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Die Blinde

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Sie hatte einen ungeheuren Anlauf genommen und war – halb angezogen Ihre Abendtoilette bestand aus einem alten grünseidenen Rock und der unvermeidlichen blauen Merinojacke: »Ich verliere immer alle meine Sachen,« flüsterte mir Frau Finch ins Ohr; »ich besitze eine Taille zu diesem Rock, kann sie aber nirgends finden.« Die gewaltige Stimme des Pfarrers erschallte unaufhörlich; der kleine Mann mit seinen hochtrabenden Redensarten sprach in immer tieferen Baßtönen bis selbst die Theetassen auf dem Tische vor diesem gewaltigen Redestrom klirrend zusammenfuhren. Die älteren Kinder, welche an dem Familienfest Theilnehmen durften, aßen, bis sie nicht mehr essen konnten, starrten uns an und gingen dann zu Bett. Oscar kam mit Jedem gut fort. Frau Finch nahm ein natürliches Interesse an ihm, als einem Zwilling, obgleich sie andererseits auch überrascht und unangenehm berührt davon war, daß seine Mutter mit diesem Zwillingspaare angefangen und aufgehört hatte; Lucilla saß in stummer Glückseligkeit da, ganz eingenommen von dem unaussprechlichen Genuß, Oscar reden zu hören; für sie barg die Stimme des Geliebten so viel beglückende Abwechselung, wie für uns der Anblick eines geliebten Gesichtes. Später am Abend musicirten wir ein wenig und da hörte ich zum ersten Mal, wie reizend Lucilla spielte; sie war mit einer echt musikalischen Anlage geboren und ihr Anschlag war von einer Feinheit, wie selbst die größten Virtuosen sie selten besitzen. Oscar war entzückt. Mit einem Wort, der Abend war sehr gelungen.

Ich wußte es möglich zu machen, unserem Gaste, als er sich verabschiedete, wie ich es mir vorgenommen hatte, ein vertrauliches Wort in Betreff der einsamen Lage seiner Wohnung zu sagen. Jene Befürchtungen für Oscar’s Sicherheit in seinem einsamen Hause, welche bei mir, wie früher erwähnt, durch die Entdeckung der beiden Strolche in ihrem Versteck an der Mauer erweckt worden waren, präoccupirten mich noch immer und trieben mich, ihn zu ermahnen, irgend welche Vorsichtsmaßregeln zu treffen, bevor die kostbaren Metallplatten, welche er zum Schmelzen nach London zurückgeschickt hatte, wieder eintreffen würden. Er gab mir die erwünschte Gelegenheit, als er nach seiner Uhr sah und sich dafür entschuldigte, daß er seinen Besuch bis zu einer auf dem Lande so entsetzlich späten Stunde, bis Mitternacht ausgedehnt habe.

»Wartet Ihr Diener auf Sie?« fragte ich, indem ich mich stellte, als ob ich von seinen häuslichen Einrichtungen nichts wisse.

Er zog einen großen plumpen Schlüssel aus der Tasche und sagte: »Das ist mein einziger Diener in Browndown; um vier oder fünf Uhr Nachmittags haben die Leute aus dem Gasthofe Alles für mich gethan, was ich brauche; nach dieser Zeit bin ich ganz allein im Hause.«

Er reichte uns die Hand zum Abschiede; der Pfarrer gab ihm das Geleit bis zur Hausthür; ich schlüpfte hinaus, während sie die letzten Worte mit einander sprachen und trat zu Oscar, als er allein durch den Garten ging.

»Ich muß einen Augenblick frische Luft schöpfen,« sagte ich; »ich will Sie bis an die Gartenpforte begleiten.«

Er fing sofort an, von Lucilla zu reden; zu seiner Ueberraschung kam ich aber ohne weiteres auf seine Wohnung in Browndown zurück

»Halten Sie es für richtig,« fragte ich, »Nachts ganz allein in einem Hause wie das Ihrige zu sein? Warum halten Sie nicht einen Diener?«

»Ich hasse fremde Menschen antwortete er. »Ich l bin unendlich viel lieber allein.

»Wann erwarten Sie Ihre Gold- und Silberplatten zurück?«

»In ungefähr acht Tagen.«

»Wie hoch schätzen Sie den Werth derselben?«

»Auf ungefähr siebzig bis achtzig Pfund.«

»In acht Tagen also,« sagte ich, »werden Sie Gegenstände im Werthe von siebzig bis achtzig Pfund in Browndown haben, Gegenstände, die ein Dieb nur einzuschmelzen braucht, um jeder Besorgniß vor Entdeckung enthoben zu sein.«

Oscar stand still und sah mich an.

