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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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LIII.
Die Rückkehr von Saint-Denis

Gilbert war, wie wir erzählt haben, in die Menge zurückgekehrt, als er Philipp verließ.

Doch es war diesmal nicht mehr das vor Erwartung und Freude hüpfende Herz, was er in die brausende Woge warf, sondern die Seele, geschworen durch einen Schmerz, den der gute Empfang von Philipp und seine freundlichen Anerbietungen nicht zu mildern vermocht hatten.

Andrée vermuthete nicht, daß sie grausam gegen Gilbert gewesen war. Die schöne, reine Jungfrau wußte durchaus nicht, daß es zwischen ihr und dem Sohne ihrer Amme irgend einen Berührungspunkt weder in Beziehung auf den Schmerz, noch in Beziehung auf die Freude geben könnte. Sie zog über niedere Sphären hin und warf auf sie ihren Schatten, oder ihr Licht, je nachdem sie selbst lächelnd oder traurig war. Diesmal hatte der Schatten ihrer Verachtung Gilbert eisig durchdrungen, und da sie nur den Impuls ihrer eigenen Natur befolgt, so wußte sie selbst nicht, daß sie verächtlich gewesen.

Aber Gilbert hatte wie ein entwaffneter Athlet im vollen Herzen Blicke der Verachtung und stolze Worte empfangen, und Gilbert besaß noch nicht genug Philosophie, um sich nicht, ganz blutend wie er war, den Trost der Verzweiflung zu geben.

Von dem Augenblick an, wo er in die Menge zurückgekehrt war, kümmerte er sich weder mehr um Pferde noch um Menschen. Er raffte alle seine Kräfte zusammen und stürzte, auf die Gefahr zu verirren oder sich zermalmen zu lassen, wie ein verwundeter Eber durch das Volk, und brach sich so Bahn.

Als die dichtesten Volkshaufen durchbrochen waren, fing der junge Mann an, freier zu athmen, schaute umher, sah den grünen Rasen, die Einsamkeit und das Wasser.

Ohne zu wissen, wohin er ging, war er bis zur Seine gelaufen und befand sich nun ungefähr der Ile de Saint-Denis gegenüber. Erschöpft, nicht von der Müdigkeit des Körpers, sondern von den Qualen des Geistes, sank er auf den Boden, schloß seinen Kopf in seine beiden Hände und fing an wüthend zu brüllen, als ob diese Sprache des Löwen besser seine Schmerzen ausdrückte, denn das Geschrei und das Wort des Menschen.

War nicht in der That die ganze schwankende, unentschiedene Hoffnung, welche einen verstohlenen Schimmer auf die Wünsche hatte fallen lassen, von denen er sich selbst nicht Rechenschaft zu geben wagte, war nicht diese ganze Hoffnung erloschen? Auf welche Stufe der gesellschaftlichen Leiter Gilbert auch durch die Kraft des Genies, der Wissenschaft oder des Studiums stieg, er blieb immer Gilbert für Andrée, das heißt ein Ding oder ein Mensch, dies waren ihre eigenen Ausdrücke, um welchen sich zu bekümmern ihr Vater Unrecht gehabt, da es sich nicht der Mühe lohnte, die Augen bis zu ihm zu erniedrigen.

Einen Augenblick hatte er geglaubt, wenn sie ihn in Paris sähe, wenn sie hörte, er sei zu Fuß gekommen, wenn sie seinen Entschluß, mit seiner Dunkelheit zu kämpfen, bis er sie überwunden, erführe, so würde Andrée dieser Anstrengung Beifall spenden. Und nun hatte nicht nur das macte animo bei dem edlen Kinde seinen Erfolg verfehlt, sondern er hatte für so viel Kraftaufwand und eine so erhabene Entschlossenheit nichts geerntet, als die verächtliche Gleichgültigkeit, welche Andrée stets gegen den Gilbert von Taverney geoffenbart.

Mehr noch, hatte sie sich nicht beinahe geärgert, als sie erfahren, daß seine Augen die Kühnheit gehabt hatten, in ihr Notenbuch zu schauen? Hätte Gilbert das Notenbuch nur mit der Fingerspitze berührt, so wäre es ohne Zweifel nur noch zum Verbrennen gut gewesen.

