich alles, was sie nicht auf dem Leibe trugen, war in Rom und Como zurückgeblieben!
»Peppino hat mir versprochen, die Blumen zu gießen«, hörte er seine Mutter sagen. »Ich hoffe, er denkt daran …«
Ganz mechanisch antwortete er: »Bestimmt, Mama, auf Peppino ist Verlass!«
Dabei gingen ihm ganz andere Dinge durch den Kopf. Er dachte an Willy Karols kühne Prognose, dass sie in Italien absolut sicher seien. Wahrscheinlich hatten Karols heute früh Rom verlassen – mit dem Expresszug, der jetzt in Chiasso einlief … Aber um Karol, so fand Putti, brauchte man sich keine großen Sorgen zu machen. Der würde schon Mittel und Wege finden, an einen sicheren Ort zu gelangen, und bestimmt würde er auch nicht allen Besitz zurücklassen …
»Hebt alles Geld von der Bank ab«, hatte er ihnen schon Mitte August geraten, als die Sudetenkrise erhöhte Kriegsgefahr vermuten ließ. Papa hatte daraufhin den größten Teil ihres Geldes nach Zürich überweisen lassen, so dass sie nun zum Glück nicht völlig mittellos waren. Auch Putti hatte seine Ersparnisse, den Grundstock seiner künftigen Einlage bei Signore Luigi, entsprechend Onkel Willys Rat, abgehoben und mit nach Como genommen – aber natürlich nicht mit zur Ruderpartie mit Maddalena! Wo, zum Teufel, hatte er es bloß gelassen? Doch nicht etwa in seinem Koffer, den er bei der Abfahrt von Como verloren hatte?!
Aber dann fiel ihm ein, dass er den Umschlag mit den Banknoten – umgerechnet fast 200 Schweizer Franken – zusammen mit seinem Pass der Mama in Aufbewahrung gegeben hatte, und da sein Reisepass in Chiasso vorgezeigt und gestempelt worden war, hatte sie wohl auch sein Geld mitgenommen … – Er mochte sie jetzt nicht fragen, da sie gerade erst das Hotel erreicht hatten.
Was ihre Pässe betraf, so hatte Willy Karol ihnen dringend geraten, sie vor dem Urlaub verlängern zu lassen, da sie bald abliefen. Zum Glück hatten sie auch diesen Rat befolgt, so dass sie jetzt deutsche Reisepässe hatten, die bis August 1943 gültig waren – allerdings jeder nun versehen mit einem drei Zentimeter hohen, roten J, das ihnen ein Beamter der Deutschen Botschaft in Rom auf die erste Seite gestempelt hatte. Auch die dafür erhobenen Gebühren – zwanzig Lire für jeden – waren im Pass korrekt vermerkt; niemand sollte glauben, die amtliche Kennzeichnung als Jude wäre gratis gewesen.
Ob das J im Pass Vor- oder Nachteile bringen würde, war noch nicht abzusehen. Dem Empfangschef des Hotels, der ihnen noch ein Doppel- und ein Einzelzimmer geben konnte – die letzten, wie er sagte, und zu einem ungewöhnlich hohen Preis –, schien das unübersehbare J in den Pässen, die er einbehielt, nichts auszumachen. Vielleicht, dachte Putti, wussten die Schweizer noch gar nicht, was es damit auf sich hatte …
Indessen – aber das konnten sie damals noch nicht ahnen – war diese Kennzeichnung der Personalpapiere deutscher Juden eine original Schweizer Idee! Der Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei Dr. Rothmund hatte diesen Einfall gehabt, und der Judenreferent des Reichsinnenministeriums, Dr. Hans Maria Globke, der zu Besuch in Bern gewesen war, hatte den Vorschlag des schweizerischen Kollegen dankbar aufgegriffen und alsbald verwirklicht. Die Betroffenen, die die Zusammenhänge nicht kannten, ja damals kaum für möglich gehalten hätten, merkten jedoch bald, welche praktischen Folgen das rote J in ihren Pässen für sie hatte.


