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II. Frauenchöre
1. Trachinierinnen
Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur
Als einzige der uns überlieferten Tragödien des Sophokles ist die vorliegende nach dem Chor benannt;1 dies begründet sich allerdings nicht durch eine besonders herausgehobene Stellung des Chors, sondern ist vielmehr dem Umstand geschuldet, dass sich kein einzelner Hauptheld der Tragödie angeben lässt: Im Mittelpunkt der Handlung stehen mit Deianeira und Herakles zwei Gestalten, deren Verhältnis zueinander das eigentliche movens des Geschehens darstellt. Die namensgebenden trachinischen Frauen sind dabei Zeuginnen der letzten Lebensstunden von Deianeira, die den ebenfalls bevorstehenden Tod ihres Mannes Herakles zu verantworten hat.
Deianeira erwartet seit geraumer Zeit die Rückkehr des Herakles, der sich fern der trachinischen Heimat seinen gefährlichen Aufgaben widmet. Sie ist dabei ganz von Angst und Sorge ergriffen. Erst die Botschaft von der bevorstehenden Ankunft ihres Mannes vermag sie von ihrer Beklommenheit zu befreien. Bevor allerdings Herakles selbst den Ort des Geschehens betritt, kommt ein durch seinen Vertrauten Lichas angeführter Zug von Kriegsgefangenen bei Deianeira an. Auch wenn Lichas zunächst zu verbergen sucht, dass die gefangene Iole, die Tochter des von Herakles besiegten Eurytos, die Geliebte des Heros ist, erhält Deianeira schließlich Kenntnis von diesem Umstand. In ihrer Eifersucht greift sie zu einem besonderen Mittel: Sie schickt Herakles ein Gewand, das sie zuvor im Blut des Kentauren Nessos getränkt hat; dieser hatte ihr kurz vor seinem Tod versprochen, diese Maßnahme werde ihr die Liebe ihres Gatten sichern. In Wahrheit hat sie damit allerdings einen verheerenden Fehler begangen, da das Blut des Nessos auf der Haut des Herakles seine tödliche Wirkung entwickelt und das Gewand den Helden geradezu auffrisst. Deianeiras Sohn Hyllos überbringt ihr die schreckliche Nachricht; sie verlässt daraufhin die Bühne und begeht Selbstmord. Erst gegen Vers 970 tritt Herakles selbst vor die Augen des Publikums. Der bereits im Sterben liegende Held verfügt im Gespräch mit Hyllos letzte Weisungen hinsichtlich der genauen Umstände seines Todes und seiner Feuerbestattung. Mit dem Auszug in Richtung Berg Oite, auf dem Heraklesʼ Scheiterhaufen errichtet werden soll, endet die Tragödie.
ZIMMERMANN wird dem Stück im Ganzen gerecht, wenn er es in seiner kurzen Zusammenfassung „eine Doppeltragödie“ nennt, „in deren erstem Teil Deianeira, Heraklesʼ Gattin, im Zentrum steht“.2 Diese zweiteilige Struktur – zunächst die Bühnenpräsenz Deianeiras, nach deren Abtritt die des Herakles – entspringt dabei der Bipolarität der Personenkonstellation. Der – freilich auch durch die realen Gegebenheiten bedingte3 – dramatische Kunstgriff, die beiden Hauptpersonen nie zur selben Zeit vor dem Publikum agieren zu lassen, bringt eine besondere Verflechtung von vorder- und hinterszenischer Handlung mit sich. Die Doppelung der Handlung in diese beiden Bereiche, die erst mit dem Auftritt des sterbenden Herakles aufgehoben wird, ist dabei ein entscheidendes und je im Einzelfall zu untersuchendes Strukturmoment der Tragödie.4
Nichtsdestoweniger präsentiert sich die vorliegende Tragödie trotz ihrer deutlichen, in der Personenkonstellation angelegten Zweiteilung als Ganzes, was gerade auch eine Betrachtung der chorischen Partien erweisen wird. Die trachinischen Frauen stehen dabei rollenimmanent zunächst Deianeira zur Seite und sind unmittelbarer Widerpart ihrer Äußerungen sowie Spiegel ihrer Emotionalität.
