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Die Blinde

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Die Uhr habe nach der Aussage ihrer Herrin fünfundzwanzig Minuten vor neun gezeigt, während es in der That, wie Herr Dubourg behauptet habe, zwanzig Minuten nach acht Uhr gewesen sei.

Befragt, warum sie diese merkwürdige Aussage nicht schon früher vor dem Untersuchungsrichter zu Protocoll gegeben habe, erklärte sie, daß in dem entfernten Cornishen Dorfe, nach welchem sie am nächsten Tage gegangen und wo sie dann durch ihre Krankheit zurückgehalten sei, niemand weder von der Untersuchung, noch von dem Proceß etwas gehört habe. Sie würde auch jetzt noch nicht hier erschienen sein, um über die so wichtigen Umstände ihre eben beschworene Aussage zu machen, wenn nicht der Zwillingsbruder des Angeklagten sie Tags zuvor aufgefunden und nachdem sie ihm aus seine Fragen mitgetheilt hatte, was sie eben in Betreff der Pendüle ausgesagt habe, darauf bestanden hätte, daß sie diesen Morgen die Reise hierher mit ihm mache. Diese Aussage entschied in der That den Proceß. Als das Mädchen mit seiner Aussage zu Ende war, machte die dichtgedrängte Menge ihren Gefühlen durch laute Ausbrüche des Beifalls Luft. Das Mädchen wurde natürlich in ein scharfes Kreuzverhör genommen. Man erkundigte sich nach ihrem Ruf; man suchte und fand eine Bestätigung in der Aussage in Betreff des Grabstichels und der Schrammen auf dem Rahmen des Glasdeckels. Der Proceß endigte damit, daß die Geschworenen am zweiten Tage zu später Stunde den Angeklagtem ohne ihre Loge zu verlassen, für »nichtschuldig« erklärten. Es war nicht zu Viel gesagt, daß sein Bruder ihm das Leben gerettet hatte. Sein Bruder allein hatte von Anfang bis zu Ende hartnäckig, dem Zeugniß der Pendüle mißtraut. Er hatte alle Menschen mit unaufhörlichen Fragen gequält, hatte nach Beginn des Processes die Abwesenheit des Hausmädchens entdeckt und war aus der Stelle abgereist, das Mädchen aufzusuchen und zu befragen, ohne einen bestimmten Anhalt, einfach entschlossen, in der unermüdlichen Stellung der einen Frage nicht nachzulassen, mit welcher er alle Menschen verfolgte: »Die Pendüle wird meinen Bruder an den Galgen bringen, können Sie mir etwas über die Pendüle mittheilten.«

Vier Monate später klärte sich das Geheimniß des Verbrechens auf. Einer der schlechtberufenen Genossen des Ermordeten bekannte sich auf seinem Sterbebette zu der That. Die Umstände der That boten nichts Interessantes oder Bemerkenswerthes dar. Der Zufall, welcher einen Unschuldigen in Gefahr gebracht, hatte den Schuldigen straflos ausgehen lassen. Ein elendes Weibsbild, ein durch Eifersucht hervorgerufener Streit und der Mangel an Zeugen der That, das waren die sehr gewöhnlichen Umstände, die zu der Tragödie im »Pardon Felde« geführt hatten.

Neuntes Kapitel.
Der Held des Processes

»Sie haben es mir abgepreßt. Jetzt wo ich Ihnen Ihren Willen gethan habe, lassen Sie mich mit meinen Gefühlen allein und gehen Sie!« Das waren die ersten Worte, mit denen mich der Held des Criminalprocesses anredete, sobald er wieder im Stande war zu sprechen. Er ging mit einem eigenthümlich trotzig resignirten Ausdruck nach der andern Seite des Zimmers und blickte von dort auf auf mich, wie ein Mensch, der mit einer ansteckenden Krankheit behaftet ist und einen gesunden Nebenmenschen vor der Gefahr der Berührung mit sich bewahren möchte.

»Warum soll ich gehen?« fragte ich .