»Was fällt Ihnen nur ein?« fragte er, »es giebt ja keine Diebe an diesem primitiven Orte.«

»Es giebt aber Diebe an anderen Orten, die hier her kommen können,« antwortete ich, »haben Sie die beiden Kerle vergessen, die wir gestern entdeckten, wie sie sich in der unmittelbaren Nähe von Browndown herumtrieben?«

Er lächelte. Ich hatte in ihm die Erinnerung an einen komischen Moment wachgerufen, weiter nichts.

»Nicht wir haben sie entdeckt,« sagte er, »sondern jenes sonderbare Kind. Was meinen Sie, wenn ich zu meiner Bewachung Jicks zu mir ins Haus nehme?«

»Ich scherze nicht,« erwiderte ich; »ich habe in meinem ganzen Leben keine verdächtiger aussehenden Strolche gesehen, als diese beiden Kerle. Das Fenster stand offen, als Sie mir erzählten, daß die Platten umgeschmolzen werden müßten. Die Kerle können so gut wie wir wissen, daß Ihr Gold und Silber nach einiger Zeit wieder bei Ihnen eintreffen wird.«

»Was Sie für eine lebhafte Einbildungskraft haben,« rief er aus, »Sie sehen ein paar schäbige Touristen von Brighton, die eine Excursion nach Dimchurch gemacht haben und machen ohne weiteres aus diesen harmlosen Leuten ein paar zu Raub und Mord verschworene Einbrecher. Sie und mein Bruder Nugent würden recht zu einander passen; seine Einbildungskraft geht auch immer mit ihm durch, gerade wie die Ihrige.«

»Lassen Sie sich von mir rathen,« erwiderte ich ernst. »Schlafen Sie nicht mehr in Browndown, ohne eine lebende Seele im Hause bei sich zu haben.«

Er war in ausgelassen guter Laune; er küßte mir die Hand und dankte mir in seiner überschwänglichen Weise für das Interesse, das ich an ihm nähme. »Gut,« sagte er, als er die Gartenpforte öffnete, »ich will mir eine lebende Seele ins Haus nehmen, ich will mir einen Hund anschaffen.«

Wir nahmen Abschied von einander; ich hatte ihm gesagt, was mich quälte, mehr konnte ich nicht thun, und am Ende war es ja ganz möglich, daß seine Art die Dinge anzusehen, richtig und die meinige falsch war.

Dreizehntes Kapitel.
Jicks’ zweites Auftreten

Es vergingen weitere fünf Tage, während welcher Zeit wir unsern Nachbar fortwährend sahen; entweder Oscar kam ins Pfarrhaus oder wir gingen nach Browndown. Der Ehrwürdige Finch wußte sich meisterlich das Ansehen zu geben, als ahne er nichts; er wartete ruhig, bis die Beziehungen der beiden jungen Leute zu einem richtigen Liebesverhältniß herangereift sein möchten, und wirklich gingen diese Beziehungen unter Lucilla’s Einfluß rasch einer solchen entscheidenden Gestaltung entgegen. Niemand tadle mein armes blindes Mädchen dafür, daß sie den Mann, welchen sie liebte, ohne Scheu zur Erwiderung ihrer Liebe ermuthigte; er war als Courmacher der zurückhaltendste Mann, der mir je vorgekommen ist. Je mehr er sich in sie verliebte, desto schüchterner und mißtrauischer gegen sich selbst wurde er. Ich gestehe, daß ich keine Freundin von bescheidenen Männern bin und ich muß aufrichtig bekennen, daß Herr Oscar Dubourg bei näherer Bekanntschaft nicht sehr in meiner Achtung stieg. Indessen Lucilla verstand ihn, und das war genug. Sie wollte sich in ihrem Geiste ein möglichst getreues Bild von ihm verschaffen; mit Jedem im Hause, die Kinder einbegriffen, nahm sie ein Kreuzverhör über Dubourgs persönliche Erscheinung vor, wie sie auch, mich bereits ein solches Kreuzverhör hatte bestehen lassen. Ueber seine Züge und feine Gesichtsfarbe, seine Höhe und seine Breite; seine Art sich zu kleiden und seine Schmucksachen, – über alle diese Punkte verschaffte sie sich nach jeder Richtung hin die detaillirteste Auskunft. Es gewährte ihre eine besondere Genugthuung, von allen Seiten zu hören, daß er einen hellen Teint habe; sie hatte in ihrer Blindheit einen unüberwindlichen Widerwillen gegen dunkle Farben, gleichviel ob dieselben sich an Lebenden oder leblosen Gegenständen fanden. Sie war völlig außer Stande, einen Grund für diesen Widerwillen anzugeben; sie konnte ihn nur aussprechen.