Interpretation1
Prolog (v. 1–93)
Die gesamte Aufmerksamkeit konzentriert sich zunächst auf Deianeira, die in einem umfangreichen Monolog (v. 1–48) ihre Vorgeschichte erzählt und in die momentane Situation einführt. Dabei scheint Deianeira kein konkreter Adressat ihrer Worte vor Augen zu stehen; sie spricht niemanden an. Mit ihren ersten Worten referiert sie ein bekanntes Diktum (λόγος ἀρχαῖος) und macht ihre herausgehobene Position deutlich: Auch wenn es heißt, man könne das Leben eines Menschen erst nach dessen Tod vollständig kennen (ἐκμάθοις), d.h. überblicken und bewerten, wisse sie bereits jetzt von ihrem eigenen Schicksal, dass es unglücklich und schwer zu tragen sei (δυστυχῆ τε καὶ βαρύν). Schon als sie noch im Haus ihres Vaters lebte, versetzte sie die Brautwerbung des Flusses Acheloos in Angst und Schrecken; damals wollte sie eher sterben, als mit ihm, dessen schauerliche Gestalten sie beschreibt, das Bett zu teilen (v. 15ff.). Schließlich aber kam Herakles, der berühmte Sohn von Zeus und Alkmene, und befreite sie von dem aufdringlichen Freier. Die Beziehung zu diesem Helden ist allerdings nicht frei von Belastungen: Zwar ist sie mit ihm verheiratet und hat mit ihm Kinder gezeugt, seine ständige Abwesenheit aber ist für Deianeira Anlass zu Sorge und Angst. Besonders schwer zu ertragen seien dabei die Nächte, die ihr Leid von einer auf die nächste zu übergeben scheinen (v. 29ff.).
Nun, da Herakles seine mühevollen Aufgaben (τῶνδʼ ἄθλων) erfolgreich beendet habe (v. 36), sei sie umso besorgter: Schließlich wohne sie seit der Tötung des Iphitos durch Herakles bei einem Gastfreund in Trachis, wobei Herakles selbst seit mittlerweile fünfzehn Monaten nicht mehr bei ihr gewesen sei. Wo er sich befinde, wisse sie nicht zu sagen, und habe auch bisher keine Nachricht von ihm erhalten; einzig eine Schreibtafel habe er ihr hinterlassen. Deren Inhalt gibt sie an unserer Stelle zwar nicht bekannt, verleiht allerdings ihrer Hoffnung Ausdruck, das Schriftstück ohne (späteres) Leid empfangen zu haben.
An dieser Stelle schaltet sich die (wohl schon von Beginn an auf der Bühne präsente) Amme ein: Schon lange sehe sie ihre Herrin sich um Herakles sorgen und seine Abwesenheit beklagen. Um Abhilfe zu schaffen, schlägt sie vor, nach Herakles auszuschicken – und benennt mit dessen Sohn Hyllos gleich einen für diese Aufgabe besonders geeigneten Kandidaten. Deianeira ist von diesem Vorschlag, obwohl er von einer Bediensteten gemacht wurde, überzeugt und legt es ihrem soeben, d.h. im dramatisch passenden Augenblick aufgetretenen Sohn1 nahe, nach seinem Vater zu suchen. Hyllos kennt aus „Erzählungen“ (μύθοις) dessen Aufenthaltsort: Zunächst habe Herakles ein Jahr einer lydischen Frau gedient und sei nun dabei, die Stadt des Eurytos auf Euboia zu belagern. Deianeira wird durch diese Auskunft in Sorge versetzt, da ihr Herakles einen verlässlichen Orakelspruch (μαντεῖα πιστά) bezüglich dieser Region hinterlassen hat (v. 79ff.): Entweder werde er dort den Tod finden oder nach überstandenem Kampf ein glückliches Leben führen. Ihrem Sohn macht Deianeira daraufhin unmissverständlich klar, dass nicht nur Heraklesʼ Leben, sondern ebenso das seiner Familie auf dem Spiel stehe und daher seine tätige Mithilfe von Nöten sei. Hyllos erklärt sich sofort bereit, zu seinem Vater aufzubrechen und die ganze Wahrheit über die Angelegenheit zu erfahren. Von seiner Mutter dazu aufgefordert verlässt er die Bühne, worauf ihm die Amme folgt; der Prolog hat ein Ende gefunden. In Vers 94 stimmen die trachinischen Frauen des Chors ihr Auftrittslied an. Deianeira tritt entweder ebenfalls ab, bleibt für die Dauer der kommenden Parodos auf der Bühne oder kommt gegen Ende des Liedes wieder an den Ort des Geschehens.2
Was lässt sich speziell in dramaturgischer Hinsicht zum Prolog festhalten? Augenfällig ist die formale Zweiteilung der Prologszene: Auf den ausgreifenden Monolog Deianeiras (v. 1–48) folgt die dialogische Partie der Verse 49–93. War der erste Teil des Prologs relativ statisch, so belebt sich das Geschehen mit der Wortmeldung der Amme und dem Auftritt des Hyllos. Diese formale Abfolge von Statik und Dynamik visualisiert dabei die inhaltliche Entwicklung besonders eindrücklich: Nachdem Deianeira in ihrem Monolog die Vorgeschichte sowie ihren momentanen Zustand referiert hat, rückt mit dem Gespräch der Akteure die Lösung des dargestellten Problems in den Blick.