Wie bei Familie Eichelbaum, so nahmen die Hoteliers auch bei den vielen anderen Flüchtlingen aus Italien deren Notlage zum Anlass, ihnen die schlechtesten Zimmer zu stark erhöhten Preisen zu vermieten. Sie konnten ja nicht ablehnen, diese gehetzten ebrei tedeschi, sondern mussten froh und dankbar sein, eine Unterkunft zu finden, und dank der Fürsorge der Behörden war eine Verwechslung der Emigranten mit normalen Feriengästen ausgeschlossen.
In der Schweiz waren schon Tausende von Flüchtlingen aus Deutschland, Österreich und der bedrohten Tschechoslowakei, zu denen nun auch noch die aus Italien kamen. Ihnen allen gewährten die schweizerischen Behörden nur befristete Aufenthalts- und keine Arbeitserlaubnis. Je nachdem, wie viel Geld sie noch hatten, war die Frist kürzer oder länger.
Dottore Eichelbaum erhielt im Hinblick auf sein aufgefülltes Zürcher Bankkonto für sich und seine Angehörigen drei Monate Aufenthalt bewilligt sowie den Rat, sich keine Hoffnung auf eine Verlängerung zu machen, jedenfalls nicht im Kanton Tessin, der seine Hotelbetten für reguläre Gäste brauchte, sich vielmehr so schnell wie möglich nach Auswanderungsmöglichkeiten umzusehen.
»Sie meinen«, hatte Puttis Vater höflich gefragt, »es gibt wirklich Länder, die noch gastfreundlicher als die Schweiz sind?«
Die ersten Erfahrungen, die Eichelbaums seit ihrer Ankunft in Lugano gesammelt hatten, waren nicht gerade ermutigend, obwohl an Plänen und Projekten kein Mangel herrschte. Jeder der Flüchtlinge, mit denen sie sprachen, riet ihnen zu etwas anderem.
Da war zum Beispiel das Bolivien-Projekt: Ihr Zimmernachbar, Dr. Löwy aus Milano, früher Nürnberg, hatte mit seinen letzten Ersparnissen Land in der Provinz Cochabamba gekauft, denn nur Grundbesitzer hatten Aussicht, ja sogar ein gesetzliches Anrecht auf Erteilung der Einreise- und Aufenthaltserlaubnis.
»Die Provinz Cochabamba ist etwa so groß wie Bayern, aber nur sehr dünn besiedelt, hauptsächlich von Indios«, berichtete Dr. Löwy, »aber das Klima ist erträglich«, wohl weil auch die Niederungen dort etwa die Höhe des Zugspitzplateaus haben.
Dr. Löwy hatte seine Kenntnisse nur aus einem Lexikon. Er war, wie er freimütig zugab, überhaupt nicht daran interessiert, seine Ländereien je zu betreten. Er wollte nach La Paz, der Hauptstadt, und das fehlende Geld für die Überfahrt sowie ein kleines Startkapital gedachte er sich dadurch zu verschaffen, dass er seinen Landbesitz und das damit verbundene Einreiseprivileg mit anderen teilte – natürlich gegen entsprechende Bezahlung.
»Und was soll das kosten?«, hatte Lottchen ängstlich gefragt, als Mann und Sohn sie in diese Pläne einweihten.