Bei schwachen Herzen sind eine Täuschung, eine Verrechnung nichts Anderes, als ein Schlag, unter welchem sich die Liebe beugt, um sich stärker und’ beharrlicher wieder zu erheben, Sie offenbaren ihre Leiden durch Klagen, durch Thränen, sie haben die Passivität des Lammes unter dem Messer. Mehr noch, die Liebe dieser Märtyrer vergrößert sich häufig durch Schmerzen, welche sie tödten sollten; sie sagen, ihre Sanftmuth werde ihre Belohnung finden; diese Belohnung ist das Ziel, auf das sie losgehen, mag der Weg gut oder schlecht sein; nur werden sie, wenn der Weg schlecht ist, später ankommen, doch sie werden ankommen.

Nicht so ist es mit den starken Herzen, mit den eigenwilligen Temperamenten, mit den mächtigen Organisationen. Solche Herzen erzürnen sich bei dem Anblick ihres fließenden Blutes, und ihre Energie erhält einen so wilden Zuwachs, daß man sie von da an mehr für gehässig, als für liebend halten sollte. Man darf sie deshalb nicht anklagen: bei ihrem berühren sich die Liebe und der Haß so nahe, daß sie den Uebergang von der einen zum andern nicht fühlen.

Wußte Gilbert, als er sich niedergeschmettert von seinen Schmerzen auf dem Boden wälzte, wußte er, ob er Andrée liebte oder haßte? Nein, er litt nur. Doch da er einer langen Geduld nicht fähig war, so warf er sich aus seiner Niedergeschlagenheit heraus, um auf irgend einen energischen Entschluß zu sinnen und diesen zu verfolgen.

»Sie liebt mich nicht,« dachte er, »das ist wahr; aber ich konnte, ich durfte auch gar nicht darauf hoffen, sie würde mich lieben; ich hatte nur das Recht, von ihr die zarte Theilnahme zu verlangen, die man den Unglücklichen spendet, welche die Kraft haben, gegen ihr Mißgeschick zu ringen, Was ihr Bruder begriffen hat, hat sie nicht begriffen. Er sagte mir: ‚Wer weiß? vielleicht wirst Du ein Colbert, ein Vauban werden!’ Wenn ich das Eine oder das Andere würde, so ließe er mir Gerechtigkeit widerfahren und gäbe nur seine Schwester als Belohnung für den Ruhm, den ich mir erworben, wie er sie gegen meine angeborene Aristokratie gegeben hätte, wenn ich als seines Gleichen auf die Welt gekommen wäre. Doch für sie! oh! ich fühle es wohl … oh! Colbert, oh! Vauban wären für sie immer nur Gilbert, denn, was sie an mir verachtet, ist das, was nichts tilgen, nichts vergolden, nichts bedecken kann  . . . es ist die Niedrigkeit meiner Geburt. Als ob ich, vorausgesetzt ich erreiche mein Ziel, nicht mehr hätte wachsen müssen, um bis zu ihr zu gelangen, als wenn ich neben ihr geboren worden wäre. Oh! tolles Geschöpf! wahnsinniges Wesen! Oh! Weib! Weib! das heißt Unvollkommenheit. Trau’ diesem schönen Blicke, dieser offenen Stirne, diesem verständigen Lächeln, dieser Haltung einer Königin: das ist Fräulein von Taverney, das heißt eine Frau, welche ihre Schönheit klug macht, eine Welt zu beherrschen  . . . Ihr täuscht Euch: es ist eine in aristokratischen Vorurtheilen aufgeschraubte und darein eingewickelte Person der Provinz. Alle die schönen jungen Leute mit leeren Gehirnen und windigem Geiste, welche alle Mittel besaßen, um Alles zu lernen, und nichts wissen, sind für sie gleichgestellt; diese sind Dinge und Menschen, welchen sie Aufmerksamkeit schenken muß  . . . Gilbert ist ein Hund, weniger als ein Hund: sie erkundigte sich, glaube ich, nach Mahon, nach Gilbert hätte sie sich nicht erkundigt. Oh! sie weiß also nicht, daß ich so stark bin als diese Leute, daß ich, wenn ich den ihrigen ähnliche Kleider trage, so schön sein werde, als sie, daß ich überdies einen unbeugsamen Willen besitze, und daß ich, wenn ich will  . . .«

Ein furchtbares Lächeln trat auf die Lippen von Gilbert, der den Satz unvollendet ließ.

Langsam und die Stirne faltend, senkte er sodann seinen Kopf auf seine Brust.

Was ging in diesem Augenblick in dieser dunkeln Seele vor? Unter welch einem furchbaren Gedanken beugte sich diese bleiche, schon durch die Nachtwachen gelb gewordene, durch das Nachdenken durchfurchte Stirne? Wer wird es sagen?