Auf die ungewöhnliche Konstruktion des auf den ersten Blick euripideisch anmutenden Monologs zu Beginn des Prologs wurde schon vielfältig hingewiesen.3 Unter unseren Gesichtspunkten scheint es geboten, sich kurz mit den formalen Auffälligkeiten der Partie zu beschäftigen. In der Tat beginnt von den erhaltenen Dramen des Sophokles nur das vorliegende mit einem ausführlichen Monolog des Protagonisten/der Protagonistin,4 der umfassend in die Situation einführt – eine Konstruktion, die gerade in den Tragödien des Euripides zum festen Formenrepertoire gehört.5 Die Kommentatoren EASTERLING und DAVIES sind sich dabei mit ERBSE einig, dass die Rhesis Deianeiras bei aller scheinbaren Verwandtschaft zur euripideischen Formensprache eine andere Funktion wahrnehme als der informierende Monolog zu Beginn euripideischer Tragödien. Gerade DAVIES hält fest, es sei weniger Sophoklesʼ Anliegen, mit Deianeiras Monolog formale Informationen über die beginnende Handlung, ihre Verortung in Raum und Zeit sowie die Personenkonstellation vorzubringen, als vielmehr die emotionale Verfasstheit der Sprecherin sowie ihre Abhängigkeit von Herakles darzustellen.6 Dass Deianeiras Rhesis dessen ungeachtet freilich die grundlegenden Informationen zur Handlung bietet, also einen wesentlichen Teil der Exposition darstellt, steht außer Frage.
ERBSEs Argumentation, durch den Gesprächseintritt der Amme sowie Hyllosʼ Auftritt werde der Zuschauer „fast unauffällig in den Gang der Handlung“7 eingeführt, ist in diesem Zusammenhang freilich richtig. Damit ist allerdings zugleich angedeutet, dass Deianeiras Monolog für sich genommen der eigentlichen Handlung vorgeschaltet ist. Wenn er daher allgemein zu Sophokles festhält: „Sein Prolog ist nicht nur zur Handlung hin offen, er ist sogar ein Teil der Handlung selbst“8 – und dies gerade am Monolog Deianeiras festzumachen sucht9 –, so muss zumindest eingestanden werden, dass sich der vorliegende Prolog in besonderem Maß durch die formale Zweiteilung auszeichnet. Die eigentliche Handlung beginnt, anders als in den übrigen Tragödien des Sophokles, hier nicht mit einer dialogischen, dynamischen und passgenau im Ablauf der Geschehnisse zu verortenden Szene, sondern kommt erst mit gewisser Verzögerung in Gang. Anders gesagt: Während in den anderen überlieferten Tragödien unseres Dichters bereits der Beginn des Prologs die erste Szene der Handlung, des aktiven und dynamischen, von den Akteuren geprägten Geschehens darstellt, eröffnet im vorliegenden Fall Deianeiras Monolog das Stück, der als ein rekapitulierendes Moment die nötigen dramatischen Impulse aus der Vergangenheit und der gegenwärtigen Lage ableitet. Inwieweit man auf die von Sophokles mit Absicht komponierte Struktur dabei die Bezeichnung „euripideisch“ anwenden kann, ist angesichts der Zielsetzungen unserer Untersuchung nebensächlich.