»Für eine Parzelle, groß genug, uns ein Anrecht auf unbefristeten Aufenthalt in Bolivien zu geben, will Dr. Löwy 2.000 Franken haben. Das Visum selbst, das es normalerweise für 10 Franken pro Person gibt, soll für uns drei 1.500 Franken kosten. Der bolivianische Konsul, der es erteilt und auch den Kaufvertrag beglaubigen muss, ist in Paris. Da die Franzosen keinen deutschen Flüchtling mehr einreisen lassen, hat Dr. Löwy mit dem Konsul telefoniert. Er ist bereit, nach Lugano zu kommen und alles hier zu erledigen – die Kosten werden wir uns teilen. Dann brauchen wir noch die Schiffskarten – der Konsul empfiehlt uns einen Frachter, der in drei Wochen von Antwerpen nach Antofagasta ausläuft. Die Überfahrt dauert nochmals vier bis fünf Wochen und kostet für uns drei etwa 2.000 Franken, weitere 300 Franken die Eisenbahnfahrt von Antofagasta nach La Paz, und schließlich brauchen wir noch ein französisches, ein belgisches und ein chilenisches Durchreise-Visa …«
»Hat denn Bolivien keinen eigenen Hafen?«
»Es grenzt so wenig ans Meer wie die Schweiz – leider. Aber Chile und Belgien geben ohne Schwierigkeiten die Durchreisevisa – mit dem üblichen zwei- bis dreitausendprozentigen Aufschlag für Leute wie uns, versteht sich. Aber Frankreich lässt niemanden mehr ein- oder auch nur durchreisen – das ist der eine Haken, und deshalb muss Dr. Löwy den Konsul ja auch herkommen lassen. Vielleicht gibt es aber ein Flugzeug nach Brüssel …«
»Und was ist der andere Haken?«
Curt seufzte. »Wer garantiert uns, dass die Bolivianer diese teuer erkauften Visa überhaupt anerkennen? Man hört schreckliche Geschichten von falschen Stempeln, mit denen Emigranten um ihre letzten Groschen geprellt worden sind.«
»Ich weiß nicht, Curtchen, ob wir es wirklich mit Bolivien versuchen sollen – es scheint mir doch sehr riskant und auch entsetzlich teuer …! Du hattest doch gestern noch ein anderes Projekt – war es Uruguay oder Paraguay? Ich verwechsle das immer. Hätte ich doch bloß beim Erdkundeunterricht besser aufgepasst – aber wer konnte das damals ahnen?«
Es gab sowohl ein Uruguay- als auch ein Paraguay-Projekt, ferner Pläne für Costa Rica, Panama, Honduras und Guatemala. Samt und sonders waren sie noch etwas windiger und kaum billiger als das Bolivien-Angebot des Dr. Löwy, der früher in Nürnberg ein tüchtiger Hals-Nasen-Ohren-Arzt gewesen war, in Mailand zuletzt Nachtportier in einem Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs und nunmehr einer der zahlreichen Makler, die überseeische Grundstücke und unsichere Visa anboten.
Es gab aber noch weitere und durchaus seriöse Projekte: Putti hatte sich mit einer wohlhabenden norwegischen Familie angefreundet, die drei Wochen in Lugano gewesen war. Nachdem er ihr ihre Situation geschildert hatte, war sie mit dem Versprechen heimgereist, ihnen die Einwanderung nach Norwegen zu ermöglichen.
Sodann hatten sie gute Aussichten, in Kürze ein Visum für Palästina zu bekommen. Enge Freunde der nach Schweden geflüchteten Hirschfelds, die bereits in Tel Aviv waren, hatten für Familie Eichelbaum schon die Bürgschaft geleistet und drängten die britische Mandatsverwaltung, ihnen die Einreiseerlaubnis via London und den Konsul in Zürich zu erteilen – telegraphisch, denn andernfalls würde es Monate dauern …
Das Traumziel aller, die wie Eichelbaums nur eine befristete Erlaubnis zum Aufenthalt in der Schweiz hatten, waren indessen die USA. Aber weil sich der Andrang so gewaltig verstärkt hatte, waren die Wartezeiten für Einwanderer immer länger geworden. Puttis Vater, der schon kurz nach ihrer Ankunft in Lugano nach Zürich gefahren war und das dortige amerikanische Generalkonsulat aufgesucht hatte, war zwei Tage später sehr niedergeschlagen zurückgekommen.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es dort zugeht! Hunderte von verzweifelten Menschen belagern das Haus, warten schon viele Stunden vor Bürobeginn auf der Straße und müssen sich wie lästige Bettler behandeln lassen … Die Arroganz und Frechheit der Konsulatsangestellten spottet jeder Beschreibung! Es ist nicht zu fassen …«