Etwa der Bootsmann, der auf seinem Fahrzeug, das Lied von Heinrich IV. trällernd, den Fluß hinabsteuerte? Oder die lustige Wäscherin, welche von Saint-Denis zurückkam, nachdem sie den Zug gesehen, und die, sich von ihrem Wege abwendend, um in einiger Entfernung von ihm vorüberzugehen, vielleicht diesen jungen Müßiggänger, der mitten unter Stangen, welche mit Wäsche beladen waren, auf dem Rasen ausgestreckt lag, für einen Dieb hielt?

Nach einer halben Stunde tiefen Nachsinnens erhob sich Gilbert kalt und entschlossen; er stieg zur Seine hinab, trank reichlich Wasser, schaute dann umher und sah zu seiner Linken die fernen Wogen des Volkes beim Ausgange von Saint-Denis.

Mitten unter dieser Menge unterschied man die ersten Carrossen, welche, von den Schaaren bedrängt, im Schritte fuhren; sie folgten der Straße nach Saint-Ouen.

Nach dem Willen der Dauphine sollte ihr Einzug ein Familienfest sein. Die Familie bediente sich auch ihres Vorrechts; man sah, wie sie sich so nahe zu dem königlichen Schauspiele stellte, daß viele Pariser auf die Sitze der Livreebedienten stiegen und sich, ohne deshalb beunruhig zu werden, an die schweren Tragriemen der Wagen hingen.

Gilbert hatte bald die Carrosse von Andrée erkannt. Philipp galoppirte oder tänzelte vielmehr an dem Wagenschlage.

»Es ist gut, sagte er, »ich muß wissen, wohin sie fährt, und damit ich weiß, wohin sie fährt, muß ich ihr folgen.«

Gilbert folgte.

Die Dauphine sollte in der Muette in kleinem Comité mit dem König, dem Dauphin, dem Herrn Grafen von Provence, dem Herrn Grafen d’Artois zu Nacht speisen, wobei Ludwig XV. die Schicklichkeit so sehr vergaß, daß er in Saint-Denis die Frau Dauphine einlud, ihr die Liste der Gäste übergab und ihr einen Bleistift mit der Aufforderung reichte, diejenigen von den Gästen, welche ihr nicht genehm wären, auszustreichen.

Als die Dauphine zu dem Namen von Madame Dubarry kam, der den Schluß bildete, fühlte sie, wie ihre Lippen erbleichten und zitterten; doch unterstützt durch die Instructionen der Kaiserin, ihrer Mutter, rief sie alle ihre Kräfte zu Hülfe, gab mit einem reizenden Lächeln die Liste und den Stift dem König zurück und sagte, sie sei sehr glücklich, mit einem Male in die innige Gemeinschaft seiner Familie aufgenommen zu werden.

Gilbert wußte das nicht, und erst bei der Muette erkannte er die Equipagen von Madame Dubarry und Zamore, der auf seinem großen Schimmel hockte.

 

Zum Glück war es bereits düster; Gilbert warf sich in ein Gesträuch, legte sich platt auf den Bauch und wartete.

Der König ließ seine Schwiegertochter mit seiner Geliebten zu Nacht speisen, und zeigte sich von einer reizenden Heiterkeit, besonders als er sah, daß die Frau Dauphine Madame Dubarry noch besser aufnahm, als sie es in Compiègne gethan hatte.

Aber der Herr Dauphin schützte, finster und sorgenvoll, ein heftiges Kopfweh vor und entfernte sich, ehe man sich zu Tische gesetzt hatte.

Das Abendbrod dauerte bis eilf Uhr.

Die Leute vom Gefolge, und die stolze Andrée mußte gestehen, daß sie zu diesen Leuten gehörte, die Leute vom Gefolge speisten in den Pavillons bei dem Klang der Musik, die ihnen der König schickte. Da die Pavillons zu klein waren, so nahmen fünfzig Herren ihr Abendbrod an Tischen, die man auf dem Rasen aufgeschlagen hatte, wobei sie von fünfzig Lackeien in königlicher Livree bedient wurden.

Beständig in einem Gebüsch verborgen, verlor Gilbert nichts von diesem Anblick. Er zog aus seiner Tasche ein Stück Brod, das er in Clichy-la-Garenne gekauft hatte, und speiste wie die Andern, während er zugleich die Abfahrenden überwachte.

Die Frau Dauphine erschien nach dem Abendbrod auf den Balcon: sie hatte sich von ihren Gästen verabschiedet. Der König stand bei ihr, Madame Dubarry hielt sich mit dem Takt, den auch ihre Feinde an ihr bewunderten, im Hintergrund des Zimmers und war so aus dem Gesichte gestellt.