Was leistet der Prolog konkret für das vorliegende Drama? Mit ihrem ausführlichen Auftrittsmonolog ist Deianeira als Zentralfigur der kommenden Handlung eingeführt, mehr noch: Sie führt geradezu selbst in die Handlung ein. Ihre aktuelle Problematik bildet vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte den unmittelbaren Handlungsimpuls. Das Drama beginnt aus der Perspektive Deianeiras, sie ist der (eine) Pol, um den sich der Fortgang der Geschehnisse entwickeln wird. Mit der Ausrichtung ihrer Sorge auf Herakles ist die zweite bestimmende Person der Handlung zwar nicht physisch in das aktuelle Bühnengeschehen involviert, vor dem geistigen Horizont der Akteure und des Publikums jedoch in höchstem Maß präsent. Der Prolog macht somit deutlich: Die nun folgende Handlung spielt sich im Spannungsverhältnis zwischen Deianeira und Herakles ab; diese beiden Figuren sind Träger und Ausgangspunkt des Geschehens, ihr Verhältnis zueinander ist der eigentliche dramatische Gegenstand. Dabei tritt uns Herakles vorerst nur im Spiegel der Emotionen seiner Frau gegenüber, was dem Prolog besondere dramaturgische Tiefenwirkung verleiht. Zuschauer und Leser sind sich so bewusst, dass sich neben der aktuellen Bühnenhandlung ein anderes, für das Drama ebenso entscheidendes Geschehen abspielt. Fassbar wird diese hinterszenische Präsenz des zweiten Haupthelden zunächst allerdings nur auf der Folie Deianeiras und ihrer Emotionalität.
Der in Vers 79ff. referierte Orakelspruch unterlegt die Szenerie mit bedrohlicher Spannung. Die hinterszenische, wenig greifbare Herakles-Handlung rückt so unmittelbar in den Fokus der Betrachtung, die Aussendung des Hyllos als Boten stellt seine Rückkehr und möglicherweise eine Heimkehr des Herakles in Aussicht. Hinterszenische und vorderszenische Aktion werden auf diese Weise direkt miteinander verknüpft; eine Zusammenführung der beiden Stränge ist somit nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu bestimmendes Moment der Aussicht auf das Kommende.
Der Prolog hat so das zu Grunde liegende Personenverhältnis geklärt und den unmittelbaren Anlass zum Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung geliefert.10
Parodos (v. 94–140)
Mit Vers 94 betritt der Chor trachinischer Frauen die Orchestra. Sein Kommen ist zunächst weitestgehend unmotiviert: Weder hatte der Prolog eine innerdramatische Begründung für das Eintreffen der Frauen gegeben,1 noch äußern sich die Frauen zu Beginn des Liedes selbst über den Grund oder die Absicht ihres Kommens; dass sie ihrer Herrin in deren schwerer Situation Beistand leisten wollen, erhellt aus dem Fortgang der Parodos. Formal entfaltet sich das Lied dabei in zwei Strophenpaaren mit angehängter Epodos, wobei die Strophenenden zugleich auch syntaktische und inhaltliche Einschnitte darstellen. Der Durchgang orientiert sich dementsprechend an der metrischen Gliederung des Liedes.
Hatte Deianeiras Eröffnungsmonolog mit einer allgemeinen Sentenz begonnen, so betritt der Chor die Bühne unter der konkreten Anrufung einer Gottheit, mit einem personalisierten Gebet. Der namentlichen Nennung des in Rede stehenden Gottes samt der Verbalisierung ihrer Anrufung (Ἅλιον αἰτῶ v. 96) schicken die Frauen einen poetisch kunstvoll gebauten Relativsatz2 voraus: Sie wenden sich an den Gott, den die schillernde Nacht (αἰόλα νύξ),3 wenn sie schwindet, gebiert, den sie, wenn er leuchtet und glüht (φλογιζόμενον), zum Schlafen bringt (κατευνάζει). Die auf diese Weise personalisierte und durch ihr Wechselverhältnis zur Nacht charakterisierte Sonne solle, so die Bitte der Frauen, das Kind Alkmenes, d.h. Herakles, einem Herold gleich „ausrufen“ (καρῦξαι).4 Dass die Frauen dabei Kenntnis des genauen Aufenthaltsortes erlangen wollen, macht die folgende direkte Frage deutlich: „Wo hält er sich mir, wo hält er sich mir auf?“ (98f.). Wie schon bei der Namensnennung unterstreicht auch hier die Gemination πόθι μοι πόθι μοι den wichtigsten Satzbestandteil und verleiht dem Sprechen des Chors eine emotionale, quasi-liturgische Färbung. Eine erneute Anrufung des „mit hellem Glanz Strahlenden“ (v. 99) verleiht der Frage besonderen Nachdruck; zugleich klingt in φλεγέθων das ebenfalls auf Helios bezogene φλογιζόμενον aus Vers 95 und damit die erste Apostrophierung des Gottes innerhalb des Liedes wieder an.