»Ich habe die sonderbarsten Instinkte in Betreff einiger Dinge, sagte sie mir eines Tages; »ich wußte es zum Beispiel an jenem köstlichen Abend, wo ich zu erst den Klang von Oscar’s Stimme hörte, gleich, das heißt, ich fühlte im Innersten, daß er hell und blond sei. Das Gefühl ging auf geradem Wege von meinem Ohr in mein Herz und ließ mich ihn mit meinem innern Auge sehen, gerade wie Ihr Alle ihn mir seitdem geschildert habt. Mama sagt mir, sein Teint sei heller als der meinige; finden Sie das auch? Ich bin so glücklich darüber. Ist Ihnen je eine so sonderbare Person vorgekommen? Ich habe die wunderlichsten Ideen in meinem blinden Kopfe; für mich sind Leben und Schönheit unzertrennlich von hellen und Tod und Verbrechen von dunkeln Farben. Wenn ich je einen Mann mit dunklem Teint heirathen und später mein Gesicht wieder erlangen sollte, würde ich davonlaufen.«

Dieses sonderbare Vorurtheil gegen Menschen von dunklem Teint war mir aus persönlichen Gründen nicht angenehm. Dieses Vorurtheil stand mit meinem eigenen Geschmack durchaus nicht im Einklange. Unter uns, der selige Doctor Pratolungo hatte einen schönen mahagonibraunen Teint.

Was im Uebrigen die Dinge in Dimchurch anlangt, so finde ich in meinem Tagebuche über jene fünf Tage wenig Bemerkenswerthes verzeichnet; wir wurden durch keine zweite Erscheinung der beiden Strolche in Browndown erschreckt und nahm Oscar keine Veränderung mit seinen häuslichen Einrichtungen vor. Unsere kleine umherstreifende Jicks beehrte ihn wiederholt mit ihrem Besuche; bei jeder Gelegenheit erinnerte ihn das Kind mit ernster Miene an sein vorschnelles Versprechen, sich an die Polizei zu wenden, und die beiden häßlichen fremden Männer, die über sie gelacht hatten, körperlich züchtigen zu lassen. Die ersten Fragen, mit welchen die junge Dame regelmäßig, so oft sie Oscar mit einem Morgenbesuch beehrte, die Unterhaltung eröffnete, waren: »Wann sollen die Männer ihre Prügel bekommen?« und »Wann soll Jicks es sehen?«

Am sechsten Tage trafen die Gold und Silber platten aus der Londoner Fabrik wieder ein. Am nächsten Morgen erhielt ich von Oscar ein Billet folgenden Inhalts:

 
»Liebe Madame Pratolungo!

Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern mit theilen, daß mir in der verflossenen Nacht nichts zugestoßen ist. Meine Schlösser und Riegel sind in guter Ordnung; meine Gold und Silberplatten stehen sicher in meiner Werkstatt und ich selbst verzehre eben mein Frühstück mit unabgeschnittener Kehle. – Ihr ganz ergebener

Oscar.«

Darnach blieb mir nichts weiter zu« sagen. Jicks mochte dabei beharren, sich der beiden übelaussehenden Fremden zu erinnern; ältere und klügere Leute dachten nicht weiter an diese Kerle.

Es kam der Sonnabend, der zehnte Tag seit jenem denkwürdigen Morgen, an dem ich Oscar in dem kleinen Seitenzimmer in Browndown genöthigt hatte, sich gegen mich auszusprechen. Am Vormittage besuchte er uns im Pfarrhause; Nachmittags gingen wir nach Browndown, um ihn ein neues Stück in Gold getriebener Arbeit anfangen zu sehen, einen Handschuhkasten, der dazu bestimmt war, nach seiner Vollendung Lucilla’s Toilettentisch zu zieren. Wir verließen Oscar, emsig bei seiner Arbeit sitzend und entschlossen, bis Dunkelwerden damit fortzufahren.

Am Frühabend setzte sich Lucilla ans Klavier und ich machte einen verabredeten Besuch im Vorderhause des Pfarrhauses.