Jeder ging unten am Balcon vorüber, um den König und Ihre königliche Hoheit zu begrüßen. Die Frau Dauphine kannte schon viele von denen, welche sie begleitet hatten, der König nannte ihr diejenigen, welche sie nicht kannte. Von Zeit zu Zeit floß ein anmuthiges Wort, ein glücklicher Einfall von ihren Lippen und gewährte den Menschen, an die ihre Rede gerichtet war, Freude.

Gilbert sah von ferne diese ganze Niedrigkeit und sagte sich:

»Ich bin größer, als alle diese Leute da, denn um alles Gold der Welt würde ich nicht thun, was sie thun.«

Es kam die Reihe an Herrn von Taverney und seine Familie.

Gilbert erhob sich auf ein Knie.

»Herr Philipp,« sprach die Dauphine, »ich gebe Ihnen Urlaub, um Ihren Herrn Vater und Ihr Fräulein Schwester nach Paris zu führen.«

Gilbert hörte diese Worte, die in der Stille der Nacht und unter der tiefen Aufmerksamkeit von denjenigen, welche horchten und schauten, an sein Ohr klangen.

Die Frau Dauphine fügte bei:

»Herr von Taverney, ich kann Ihnen noch keine Wohnung geben; reisen Sie daher mit dem Fräulein nach Paris, bis ich mein Haus in Versailles eingerichtet habe; mein Fräulein, denken Sie ein wenig an mich.«

Der Baron ging mit seinem Sohn und mit seiner Tochter vorbei. Viele Andere kamen nach ihnen, die Dauphine hatte ihnen ähnliche Dinge zu sagen, aber für Gilbert war dies gleichgültig.

Er schlüpfte aus dem Gesträuche hervor und folgte dem Baron unter dem verworrenen Geräusch von zweihundert Lackeien, die ihren Herren nachliefen, von fünfzig Kutschern, die den Lackeien antworteten, und von sechzig Wagen, welche wie eben so viele Donner auf dem Pflaster rollten.

Da Herr von Taverney einen Wagen von Hofe hatte, so wartete dieser Wagen auf der Seite. Er stieg mit Andrée und Philipp ein, und der Schlag schloß sich hinter ihnen.

»Mein Freund,« sagte Philipp zu dem Lackei, der den Schlag schloß, »steigt mit dem Kutscher auf den Bock.«

»Warum denn? warum denn?« fragte der Baron.

»Weil der arme Teufel seit dem Morgen steht und folglich sehr müde sein muß,« antwortete Philipp.

Der Baron brummte ein paar Worte, welche Gilbert nicht hören konnte. Der Lackei stieg zu dem Kutscher hinauf.

Gilbert näherte sich.

In der Sekunde, wo der Wagen abfahren sollte, sah man, daß einer von den Zugriemen los war. Der Kutscher stieg ab und der Wagen blieb noch einen Augenblick auf der Stelle.

»Es ist sehr spät,« sagte der Baron.

»Ich bin furchtbar müde,« murmelte Andrée; »werden wir wenigstens ein Lager finden?«

»Ich hoffe es,« erwiederte Philipp. »Ich habe La Brie und Nicole unmittelbar von Soissons nach Paris geschickt und ihnen einen Brief an einen meiner Freunde gegeben, den ich beauftragte, einen kleinen Pavillon zu miethen, welchen seine Mutter und seine Schwester im vorigen Jahre bewohnt haben. Es ist keine Luxuswohnung, wohl aber ein bequemer Aufenthaltsort. Sie suchen nicht zu erscheinen, Sie wünschen nur zu warten.«

»Es wird meiner Treue immerhin so viel werth sein als Taverney,« sprach der Baron.

»Leider, ja, mein Vater,« versetzte Philipp mit einem schwermüthigen Lächeln.

»Werde ich Bäume haben?« fragte Andrée.

»Ja, und zwar sehr schöne. Nur dürftest Du dieselben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lange genießen, denn sobald, die Heirath vollzogen ist, wirst Du vorgestellt werden.«

»Wir machen einen schönen Traum, suchen wir nicht zu frühe daraus zu erwachen. Philipp, hast Du dem Kutscher die Adresse gegeben?«

Gilbert horchte ängstlich.

»Ja, mein Vater,« sagte Philipp.

Gilbert, der Alles gehört, hatte einen Augenblick die Hoffnung, auch die Adresse zu hören.

»Gleichviel,« sagte er, »ich werde ihnen folgen. Es ist nur eine Stunde von hier nach Paris.«

Der Zugriemen war wieder befestigt, der Kutscher auf seinen Sitz gestiegen, und der Wagen fing an zu rollen.