Im Anschluss an LLOYD-JONES5 sowie mit KAMERBEEK6 und DAVIES7 wird man die folgende Alternativangabe des Chors als umfassende Rahmung des Spektrums der Orte verstehen können, an denen sich Herakles möglicherweise aufhält: Entweder, so die trachinischen Frauen, bewohne Herakles die „pontischen Meerengen“ (Ποντίας αὐλῶνας) – halte sich also am Zugang zum Schwarzen Meer und damit im äußersten Osten des Mittelmeerraums auf –, oder er lehne an beiden Kontinenten (δισσαῖσιν ἀπείροις κλιθείς), d.h. am äußersten westlichen Ende des Mittelmeers, an dem sich Europa und Afrika besonders nahe sind.8 Mit dem weit ausgreifenden Panorama, das durch die Nennung der Extrempunkte in Ost und West den gesamten Mittelmeerraum abdeckt, ist zugleich die motivische Geschlossenheit der Strophe gewährleistet: Der Chor vollzieht den Weg der Sonne nach und führt ihr ausgreifendes „Gesichtsfeld“ vor Augen. Dementsprechend schließt eine erneute Anrufung des „gemäß der Sehkraft Überragenden“9 (κρατιστεύων κατʼ ὄμμα) die Strophe: Ihn fordern die Frauen auf, nun Antwort zu geben (εἴπʼ v. 102).
Mit der ersten Strophe ist der grundlegende Rahmen des Stasimons abgesteckt: Poetischer Impuls ist der Blick zu Helios, der als Allsehender prädestiniert ist, Heraklesʼ momentanen Aufenthaltsort anzuzeigen. Die trachinischen Frauen sind dabei in besonderem Maß in das Geschehen involviert und markieren mit Nachdruck ihre emotionale Beteiligung (beachtenswert v.a. das verdoppelte μοι v. 99).
Die Gegenstrophe bietet daraufhin eine Begründung für das vorgebrachte Gebet (γάρ v. 103) – und implicite auch für den Auftritt der Frauen: Der Chor, so die Formulierung in der ersten Person Singular, erfahre (πυνθάνομαι), dass die „umworbene“ (ἀμφινεικῆ) Deianeira, gleich einem unglücklichen Vogel, das Sehnen (πόθον) ihrer Augen nie zu Bett schicke und ihr Weinen unterbreche,10 sondern sich auf ihrem Lager erschöpfe, indem sie die Sorge um den Weg, d.h. den Aufenthaltsort und die Reisen ihres Mannes nähre und dabei eine unglückselige Schickung (δύστανος αἶσα v. 111) befürchte.
Halten wir kurz fest: Thematisch und formal ganz im Zentrum der Strophe steht Deianeiras Verlangen nach Herakles; die, wie EASTERLING11 zu Recht festhält, typisch sophokleische etymologische Wiederholung ποθουμένᾳ und πόθον spiegelt die bereits in der ersten Strophe prominent eingesetzte poetische Figur der Wiederholung πόθι μοι πόθι μοι.12 Poetisch ausgestaltet wird Deianeiras emotionale Lage durch die Vergegenwärtigung ihres abendlichen Kummers. Indem sich die Frauen des Chors dabei ganz konkret Gram und Sorge der im Bett Ruhe Suchenden vor Augen rufen, sind die zu Beginn des Liedes evozierte Thematik von Tag und Nacht sowie (freilich den trachinischen Frauen in ihrer Rolle unbewusst) Deianeiras eigene Worte aus Vers 29f. aufgegriffen und in ein poetisches Bild überführt. Mit dem konventionellen Vergleich (trauernde Frau – klagender Vogel)13 in Vers 105 ist im Lauf der Schilderung eine Imagination aufgeworfen, die allerdings nicht weiter ausgeführt wird. Der Chor ist hier weniger am Vergleich als an der konkreten Verbildlichung einer bestimmten Situation interessiert, die als besonders eindrückliches Beispiel zur Charakterzeichnung Deianeiras und zur lebhaften Ausgestaltung ihrer momentanen Lage beiträgt.