Frau Finch hatte beschlossen, eine vollständige Reform mit ihrer Garderobe vorzunehmen; sie hatte mich gebeten, ihr dabei mit meinem französischen Geschmack als vertraute Rathgeberin an die Hand zu gehen. »Ich kann mir keine neuen Sachen anschaffen,« sagte die arme Frau; »aber aus dem, was ich habe, ließe sich gewiß viel machen, wenn eine geschickte Hand sich mit den nöthigen Veränderungen befassen wollte.« Wer hätte einem so kläglichen Appell wiederstehen können? Ich ließ mir in stiller Ergebung das Baby, die übrigen Kinder und den Roman gefallen und begab mich, mit Scheere und Musterpapier bewaffnet, reich an Ideen, in Frau Finchs Wohnzimmer, während der Ehrenwürdige Finch auf seinem Zimmer damit beschäftigt war, eine Predigt zu verfassen. Wir hatten eben mit der Arbeit begonnen, als eines der älteren Kinder mit einer Botschaft aus der Kinderstube erschien. Es war Vesperzeit für die Kinder und Jicks war wie gewöhnlich nicht vorhanden; man hatte sie zuerst in den unteren Räumen des Hauses und dann im Garten gesucht, hatte aber nirgends eine Spur von ihr gefunden; Niemand war davon überrascht oder beunruhigt. Wir sagten: »Ach, sie ist gewiß wieder nach Browndown gegangen!« und vertieften uns wieder in die Bestandtheile von Frau Finch’s leidender Garderobe. Ich hatte eben decretirt, daß die blaue Merinojacke ausgedient haben und in den Ruhestand versetzt werden solle, als durch die offene Thür, welche nach dem Hintergarten führte, ein Klageruf an mein Ohr drang. Ich hielt inne und sah Frau Finch an. Der Klageruf erscholl abermals lauter und aus größerer Nähe und dieses Mal deutlich erkennbar als das Wimmern eines Kindes. Die Stubenthür war angelehnt geblieben, als der Abgesandte der Kinderstube uns wieder verlassen hatte; ich stieß die Thür auf und vor mir auf dem Vorplatz stand Jicks. Jeder Nerv erzitterte mir bei dem Anblick des Kindes. Das arme kleine Ding war bleich und zitterte vor Angst und Aufregung; sie war unfähig zu reden. Als ich niederknieete, um sie durch Liebkosungen zu beschwichtigen, ergriff sie mit einer krampfhaften Bewegung meine Hand und versuchte es, mich in die Höhe zu ziehen; ich stand wieder auf; sie stieß abermals ihr dumpfes Geschrei in noch lauteren Tönen aus und suchte mich zum Hause hinauszuzerren. Sie war so schwach, daß sie bei diesem Versuch stolperte. Ich nahm sie auf den Arm; mit einer meiner Hände berührte ich, als ich sie mit dem Arm umschlang, das obere Ende ihres Kleidchens gerade unter ihrem Halse und fühlte etwas an meinen Fingern; ich sah näher zu. Barmherziger Gott! Sie waren mit Blut befleckt! Ich drehte das Kind um, mein Blut erstarrte; ihre Mutter, die hinter mir stand, stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

Das weiße Kleidchen des lieben kleinen Dinges war überall mit frischem Blut befleckt und bespritzt. Es war nicht ihr eigenes Blut; an ihrem Körper war keine Schramme zu finden. Ich sah die schrecklichen Zeichen genauer an.

Sie waren offenbar absichtlich, wie es schien, mit dem Finger auf ihrem Kleide gemacht. Ich trug das Kind hinaus in’s Helle. Die Blutspuren bildeten Buchstaben; man hatte ihr mit schwachen Schriftzügen auf den Rücken ihres Kleides ein Wort geschrieben. Ich konnte, etwas dem Buchstaben »H« Aehnliches erkennen; dann kam ein völlig unleserlicher Buchstabe, dann etwas, das ein »l« und ein »f« bedeuten konnte, und dann ein letzter Buchstabe, in welchem ich ein »e« erkannte.