»Hast du denn etwas erreichen können? Hat dich der Generalkonsul empfangen? Du kennst ihn doch von früher her …«
»Der Herr Generalkonsul ist für niemanden zu sprechen. Er thront irgendwo über den Wolken wie der liebe Gott, spielt Bridge und darf nicht gestört werden. Der für die Einwanderung zuständige Vizekonsul ist sein Stellvertreter auf Erden, kann aber keine Audienz gewähren. Er hat einen Adlatus namens Mr. Harry D. Solobkovey, der sich nun zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen hat und, so war zu erfahren, gelegentlich Gnade walten lässt – für bare 5.000 Dollar pro Kopf!«
»Wenn wir alles zusammenkratzen, Curtchen«, meinte Lotte Eichelbaum daraufhin zögernd, »dann – meinst du nicht …?«
Ihr Mann schüttelte energisch den Kopf. »Ich bringe das nicht fertig – niemand kann aus seiner Haut … Ich bin preußischer Notar! – Und ich will auch nicht mittels Bestechung nach Amerika einreisen und dann zittern, weil es herauskommen könnte und wir dann mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagt würden. Nein, das kommt nicht in Frage. Außerdem hätten wir, wenn wir Mr. Solobkovey unser letztes Geld aushändigten, keinen Cent mehr – wovon sollen wir dann die erste Zeit leben?«
»Du könntest doch unser Porzellan verkaufen …«
Ihr Mann sah sie überrascht an. Er schien sehr gerührt. »Nein, nein«, sagte er dann. »Das kommt nur in Frage, wenn alle Stricke reißen! Vorläufig reicht unser Geld noch, und ich denke, dass wir unsere Aufenthaltserlaubnis noch einmal verlängert bekommen. Wir werden in einen anderen Kanton ziehen – vielleicht nach Lausanne …«
»Und wie lange werden wir auf unsere Einreiseerlaubnis nach Amerika warten müssen? Stimmt es, dass es jetzt regulär mindestens drei Jahre dauert?«
Er nickte, zögerte etwas und sagte schließlich: »Es ist aber noch gar nicht sicher, dass wir die Visa überhaupt bekommen! Mr. Solobkovey hat sich für die Flüchtlinge aus Deutschland eine neue Quälerei ausgedacht: Er akzeptiert keine Bürgschaften mehr, wenn sie von amerikanischen Freunden stammen, wie unsere. Er verlangt, dass sich Verwandte in Amerika eidesstattlich für die Einwanderer verbürgen und notfalls für deren Unterhalt aufkommen …!«
»Aber wir haben doch keine Verwandten in USA!«
»Eben – und deshalb müssen wir versuchen, erst einmal in ein anderes Land zu kommen, wo beim amerikanischen Konsulat kein so starker Andrang herrscht und kein Schurke wie dieser Solobkovey die Bestimmungen ändert, wie es ihm gerade in den Kram passt! Sind wir erst einmal in Südamerika, zum Beispiel in La Paz …«
»… oder in Palästina«, warf Lottchen ein, »obwohl ich wirklich nicht weiß, was wir da sollen – als Dissidenten …«
»… oder in Norwegen«, rief Putti. »Ich bin sicher, dass das klappt!«
»Norwegen«, meinte sein Vater, »wäre mir am liebsten – das ist ein freundliches Land. Man wäre noch in Europa und brauchte trotzdem keine Angst zu haben, dass Hitler dort seine Wehrmacht einmarschieren lässt wie jetzt in die Tschechoslowakei …«
Doch aus Oslo kam ein paar Tage später ein langer Brief. Es täte ihnen sehr, sehr leid, schrieben die norwegischen Bekannten, aber die Behörden dort stellten jetzt unerfüllbare Bedingungen. Trotzdem wollten sie sich weiter bemühen, nur sollten sich Eichelbaums keine allzu großen Hoffnungen mehr machen. Kurz darauf kam ein Telegramm aus Tel Aviv:
Herzlichen Glückwunsch! Visa sind unterwegs. Rückdrahtet wann ihr eintrefft – aber am selben Tag, an dem diese frohe Botschaft Eichelbaums in Lugano erreichte, meldeten die Zeitungen, die britischen Behörden hätten die Einwanderung nach Palästina gestoppt und alle bereits erteilten Genehmigungen ausnahmslos widerrufen.
Es war ein unfreundlicher Novembertag, an dem auch diese letzte ihrer Hoffnungen zerstob. Putti hatte sich nach dem Frühstück wieder auf sein Zimmer begeben, denn es gab absolut nichts für ihn zu tun. So saß er im Trainingsanzug lesend im Bett. Einer der beiden italienischen Adligen, mit denen er manchmal Karten spielte, hatte ihm einen Kriminalroman geliehen. Es war kalt im Zimmer, und obwohl er sich die Bettdecke um die Schultern gezogen hatte, wurde ihm nicht wärmer.