Auch der Beginn des zweiten Strophenpaars soll als Begründung des eben Vorgebrachten verstanden werden (γάρ v. 112): Der Chor bietet im Folgenden die Ursachen für Deianeiras Gram und Verlangen, indem er den Blick auf Herakles richtet. Mit einem ausgreifenden Vergleich machen die Frauen zugleich auf die Gefahr, die Wandelbarkeit und die das normale Maß übersteigende Dimension seines Lebens aufmerksam: Gleichwie man viele Wellen (πολλὰ κύματα) des unermüdlichen Süd- oder Nordwinds auf dem weiten Meer hin- und herwogen sehen könne, so drehe es auch den Kadmosgeborenen,14 d.h. Herakles, hin und her, die Mühe seines Lebens wachse, d.h. nehme bedrohliche Züge an wie das kretische Meer.
Das poetische Bild ist zwar nicht der Lebensrealität der trachinischen Frauen entnommen, die wohl kaum selbst Seefahrt auf dem kretischen Meer betrieben haben. Gerade diese Differenz von Rollenerwartung und aufgerufener Bilderwelt aber lässt den Vergleich umso wirkungsvoller hervortreten. Die Voranstellung des tertium comparationis im ὥστε-Satz führt zunächst weg vom unmittelbaren Zusammenhang, die weite Sperrung der zusammengehörenden Wörter πολλά und κύματα erzeugt nachdrücklich Spannung und erhöht die Aufmerksamkeit, das in zwei Partizipien geschilderte Heranwogen der Wellen (βάντʼ ἐπιόντα) malt das poetische Bild in anschaulicher Ausführlichkeit. Das nach der Nennung des Vergleichspunktes nachgeschobene „wie das kretische Meer“ (v. 118f.) unterfüttert das Bild mit einer konkreten Verortung, führt den Vergleich fort und lässt Herakles als von den tosenden Wellen des Meers eingerahmt in der Mitte der Strophe und der Imagination zu stehen kommen.
Der im Bild drohenden Gefahr setzt der Chor zum Abschluss der Strophe eine beruhigende Erkenntnis entgegen: Einer der Götter halte Herakles immer fern von den Häusern des Hades. Die im Bild des brausenden Meeres evozierte Spannung und konkretisierte Sorge um Deianeiras Mann entlädt sich hier in der gottvertrauenden Sentenz, die ganz aus der Erfahrung der Frauen gesprochen scheint; schließlich sei Herakles bisher immer unversehrt zu seiner Frau zurückgekehrt.
Mit diesem hoffnungsvollen Blick endet die Fokussierung auf Herakles, die zweite Gegenstrophe wendet ihren Blick wieder auf Deianeira und spricht sie direkt an.15 Ein zusammenfassendes Relativpronomen (ὧν) bildet den direkten Anschluss an das Vorangegangene: Während Deianeira sich über die ausgeführte Situation beklage (ὧν ἐπιμεμφομένας), wolle der Chor ihr zwar einen angenehmen (ἀδεῖα),16 allerdings von ihrer eigenen Meinung abweichenden Rat geben (ἀντία). Die ausdrückliche Meinung der Frauen (φαμὶ γάρ) sei, Deianeira dürfe die Hoffnung auf einen guten Ausgang nicht müde werden lassen: Der alles beherrschende Kronide, so die Begründung, werfe den Sterblichen nicht ein Leben ganz ohne Schmerzen zu. Vielmehr wälzen sich Leid und Freude auf alle Menschen, gleichwie die wiederkehrende Bewegung des Großen Bären am Himmel.
Der Ratschlag an Deianeira bedient sich an unserer Stelle klassischer Motive der Konsolationsliteratur;17 die aus der Erfahrung gesprochene Sentenz vom Ende der vorangegangenen Strophe, Herakles werde immer durch göttlichen Einfluss vom Tod bewahrt, hat sich in der Gegenstrophe in eine tröstende Ansprache gewandelt. Der Chor ist so nach der Imagination der Umstände wieder ganz im dramatischen Augenblick angekommen und versucht, die problematische Lage durch die Formulierung einer eigenen Meinung, d.h. durch eine Stellungnahme innerhalb der Situation einer Lösung zuzuführen. Die Berufung auf göttlichen Einfluss manifestiert dabei erneut nach der Anrufung des Helios zu Beginn des Liedes und der allgemeinen Formulierung τις θεῶν (v. 119) das starke Gottvertrauen der trachinischen Frauen.