Sollte das Wort »Hilfe« heißen? – Ja, auf dem Rücken des Kinderkleides stand mit in Blut getauchtem Finger geschrieben – »Hilfe!«

Vierzehntes Kapitel.
Entdeckungen in Browndown

Ich brauche wohl kaum zu sagen, zu welchem Schluß ich gelangte, sobald ich wieder hinreichend zu mir gekommen war, um überhaupt denken zu können. Dank meiner abenteuerlichen Vergangenheit habe ich mir die Gewohnheit angeeignet, mich bei ernsten Vorkommnissen aller Art rasch zu entschließen. Im gegenwärtigen Falle mußte nach meiner Ansicht zunächst augenblicklich Hilfe nach Browndown geschafft, dann aber das Vorgefallene vor Lucilla geheim gehalten werden, bis ich wieder zurückkehren und sie auf die Entdeckung vorbereiten konnte. Ich sah Frau Finch an; sie war hilflos auf einen Stuhl nieder gesunken.

»Ermannen Sie sich!« sagte ich und schüttelte sie Es war keine Zeit, Ohnmachten und hysterischen Zufällen Theilnahme zu erweisen; das Kind lag noch in meinen Armen und das arme Ding war von der Anstrengung und dem Schrecken ganz erschöpft; Ich konnte nichts anfangen, bis ich mich von dieser Last befreit hatte. Frau Finch blickte zitternd und schluchzend zu mir auf. Ich setzte ihr das Kind auf den Schoß.

Jicks machte einen schwachen Versuch, sich einer Trennung von mir zu widersetzen, gab aber bald jeden Widerstand auf und ließ ihr Köpfchen auf die Brust ihrer Mutter sinken. »Können Sie ihr das Kleidchen ausziehen?« fragte ich und schüttelte Frau Finch dabei und dieses Mal gehörig. Die Aufforderung zu einer hausfräulichen Beschäftigung schien eine belebende Wirkung auf sie zu üben. Sie sah nach dem in einer Ecke des Zimmers in seiner Wiege liegenden Baby und nach dem auf einem Stuhl in einer andern Ecke des Zimmers liegenden Roman. Die Anwesenheit dieser beiden ihr so vertrauten Gegenstände schien sie zu ermnthigen; sie schauderte, unterdrückte einen Seufzer, kam wieder zu Athem und fing an, dem Kinde sein Kleidchen auszuziehen.

»Legen Sie das Kleid sorgfältig bei Seite,« sagte ich »und reden Sie mit niemand über das Vorgefallene bis ich zurückkomme. Sorgen Sie, daß das Kind keinen Schaden nimmt; beruhigen Sie sie und warten Sie hier auf mich. Ist Herr Finch in seinem Arbeitszimmer?«

Frau Finch unterdrückte abermals einen Seufzer und sagte »Ja«. Das Kind machte eine letzte Anstrengung »Jicks will mit Dir gehen,« sagte die kleine Zigeuner in mit schwacher Stimme. Ich eilte zum Zimmer hinaus und überließ die drei Baby’s, das große, das kleine und das kleinste, sich selber.

Nachdem ich an die Thür des Arbeitszimmers geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, öffnete ich dieselbe und trat ein. Der Ehrwürdige Finch war in einem bequemen Lehnstuhl, mit den zur Aufnahme seiner Predigt bestimmten weißen Blättern vor sich, in einen gesunden Schlaf verfallen, und sprang jetzt plötzlich erwachend auf. Der Pfarrer von Dimchurch fand sofort das Bewußtsein seiner Würde wieder.

»Ich bitte um Vergebung; Madame Pratolungo, ich war ganz in Gedanken vertieft. Fassen Sie Ihr Anliegen, wenn ich bitten darf, kurz.« Bei diesen Worten deutete er mit einer vornehm selbstbewußten Handbewegung auf die leeren Blätter und fügte in seinem tiefsten Baßton hinzu: »Predigttag!«

Ich erzählte ihm in kurzen Worten, was ich auf dem Kleide seines Kindes gesehen und theilte ihm meine Besorgnisse in Betreff des in Browndown Vorgefallenen mit. Er wurde todtenbleich. Nie habe ich: ein solches Entsetzen gesehen, wie die Gesichtszüge des Ehrwürdigen Finch in diesem Augenblicke darboten.