Doch die Pferde des Königs gehen rasch, wenn die Reihe sie nicht zwingt, sachte zu gehen, so rasch, daß sie den armen Gilbert an die Straße von Lachaussée, an seine Entkräftung, seine Ohnmacht erinnerten.

Er strengte sich an, erreichte den hinteren Fußtritt, den der müde Lackei leer gelassen hatte, klammerte sich daran, setzte sich aus und fuhr fort.

Aber beinahe in demselben Augenblick kam ihm der Gedanke, er sei hinten auf den Wagen von Andrée, das heißt auf den Platz eines Bedienten gestiegen.

»Nein! nein!« murmelte der unbeugsame junge Mann, »man soll nicht sagen, ich habe nicht bis zum letzten Augenblick gekämpft; meine Beine sind müde, doch meine Arme sind es nicht.

Und er faßte mit seinen beiden Händen den Fußtritt, auf den er die Spitze seiner Schuhe gestellt hatte, ließ sich unter dem Sitze fortschleppen, und erhielt sich, trotz der Stöße und Schläge, lieber mit der Kraft seiner Arme in dieser schwierigen Lage, als daß er mit seinem Gewissen capitulirt hätte.

»Ich werde ihre Adresse erfahren,« murmelte er, »ich werde sie erfahren. Noch eine schlimme Nacht, doch morgen ruhe ich auf meinem Stuhle aus, indem ich Musik abschreibe. Es bleibt mir übrigens Geld, und ich kann mir zwei Stunden Schlaf verschaffen, wenn ich will.«

Dann dachte er, Paris wäre sehr groß, und er würde vielleicht verloren sein, er, der es nicht kannte, wenn der Baron, sein Sohn und seine Tochter in dem Hause angekommen wären, das Philipp für sie gewählt.

Zum Glück war es bald Mitternacht und der Tag kam um halb vier Uhr Morgens.

Während er dies Alles bedachte, bemerkte Philipp, daß er über einen großen Platz geführt wurde, in dessen Mitte sich eine Reiterstatue erhob.

»Halt, das wird wohl die Place des Victoires sein,« sagte er zugleich freudig und überrascht.

Der Wagen drehte sich, Andrée schaute aus dem Kutschenschlag.

Philipp sprach:

»Das ist die Statue des verstorbenen Königs. Wir sind unserem Ziele nahe.«

Man fuhr einen ziemlich jähen Abhang hinab; Gilbert wäre beinahe unter die Räder gerollt.

»Wir sind an Ort und Stelle,« sprach Philipp.

Gilbert ließ seine Füße die Erde berühren und sprang auf die andere Seite der Straße, wo er sich hinter einem Weichsteine niederkauerte.

Philipp stieg zuerst aus dem Wagen, läutete und empfing, sich umwendend, Andrée in seinen Armen.

Der Baron stieg zuletzt aus.

»Nun!« sagte er, »werden uns diese Maulaffen die Nacht auf der Straße zubringen lassen?«

In diesem Augenblick erklangen die Stimmen von La Brie und Nicole, und eine Thüre öffnete sich.

Die drei Reisenden schlüpften in einen düsteren Hof, dessen Thor sich hinter ihnen schloß. Der Wagen und die Lackeien entfernten sich wieder; sie kehrten zu den Stallungen des Königs zurück.

Das Haus, in welchem die drei Reisenden verschwunden waren, hatte nichts Merkwürdiges; aber der Wagen beleuchtete im Vorüberfahren das Nachbarhaus und Gilbert las: Hotel d’Armenonville.

Er hatte nur noch die Straße in Erfahrung zu bringen.

Er ging an die nächste Ecke, an diejenige, bei welcher der Wagen verschwunden war, und fand zu seinem großen Erstaunen bei dieser Ecke den Brunnen, an welchem er zu trinken pflegte.

Er machte zehn Schritte in einer Straße, welche parallel mit der, die er verlassen, rückwärts ging, und erkannte den Bäcker, bei dem er sein Brod kaufte.

Er zweifelte noch und kehrte bis zur Straßenecke zurück. Bei dem entfernten Schimmer eines Scheinwerfers las er nun auf einem Grunde von weißem Stein die zwei Worte, die er drei Tage zuvor, als er mit Rousseau aus dem Walde von Meudon vom Pflanzensammeln zurückkehrte, gelesen hatte, die Worte: »Rue Plastrière!«

Andrée war also hundert Schritte von ihm, minder weit, als es in Taverney von seinem kleinen Zimmer beim Gitter des Schlosses war.