In der folgenden Epode untermauert der Chor schließlich seine eben vorgetragene Gewissheit noch einmal unter allgemeineren Gesichtspunkten, bevor eine erneute direkte Ansprache an Deianeira und die wiederholte Bekundung des Vertrauens auf den Göttervater die Parodos schließen. Das vorherige ἐπὶ κυκλοῦσιν (v. 129f.) aufnehmend konstatieren die Frauen: Nichts bleibe für die Sterblichen bestehen, weder die schillernde Nacht noch Unglück oder Reichtum; alles wandele sich sofort, sich freuen und der Freude beraubt werden folgen einander auf dem Fuß. Mit Blick darauf müsse auch Deianeira, die hier mit ἄνασσα zum ersten Mal eine spezifische Bezeichnung durch den Chor erhält, Hoffnung haben; denn wer habe Zeus jemals so unbekümmert im Umgang mit seinen Kindern gesehen? Damit ist nach den allgemeingültigen Aussagen noch einmal der eigentliche Anlass des Liedes in den Blick genommen: Zeus als Vater des Herakles wird um seinen Sohn, so die Gewissheit der trachinischen Frauen, auch weiterhin Sorge tragen. Mit dieser hoffnungsvollen Frage endet das Auftrittslied des Chors.
Kurz zusammengefasst: Auch in der Epode scheuen sich die Frauen nicht, dezidiert ihre eigene Meinung vorzutragen (λέγω v. 138). Mit den gnomischen Ausführungen zur Wandelbarkeit des Schicksals und der rhetorischen Frage am Schluss ist die tröstende Ansprache bewusst mit einer allgemeineren, theologisch motivierten Sichtweise hinterlegt, die dennoch den aktuellen Anlass nicht aus dem Blick verliert.
Die Parodos kann nun im Ganzen überschaut werden. Der direkte Anknüpfungspunkt für die Äußerungen des Chors ist die momentane Lage Deianeiras, von der die trachinischen Frauen erfahren haben. Für die Zuschauer schließt das Auftrittslied direkt an die Ausführungen der Protagonistin vom Beginn des Prologs an und bildet so deren chorisches Echo, das der Chor allerdings mit einer gottesfürchtigen und zumindest vordergründig hoffnungsvollen Zuversicht unterlegt.
Deianeira ist dementsprechend ein Zentralpunkt der Reflexion: In ihrem Interesse formulieren die Frauen ein Gebet an Helios, ihre abendliche Sorge erfährt eine umfangreichere Ausgestaltung, ihr gilt der Ratschlag, den Mut nicht sinken zu lassen. Aber auch Herakles widmet der Chor seine direkte Aufmerksamkeit: Sein Aufenthaltsort ist die vom Sonnengott erbetene Information, die Imagination seines gefahrenvollen Lebens bildet die Mitte des Liedes, sein regelmäßiges Heimkehren und sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Zeus geben Anlass zur Hoffnung. Dabei pendelt das Lied von Strophe zu Strophe zwischen den beiden Polen der Handlung, wie sie im Prolog etabliert wurden: Der in der ersten Strophe aufgeworfenen Frage nach Heraklesʼ Verbleiben folgend widmet sich die erste Gegenstrophe dem Verlangen Deianeiras, worauf das zweite Strophenpaar zunächst den ausführlichen Blick auf den abwesenden Helden lenkt und schließlich die Protagonistin explizit anspricht und zu beeinflussen sucht. Die abschließende Epode setzt die konsolatorische Motivik und Absicht fort, wendet sich erneut an Deianeira und schließt mit einem Verweis auf Herakles und seine besondere Beziehung zum Göttervater. Zudem lässt sich eine gewisse thematische Rahmung der gesamten Partie feststellen: Die Thematik des regelmäßigen Wechsels zwischen Tag und Nacht (v. 94f.) charakterisierte zu Beginn der ersten Strophe rein deskriptiv den angesprochenen Gott und schien zunächst nichts mehr zu sein als eine poetische Ausgestaltung eines simplen, der Alltagswahrnehmung entnommenen, immer wiederkehrenden Phänomens. In der zweiten Gegenstrophe und schließlich der Epode wird dagegen der ständige Wechsel als grundlegende Erfahrung menschlichen Daseins funktionell, d.h. in unserem Fall mit konsolatorischer Absicht umgedeutet; Deianeira solle gerade aus der Gewissheit, dass sich alles verändert, Hoffnung schöpfen. Wenn daher zu Beginn der Epode die Junktur αἰόλα νύξ (v. 132) wörtlich den Eingangsvers (94) der Parodos wieder aufnimmt, ist nicht nur eine begriffliche Klammer zwischen