»Fürchten Sie eine Gefahr?« fragte er. »Es sind Sie der Meinung, daß sich verbrecherische Menschen dort im Hause oder in der Nähe befinden?«

»Ich bin der Meinung, daß hier kein Augenblick zu verlieren ist«; antwortete ich. »Wir müssen nach Browndown gehen und uns unterwegs zur Hilfsleistung so viele geeignete Leute mitnehmen, wie wir bekommen können.«

Ich öffnete die Thür und wartete einen Augenblick auf ihn. Herr Finch, der ersichtlich noch von dem Gedanken an die verbrecherischen Menschen präoccupirt war, machte ein Gesicht, als ob er sich in diesem Augenblick hundert Meilen von seinem eigenen Pfarrhause entfernt wünsche. Aber er war der Herr des Hauses, der angesehenste Mann am Orte; wie die Dinge standen, blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Hut zu nehmen und mit mir zu kommen. Wir gingen zusammen ins Dorf. Zum ersten Mal in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft fand ich meinen ehrwürdigen Begleiter schweigsam. Wir erkundigten uns nach dem einzigen Polizei Officianten, der in dem Districte fungirte; er war eben an seiner Runde begriffen.

Wir fragten weiten ob der Doctor wohl in Dimchurch sei? Nein, es war heute nicht der Tag, wo er nach Dimchurch kam. Der Wirth zur »Gut in Hand« war mir als ein tüchtiger und respectabler Mann genannt worden und ich proponirte Herrn Finch, im, Wirthshause vorzusprechen und den Wirth mitzunehmen. Bei diesem Vorschlag klärte sich Herrn Finch’s Gesicht sofort auf; das Gefühl seiner Wichtigkeit stieg wieder in ihm, wie das Quecksilber in einem Thermometer.

»Das wollte ich gerade vorschlagen,« sagte er. Gootheridge in der »Guten Hund« ist ein für seinen Stand respectabler Mann. Lassen Sie uns Gootheridge auf alle Fälle mitnehmen. Fürchten Sie nichts, Madame Pratolungo, wir stehen Alle in Gottes Hand; es ist ein wahres Glück für Sie, daß Sie mich zu Hause getroffen haben. Was hätten Sie wohl ohne mich anfangen wollen? Ich bitte recht sehr, fürchten Sie sich nicht. Sollten uns Spitzbuben in den Weg kommen, ich habe ja, wie Sie sehen, meinen Stock bei mir; ich bin nicht groß, aber ich habe die Körperkraft eines starken Mannes; mein Körper ist so zu sagen ganz Muskel; fühlen Sie nur einmal!«

Dabei hielt er mir einen seiner dürren kleinen Arme hin, der ungefähr halb so groß wie mein Arm war. Wäre sich nicht viel zu bekümmert gewesen, um zu Scherzen aufgelegt zu sein, ich würde ohne Zweifel erklärt haben, daß ich es in der Begleitung eines solchen Ausbundes von Stärke für überflüssig halte, den Wirth zu incommodiren. Ich darf nicht behaupten, daß Herr Finch merkte, was in mir vorging, ich kann nur versichern, daß er, sobald wir des Wirthshauses ansichtig wurden, sich beeilte, Gootheridge eifrig und heftig zu rufen. Der Wirth trat aus dem Hause und erklärte sich, sobald er gehört hatte, um was es sich handle, sofort bereit, mit uns zu gehen .

»Nehmet! Sie Ihr Gewehr mit,« sagte Herr Finch.

Gootheridge that wie ihm geheißen wurde; wir gingen raschen Schrittes nach Browndown.

»War Ihre Frau oder Ihre Tochter heute in Browndown fragte ich den Wirth.

»Ja, Madame, sie waren beide in Browndown. Sie haben dort wie gewöhnlich ihre Arbeit gethan, und haben das Haus schon vor länger als einer Stunde verlassen.«

»Hat sich während ihrer Anwesenheit dort irgend etwas Ungewöhnliches zugetragen?«

»Nichts daß ich wüßte, Madame!«

Ich dachte einen Augenblick nach und wagte es, noch einige weitere Fragen an Herrn Gootheridge zu richten. Ich fragte, ob man diesen Abend irgend welche Fremde hier gesehen habe?«

»Ja, Madame« vor ungefähr einer Stunde fuhren zwei Fremde in einer Chaise an meinem Hause vorüber.«

»In welcher Richtung?«

»Der Wagen kam von der Brightoner Landstraße her und fuhr in der Richtung nach Browndown zu.«