Hienach kehrte er zu seiner Thüre zurück, in der Hoffnung, das Ende des Bindfadens, der die innere Klinke hob, werde nicht hineingezogen worden sein.

Gilbert hatte seinen glücklichen Tag. Es hingen ein paar Fäden heraus; mit Hülfe dieser Fäden zog er das Ganze an sich, und die Thüre gab nach.

Der junge Mann fand tappend und tastend die Treppe, stieg Stufe für Stufe hinauf, ohne Geräusch zu machen, und berührte endlich mit der Spitze seiner Finger das Vorlegeschloß seines Zimmers, an welchem Rousseau aus Gefälligkeit den Schlüssel gelassen hatte.

Nach Verlauf von zehn Minuten hatte die Müdigkeit den Sieg über seine innere Unruhe davon getragen, und Gilbert war in tiefen Schlaf versunken.

LIV.
Der Pavillon

Spät zurückgekehrt, rasch sich niederlegend, in schweren Schlaf versinkend, hatte Gilbert vergessen, an seiner Dachluke den Leinwandfetzen zu befestigen, mit welchem er das Licht der aufgehenden Sonne auffing.

Diese Sonne traf um fünf Uhr Morgens auf seine Augen und erweckte ihn bald; er erhob sich unruhig, er könnte zu lange geschlafen haben.

Gilbert, ein Mann vom Lande, wußte vortrefflich die Stunde an der Stellung der Sonne und an der mehr oder minder warmen Farbe ihrer Strahlen zu erkennen. Er lief an die Luke und befragte seine Uhr.

Die Blässe des Lichtes, das kaum die Gipfel der hohen Bäume beleuchtete, beruhigte ihn; statt zu spät aufgestanden zu sein, war er zu früh aufgestanden.

Gilbert machte seine Toilette an seiner Dachluke, dachte an die Ereignisse des vorhergehenden Tages und setzte mit Entzücken seine beschwerte Stirne der frischen Morgenluft aus; dann erinnerte er sich, daß Andrée in einer benachbarten Straße bei dem Hotel d’Armenonville wohnte, und suchte zu errathen, in welchem von allen diesen Häusern Andrée wohnen dürfte.

Der Anblick der Schatten, die er überschaute, erinnerte ihn an die Worte des Mädchens, welche er am vorhergehenden Tage gehört hatte,

»Gibt es Bäume dort?« hatte Andrée Philipp gefragt.

»Warum wählte sie nicht den unbewohnten Pavillon im Garten?« sagte Gilbert zu sich selbst.

Diese Betrachtung führte natürlich den jungen Mann dahin, daß er sich mit dem Pavillon beschäftigte.

Durch ein seltsames Zusammentreffen mit seinem Gedanken, lenkten ein Geräusch- und eine ungewöhnliche Bewegung seinen Blick nach dieser Seite. Eines von den Fenstern dieses Pavillon, ein Fenster, das seit langer Zeit verurtheilt zu sein schien, erschütterte sich unter einer ungeschickten oder schwachen Hand; das Holz gab oben nach, aber ohne Zweifel durch die Feuchtigkeit an die Randleisten des Kreuzstockes befestigt, widerstand es und weigerte sich, nach außen aufzugehen.

Endlich erkrachte das Eichenholz bei einem heftigeren Stoße und zwei ungestüm geöffnete Flügel ließen ein Mädchen erblicken, das noch ganz roth von der Anstrengung war und seine staubigen Hände schüttelte.

Dieses Mädchen, welches etwas aufgedunsen vom Schlafe sich in der frischen Luft reckte, war Mademoiselle Nicole.

Es blieb kein Zweifel. Philipp hatte am Tage vorher seinem Vater und seiner Schwester gesagt, La Brie und Nicole bereiten ihre Wohnung. Dieser Pavillon war also die bereit gehaltene Wohnung. Das Haus der Rue Coq-Héron, in welchem die Reisenden verschwunden waren, stieß also mit seinen Gärten von hinten an die Rue Plastrière.

Die Bewegung von Gilbert war so hastig und ausdrucksvoll gewesen, daß Nicole, obgleich ziemlich entfernt, hätte sie sich nicht der müßigen Beschauung überlassen, welche zur Zeit des Erwachens ein Glück wird, unsern Philosophen in dem Augenblick, wo er sich von seiner Luke zurückzog, gesehen haben müßte.