Er überlegte, ob er noch den Pullover überziehen sollte, den er sich vorige Woche von seinem letzten Geld gekauft hatte. Von seinen römischen Ersparnissen, die zum Glück nicht in Como zurückgeblieben waren, hatte er sich Sandalen, Strümpfe, etwas Unterwäsche und drei Polohemden gekauft. Papa war nicht dazu zu bewegen gewesen, sich um Liebesgaben zu bewerben, die ein jüdischer Hilfsfonds für die Flüchtlinge gesammelt hatte.
»Es gibt völlig Mittellose, die die Kleiderpakete weit dringender brauchen«, hatte er erklärt, »und außerdem sind wir nie Gemeindemitglieder gewesen.«
Immerhin hatte er dann von Papa Geld für eine Hose bekommen, aber die hing im Schrank, und er trug sie, um sie zu schonen, nur zu besonderen Anlässen, beispielsweise bei seinem Besuch im britischen, danach auch im französischen Konsulat, wo er sich nach Möglichkeiten erkundigt hatte, Matrose oder Soldat zu werden. Beinahe alles, so fand er, wäre besser, als tagein, tagaus auf Hotelzimmern herumzusitzen.
Der englische Vizekonsul hatte ihm seinen Pass abverlangt, war damit ins Nebenzimmer verschwunden, hatte ihn lange warten lassen und schließlich mit der Bemerkung, man habe für ihn keine Verwendung, wieder weggeschickt. Nun ja, es war ja ohnehin nur ein verzweifelter, von keiner Hoffnung auf Erfolg beflügelter Versuch gewesen, gegen die Langeweile anzukämpfen, gegen die Öde des Lebens ohne Beschäftigung, ohne Arbeit und Verdienst, ohne die Möglichkeit, etwas zu lernen.
Aber nun hatte er einen Stempel in seinem Pass: BRITISH VISA DECLINED …! Eine schlimme Sache, die böse Folgen auch bei anderen Konsulaten haben könnte und die er seinen Eltern bislang verheimlicht hatte. Um sich bescheinigen zu lassen, dass ihm ein – gar nicht verlangtes! – Visum verweigert worden war, hätte er den britischen Vizekonsul auch im Trainingsanzug besuchen können …
Der französische Konsul hatte ihn etwas freundlicher behandelt, aber auch nur, um ihm den Eintritt in die Fremdenlegion zu empfehlen. Dort wäre es gar nicht so schlimm, und es gäbe gut zu essen. Doch er hatte den Vorschlag entrüstet zurückgewiesen: »Hören Sie, monsieur le consul, ich habe am Lycée Chateaubriand Racine und Molière studiert! Glauben Sie, ich hätte die Fabeln von Lafontaine auswendig gelernt pourfaire la chair à canon en Afrique? Ah, non, monsieur!« Auch für diesen Konsulatsbesuch hätte der blaue Trainingsanzug genügt.

Deshalb schonte Putti fortan die neue Hose, den Pulli und die Polohemden. Im Hotel und in dessen näherer Umgebung kannte man ihn nur in der Kleidung, in der er in Lugano angekommen war. Der Geschäftsführer rümpfte jedes Mal die Nase, wenn er seiner ansichtig wurde, und eines Sonntags, als im Hotelrestaurant eine Hochzeit gefeiert wurde, wollte er Putti sogar am Betreten des Speisesaals hindern.
»Haben Sie nichts Ordentliches anzuziehen, nicht mal bei festlichen Anlässen?«
Aber damit kam er bei dottore Eichelbaum schlecht an. Ehe Putti etwas erwidern konnte, erklärte sein Vater: »Wenden Sie sich an den Duce, signore! Er und seine Leute haben dafür gesorgt, dass wir uns aus keineswegs festlichem Anlass hier aufhalten – als unfreiwillige und viel zu viel bezahlende Gäste! Hätten die uns nicht unserer Sachen beraubt, würde mein Sohn elegantissimo dinieren – zwar nicht hier, wo nur die Preise feudal sind!«
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