»Haben Sie die Fremden angesehen?«

»Nicht genau« Madame« ich war gerade beschäftigt.«

Ein schrecklicher Argwohn, daß die beiden Fremden in der Chaise die beiden Männer sein möchten, die ich damals hinter der Mauer versteckt gesehen hatte, drängte sich mir auf. Ich sagte nichts weiter, bis wir bei dem Hause angelangt waren. Alles war ruhig; das einzige Zeichen von etwas Ungewöhnlichem waren die deutlichen Radspuren auf dem Rasen vor dem Hause in Browndown. Der Wirth war der erste, der diese Wagenspuren bemerkte. »Der Wagen muß vor dem Hause gehalten haben, Herr Pfarrer,« sagte er zu dem Ehrwürdigen Finch gewandt. Dieser schien wieder seine Sprache verloren zu haben; Alles was er hervorzubringen vermochte, als wir uns der Thür des einsam und öde daliegenden Hauses näherten, waren die mit äußerster Anstrengung gesprochenen Worte: »Bitte, lassen Sie uns vorsichtig sein!«

 

Der Wirth langte zuerst an der Thür an; ich folgte ihm, während der Pfarrer in einer kleinen Entfernung die Arrièregarde bildete und auf seine Deckung durch die hinter ihm liegenden Hügel bedacht war. Gootheridge klopfte laut an die Thür und rief: »Herr Dubourg!« Es erfolgte keine Antwort; es herrschte eine schreckliche Stille; ich vermochte die Ungewißheit nicht länger zu ertragen, schob den Wirth bei Seite und er faßte den Griff der unverschlossenen Thür.

»Lassen Sie mich vorangehen« Madame,« sagte Gootheridge; und dieses Mal schob er mich bei Seite. Ich folgte ihm auf dem Fuße; wir traten ins Haus und riefen wieder. Abermals erfolgte keine Antwort; wir blickten in das kleine Wohnzimmer, welches an der einen, und in das Eßzimmer, welches an der andern Seite des Vorplatzes lag, beide waren leer. Wir gingen weiter nach der Rückseite des Hauses, wo das Zimmer lag, welches Oscar seine Werkstätte nannte; als wir in dieselbe eintreten wollten, zeigte es sich, daß die Thür verschlossen war. Wir klopften an und riefen wieder, aber es blieb unheimlich still. Ich steckte meinen Finger in das Schlüsselloch; der Schlüssel steckte nicht darin. Ich knieete, nieder und guckte durch dass Schlüsselloch. Aber kaum hatte ich das gethan, als ich auch schon in wildem Entsetzen wieder aufsprang.

»Erbrechen Sie die Thür!« schrie ich. »Ich habe feine Hand auf dem Fußboden liegen gesehen!«

Der Wirth war wie der Pfarrer nur ein kleiner Mann, und die Thür war, wie Alles in Browndown, von der plumpsten und schwerfälligsten Construction. Ohne geeignetes Werkzeug würden wir alle drei zu schwach gewesen sein, die Thür zu erbrechen. In dieser schwierigen Lage erwies sich der Ehrwürdige Finch zum ersten und einzigen Male nützlich.

»Warten Sie, meine Freunde!« sagte er, »wenn die Pforte zum Hintergarten offen ist, können wir durch das Fenster ins Zimmer gelangen.«

Weder der Wirth, noch ich hatten an das Fenster gedacht. Wir eilten um das Haus herum an die Rückseite und sahen, daß die Spuren der Wagenräder die selbe Richtung verfolgten. Die Pforte in der Gartenmauer stand weit offen. Wir durchschritten den kleinen Garten und konnten durch das bis auf den Boden reichende Fenster der Werkstätte, wie es der Pfarrer vorausgesagt hatte, in dieselbe gelangen; so betraten wir das Zimmer.

Da lag der arme unglückliche Oscar, bewußtlos in einer Lache seines eigenen Bluts. Allem Anscheine nach hatte ihn ein Schlag auf der linken Seite des Kopfes auf der Stelle zu Boden geworfen. Ob die Wunde nicht nur die Kopfhaut, sondern auch den Schädel verletzt habe, war ich nicht im Stande zu beurtheilen. Ich hatte mir im Dienste der heiligen Sache der Freiheit an der Seite meines edlen Pratolungo einige Erfahrungen in der Behandlung von Kranken gesammelt; kaltes Wasser, Essig und Leinen zum Verbinden, nach denen ich verlangte, fanden sich im Hause. Gootheridge fand den Thürschlüssel in einer Ecke des Zimmers liegend; er schaffte mir Wasser und Essig, während ich die Treppe hinauf in Oscar’s Schlafzimmer lief und mir einige von seinen Handtüchern holte. Nach wenigen Minuten hatte ich eine kalte Compresse auf die Wunde gelegt und wusch Oscar’s Gesicht mit Essig und Wasser. Er war noch immer bewußtlos, – doch er lebte. Der Ehrwürdige Finch, der nicht die geringste Hilfe leistete, hielt es für seine Pflicht, Oscar den Puls zu fühlen. Er that es mit einer Miene, als ob das unter den obwaltenden Umständen die einzige verdienstliche Handlung sei, die er vornehmen könne und als ob niemand außer ihm den Puls fühlen könne. »Ein wahres Glück,« sagte er, indem er die langsamen schwachen Schläge am Handgelenk des armen Oscar zählte, »ein wahres Glück, daß ich zu Hause war. Was hätten Sie wohl ohne mich anfangen wollen?«