 

Gilbert zog sich um so schneller zurück, als er sich um keinen Preis von Nicole an einer Dachluke hätte entdecken lassen mögen; hätte er in einem ersten Stocke gewohnt, hätte man durch sein offenes Fenster hinter ihm reiche Tapeten und kostbare Meubles erblicken können, so würde Gilbert weniger bange gehabt haben, sich sehen zu lassen. Doch die Mansarde des fünften Stockes classificirte ihn noch zu tief in den niederen gesellschaftlichen Rangstufen, als daß er nicht eifrigst bemüht gewesen sein sollte, sich zu verbergen. Ueberdies gewährt es in dieser Welt stets einen großen Vortheil, zu sehen, ohne gesehen zu werden.

Wenn sodann Andrée wußte, daß er da war, würde das nicht genügen, Andrée zum Ausziehen oder dazu zu veranlassen, daß sie nicht in dem Garten spazieren ginge?

Ach! der Stolz von Gilbert vergrößerte ihn noch in seinen eigenen Augen. Welches Gewicht hatte Gilbert für Andrée und in welcher Hinsicht konnte Andrée einen Fuß bewegen, um sich Gilbert zu nähern oder sich von ihm zu entfernen? Gehörte sie nicht zu jener Race von Frauen, welche vor einem Bedienten oder Bauern aus dem Bade steigen, weil ein Bedienter oder ein Bauer keine Menschen sind?

Nicole aber gehörte nicht zu dieser Race, und sie mußte er also vermeiden.

Deßhalb hatte sich Gilbert hauptsächlich so ungestüm zurückgezogen.

Doch Gilbert konnte sich nicht zurückgezogen haben, um vom Fenster entfernt zu bleiben; er näherte sich also sachte, und wagte es, sein Auge an die Ecke der Dachluke zu drücken.

Ein zweites Fenster, das im Erdgeschoß gerade unter dem ersten lag, hatte sich geöffnet und eine weiße Gestalt erschien an diesem Fenster: es war Andrée, welche so eben erst erwacht sein mochte, Andrée in einem Morgenmantel und beschäftigt, den Pantoffel zu suchen, der ihrem kleinen, noch schlummernden Fuße entschlüpft war und sich unter einen Stuhl verirrt hatte.

Gilbert mochte sich immerhin schwören, so oft er Andrée sah, er wolle sich einen Wall aus seinem Hasse machen, statt sich seiner Liebe zu überlassen: dieselbe Wirkung wurde durch dieselbe Ursache hervorgebracht; er war genöthigt, sich an eine Wand anzulehnen, sein Herz schlug, als ob es bersten sollte, und seine Schläge machten das Blut durch den ganzen Körper brausen.

Allmälig beruhigten sich jedoch die Pulsadern des jungen Mannes, und er konnte nachdenken. Es handelte sich darum, wie wir schon gesagt haben, zu sehen, ohne gesehen zu werden. Er nahm einen von den Röcken von Therese, heftete ihn mittelst einer Nadel an einen Strick, der sein Fenster in seiner ganzen Breite durchzog, und konnte unter diesem improvisirten Vorhang Andrée sehen, ohne daß er gesehen zu werden befürchten mußte.

Andrée ahmte Nicole nach; sie reckte ihre schönen weißen Arme, welche durch ihre Ausdehnung einen Augenblick das Morgengewand trennten; dann legte sie sich auf das Fenstergesimse, um die Gärten der Umgebung bequemer zu betrachten.

Ihr Gesicht drückte nun eine entschiedene Zufriedenheit aus; sie, welche so selten den Menschen zulächelte, lächelte ohne Hintergedanken den Dingen zu. Auf allen Seiten war sie von großen Bäumen beschattet; auf allen Seiten war sie von Grün umgeben.

Das Haus von Gilbert zog die Blicke von Andrée auf sich, wie alle die andern Häuser, welche einen Gürtel für den Garten bildeten. Von dem Platze wo Andrée war, konnte man nicht mehr davon sehen, als die Mansarden, sowie auch nur die Mansarden allein zu Andrée sehen konnten. Es fesselte also ihre Aufmerksamkeit nicht. Was konnte dem stolzen jungen Mädchen an der Race liegen, welche da oben wohnte?

Andrée blieb also nach ihrer Forschung überzeugt, sie wäre allein und an den Grenzen dieses stillen Aufenthaltsortes würde kein neugieriges oder lustiges Gesicht von jenen spöttischen Parisern erscheinen, welche von den Provinzfrauen so sehr gefürchtet werden.

Dieses Resultat war von unmittelbarer Folge. Andrée ließ ihr Fenster weit offen, damit die Morgenluft auch die letzten Winkel ihres Zimmers baden konnte, ging auf ihren Kamin zu, zog eine Klingelschnur und fing an sich anzukleiden, oder vielmehr in dem Halbschatten des Zimmers auszukleiden.