Anfang und Ende des Liedes geschaffen. Vielmehr deutet die konsolatorische Motivik der Schlussstrophe und im Besonderen das Bild der αἰόλα νύξ geradezu rückwirkend auch den Beginn des Liedes aus und rückt das Phänomen des Wechsels, des ständigen Auf und Ab als ein Grundmoment der Partie ins Bewusstsein. Anders gesagt: Bereits mit dem Beginn der Partie ist der motivische Kern der Parodos angerissen. Im Blick zu Helios und der Charakterisierung seines Verhältnisses zur Nacht ist also nicht nur das Motiv der Suche nach Herakles, sondern bereits ein wesentliches Moment der Tröstung etabliert. Was als poetisches Detail den Beginn des Auftrittsliedes besonders anschaulich, die Anrufung des Gottes besonders feierlich zu gestalten schien, trägt, vom Ende her betrachtet, in sich bereits motivische Relevanz. Abzulesen ist diese Funktionalisierung an der Umdeutung der Nacht: War νύξ in der ersten Strophe schlicht der Gegenpart zu Helios und Partner im geschilderten Wechselverhältnis der beiden, so ist der Begriff in der Epode schließlich inhaltlich aufgeladen und innerhalb der konsolatorischen Motivik verankert: In einer Reihe mit πῆμα und χαρά (v. 129) sowie κῆρες und πλοῦτος (v. 132f.) steht die Nacht als menschliche Erfahrung, deren steter Wechsel Anlass zu Hoffnung und Zuversicht geben soll. In diesem Sinne entfaltet auch das Adjektiv αἰόλος seine ganze semantische Bandbreite:18 Schien es am Beginn der Parodos einzig den raschen Wechsel von Tag und Nacht zu untermalen, so ist mit ihm am Beginn der Epode das Kernthema „Wechsel und Veränderung“ in spezifisch konsolatorischer Hinsicht präsent. Mit der impliziten Andeutung im poetischen Bild vom Anfang des Liedes korrespondiert die Nutzbarmachung der Motivik innerhalb der Aussageabsicht der trachinischen Frauen. Die gesamte Parodos ist so in subtiler Weise gerahmt: Der konkrete Blick auf Deianeira und Herakles ist geradezu zwischen die bewusst allgemeine Reflexion des Themenbereichs „Wechsel und Veränderung“ eingespannt. Dass damit ein ambivalenter Blick auf die Geschehnisse geworfen wird, liegt auf der Hand. In anderen Worten: Mit der zugleich prominenten wie nuancierten Thematisierung der Veränderlichkeit des Schicksals ist ein Grundmoment der folgenden Handlung angedeutet.
Eine weitere dramaturgische Funktion des Auftrittsliedes liegt zudem offen zu Tage: Die Parodos macht die bereits im Prolog etablierte Personenkonstellation Deianeira-Herakles zu ihrem hervorstechendsten Strukturmoment. Der strophische Wechsel der Fokussierung beleuchtet mit den beiden Figuren der Handlung zugleich deren Pole und schafft so nach dem dynamisch angestoßenen Bühnengeschehen eine erneute Vergegenwärtigung des eigentlichen Rahmens der Handlung. Die poetische Ausgestaltung innerhalb des Liedes trägt damit nicht nur zur Charakterzeichnung der beiden Hauptpersonen bei, sondern unterlegt die Handlung selbst mit einer Grundierung, auf der sich der Fortschritt und das Spannungsverhältnis der vorder- und hinterszenischen Aktion umso deutlicher abheben können.
Machen wir uns zudem klar: Das Lied begann als anrufender Hymnos an Helios mit der drängenden Frage nach Heraklesʼ Aufenthaltsort und endete als eine tröstende Ansprache an Deianeira. Der Chor beginnt mit einem aus dem Prolog stammenden Impuls, führt anschließend seinen Blick mit den poetischen Bildern in der Mitte des Liedes aus der dramatischen Realität fort, um schließlich mit der Fokussierung auf Deianeira und ihren Gefühlszustand den sich anschließenden Wiederauftritt bzw. die erneute Wortmeldung der Protagonistin vorzubereiten. Anders gesagt: Zuschauer und Leser sind nach der konsolatorischen Partie der Parodos wieder im Geschehen angekommen. Mit der Selbstverortung des Chors, dem bewussten Ratschlag der trachinischen Frauen an Deianeira ist die Personenkonstellation der nun folgenden Szene abgesteckt;19 die Handlung kann, nach der lyrischen Verarbeitung ihrer personalen und strukturellen Grundlagen, nun weitergehen.
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