Was uns jetzt zunächst oblag, war natürlich zum Arzt zu schicken und uns Leute zu verschaffen, die uns behilflich sein könnten, Oscar die Treppe hinan in sein Bett zu tragen. Gootheridge erklärte sich bereit, sich ein Pferd zu verschaffen und den Doktor zu holen. Wir verabredeten, daß er mir seine Frau und deren Bruder, um mir beim Hinauftragen Oscar’s zu helfen, schicken solle. Nachdem wir diese Verabredung getroffen hatten, blieb uns nur noch das eine zu thun, uns von der lästigen Gegenwart des Ehrwürdigen Finch zu befreien. Jetzt wo die Anwesenheit verdächtiger Individuen im Hause nicht mehr zu fürchten war, ertönte die gewaltige Stimme des kleinen Mannes wieder ununterbrochen, wie eine in der Nachbarschaft arbeitende Dampfmaschine. Ich hatte wieder eine Eingebung. Auf dem Boden sitzend und Oscar’s Kopf in meinem Schoße haltend, gab ich meinem ehrwürdigen Begleiter etwas zu thun. »Sehen Sie sich doch einmal im Zimmer um,« sagte ich, »ob die Kiste mit den Gold und Silberplatten hier ist?«

»Fassen Sie sich, Madame Pratolungo,« sagte er, »keine nervöse aufgeregte Vielgeschäftigkeit, wenn ich bitten darf; ich habe mich der Sache angenommen und es versteht sich von selbst, daß ich auch nach der Kiste sehen werde.«

»Gewiß!« stimmte ich bei. »Ich zweier auch nicht, daß die Kiste fort sein wird!«

Diese Erwidernng veranlaßte ihn, sofort geschäftig im Zimmer hin und her zu laufen. Von der Kiste war keine Spur zu finden! Damit war mir jeder Zweifel benommen; die beiden Spitzbuben, die wir damals an die Mauer gelehnt gefunden, hatten meine schlimmsten Befürchtungen in entsetzlicher Weise gerecht fertigt.

Als Frau Gootheridge und ihr Bruder eintrafen, trugen wir Oscar auf sein Zimmer; wir legten ihn aufs Bett, nachdem wir ihm seine Cravatte abgenommen und das Fenster geöffnet hatten, so daß die frische Luft ungehindert über ihn wegstreichen konnte. Er gab noch kein Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins von sich, aber sein Puls fuhr fort, wenn auch schwach zu schlagen.

Sein Zustand schien sich nicht zu verschlimmern. Auf die Ankunft des Arztes durften wir vor Ablauf einer Stunde nicht hoffen; ich fand es daher nothwendig, sofort nach dem Pfarrhause zurückzukehren und Lucilla mit aller nöthigen Vorsicht die traurige Wahrheit mitzutheilen, denn es stand zu befürchten, daß sie sonst, nachdem sich die Nachricht im Dorfe verbreitet haben würde, die Sache aus die denkbar ungeeignetste Weise durch einen der Dienstboten erfahren möchte. Zu meiner größten Genugthuung bat mich Herr Finch, als ich mich erhob um fortzugehen, zu entschuldigen, wenn er mich nicht begleite. Es war ihm aufgegangen, daß ihm als Pfarrer die Pflicht obliege, den Behörden sofort von dem in Browndown begangenen Verbrechen Anzeige zu machen. Er ging zu dem nächstwohnenden Friedensrichter und ich kehrte nach dem Pfarrhause zurück und ließ Oscar unter der Obhut von Frau Gootheridge und ihrem Bruder. Herrn Finch’s letzte Worte beim Abschiede erinnerten mich noch einmal daran, daß wir unter den obwaltenden traurigen Umständen wenigstens für Eines dankbar sein mußten.

»Ein wahres Glück, Madame Pratolungo, daß ich zu Hause war; was hätten Sie wohl ohne mich angefangen!«

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