Nicole kam, machte die Riemen eines ledernen Necessaire los, das sich aus der Zeit der Königin Anna herschrieb, nahm den Schildpattkamm und entrollte die Haare von Andrée.

In einem Augenblick wogten die langen Flechten und die buschigen Locken wie ein Mantel über die Schultern des Mädchens herab.

Gilbert stieß einen unterdrückten Seufzer aus. Kaum erkannte er die schönen Haare von Andrée, welche die Mode und die Etiquette gewöhnlich mit Puder bedeckten; doch er erkannte Andrée, Audrée halb entkleidet und hundertmal schöner in ihrer Nachläßigkeit, als sie es in dem prunkhaftesten Aufputze gewesen wäre. Sein krampfhaft zusammengezogener Mund hatte keinen Speichel mehr, seine Finger brannten vor Fieber, sein Auge erlosch in seiner Starrheit.

Der Zufall gab es, daß Andrée, während sie sich frisiren ließ, den Kopf in die Höhe hob und daß sich ihre Augen auf die Mansarde von Gilbert richteten.

»Ja, ja, schau’, schau’,« murmelte Gilbert, »Du magst immerhin schauen, Du wirst nichts sehen, während ich Alles sehe.«

Gilbert täuschte sich, Andrée sah etwas; dies war der flatternde Rock, der sich um den Kopf des jungen Mannes rollte und ihm als Turban diente.

Sie zeigte mit dem Finger Nicole diesen seltsamen Gegenstand.

Nicole unterbrach das verwickelte Geschäft, das sie unternommen hatte, bezeichnete mit dem Kamm die Dachluke und schien ihre Gebieterin zu fragen, ob dies der Gegenstand sei, den sie meine.

Diese Telegraphie, welche Gilbert mit seinen verliebten Blicken verschlang, hatte, ohne daß er es vermuthete, einen dritten Zuschauer.

Gilbert fühlte Plötzlich eine ungestüme Hand den Rock von Therese von seiner Stirne ziehen und war wie vom Blitz getroffen, als er Rousseau erblickte.

»Was Teufels machen Sie da, mein Herr?« rief der Philosoph mit gefalteter Stirne und einer ärgerlichen Grimasse, während er ängstlich den von seiner Frau entlehnten Rock betrachtete.

Gilbert bemühte sich, die Aufmerksamkeit von Rousseau von der Dachluke abzulenken, und erwiederte:

»Nichts, mein Herr, durchaus nichts.«

»Nichts; warum verbergen Sie sich dann unter diesem Rock?«

»Die Sonne verwundete mich.«

»Wir sind im Westen und die Sonne verwundet Sie in dem Augenblick, wo sie aufgeht; Sie haben sehr zarte Augen, junger Mann!«

Gilbert stammelte ein paar Worte, fühlte, daß er sich verwickeln würde, und verbarg endlich seinen Kopf, in seinen Händen.

»Sie lügen und Sie haben Angst,« sprach Rousseau; »Sie haben also schlimm gehandelt?«

Und nach dieser furchtbaren Logik, welche Gilbert vollends niederschmetterte, stellte sich Rousseau breit vor das Fenster.

Hingerissen durch ein zu natürliches Gefühl, als daß es einer Erklärung bedürfte, stürzte Gilbert, der so eben noch zitterte, an dem Fenster gesehen zu werden, an dieses, sobald Rousseau daran stand.

»Ah! ah!« sagte Rousseau mit einem Tone, der die Adern von Gilbert gestehen machte, »der Pavillon ist nun bewohnt.«

Gilbert sprach keine Sylbe.

»Und zwar von Leuten,« fuhr der argwöhnische Philosoph fort, »von Leuten, welche mein Haus kennen, denn sie deuten darauf.«

Gilbert sah ein, daß er zu weit vorgegangen war, und machte eine Bewegung rückwärts.

Weder die Bewegung, noch die Ursache, welche dieselbe veranlaßte, entgingen Rousseau; er begriff, daß Gilbert gesehen zu werden zitterte.

»Nein,« sagte er, indem er den jungen Mann bei dem Handgelenke faßte, »nein, mein junger Freund, es steckt etwas darunter, daß man Ihre Mansarde bezeichnet; stellen Sie sich hierher, wenn es Ihnen beliebt.«

Und er führte ihn entblößt gerade vor das Fenster.

»Oh! nein, mein Herr, nein, ich bitte Sie!« rief Gilbert, während er sich krümmte und drehte, um zu entkommen.

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