»Sie sind ein kühnes Weib,« sagte er, »daß Sie den Muth haben, in demselben Zimmer mit einem Menschen zu bleiben, auf welchen die Leute als auf einen Mörder mit Fingern gedeutet haben und welcher unter der Anklage eines todteswürdigen Verbrechens vor Gericht gestanden hat.«

Derselbe krankhafte Gemüthszustand, welcher ihn nach Dimchurch geführt und ihn veranlaßt hatte, mich am vorhergehenden Abende in der von mir erzählten Weise anzureden, brachte ihn jetzt, wie mir schien, gegen mich als gegen eine Person auf, welche sich seines leidenschaftlichen Temperaments als eines Mittels, bedient habe, ihm die Wahrheit abzuzwingen. Was sollte ich mit einem Menschen in dieser Gemüthsverfassung anfangen? Ich entschloß mich zu einem Verfahren, das man sprichwörtlich »den Stier bei den Hörnern packen« nennt.

»Ich sehe nur einen Mann hier«; antwortete ich »einen Mann, der von der Anklage eines Verbrechens, das er zu begehen unfähig war, ehrenvoll freigesprochen worden ist, einen Mann, der Anspruch auf mein Interesse und meine Sympathie hat. Reichen Sie mir die Hand, Herr Dubourg.« Ich sprach in einem guten, herzlichen Tone und bekräftigte meine Worte durch einen guten, herzlichen Händedruck Der arme, schwache, vereinsamte, verfolgte junge Mensch ließ seinen Kopf wie ein Kind auf meine Schulter sinken und brach in Thränen aus.

»Verachten Sie mich nicht,« sagte er, sobald er wieder Worte finden konnte. »Es kann einen Menschen wohl zu Boden werfen, wenn er auf der Anklagebank gesessen hat und wenn Hunderte von hartherzigen Menschen ihn, ohne daß er es verdient hätte, mit Entsetzen angestarrt haben. Ueberdies fühle ich mich sehr einsam, Madame, seit mich mein Bruder verlassen hat.«

Wir setzten uns wieder neben einander nieder. Sein Wesen bot die sonderbarste Mischung von Extremen, die mir jemals vorgekommen waren. Wenn man ihn zu einem der leidenschaftlichen Ausbrüche brachte, zu denen er so leicht aufflammte, so erschien er wie ein Tiger, wenn er sich aber dann wieder zu seiner gewöhnlichen milden Temperatur abgekühlt hatte, er schien er wie ein wahres Lamm.

»Eines ist mir auffallend, Herr Dubourg,« fuhr ich fort, »ich begreife nicht recht —«.

»Nennen Sie mich nicht Herr Dubourg,« unter brach er mich. »Sie erinnern mich damit an die Schande, die mich genöthigt hat, diesen Namen anzunehmen. Nennen Sie mich bei meinem Vornamen. Es ist ein fremder Name Ihrem Accente nach müssen Sie eine Fremde sein und werden mich daher um meines fremden Namens willen nur um so lieber haben. Ich bin nach einem Bruder meiner Mutter auf den Namen Oscar getauft; meine Mutter war aus Jersey. Nennen Sie mich Oscar. Was also begreifen Sie nicht?«

»Ich begreife nicht«; nahm ich wieder auf, »daß Ihr Bruder Sie in Ihrer gegenwärtigen Lage hier ganz allein läßt.«

Bei diesen Worten wäre er beinahe wieder in Wuth gerathen.

»Kein Wort gegen meinen Bruder,« rief er zornig aus. »Mein Bruder ist das edelste Wesen, das Gott je geschaffen hat. Das werden Sie selbst zugeben müssen. Sie wissen ja, was er für mich gethan hat. Ich würde ohne diesen Engel unfehlbar gehängt worden sein.«

Ich gab zu, daß sein Bruder ein Engel sei und dieses Zugeständniß beschwichtigte ihn sofort.

»Die Leute sagen, man könne uns nicht von einander unterscheiden,« fuhr er fort, indem er seinen Stuhl freundschaftlich dicht an meinen heranrückte. »Ach,« die Leute sind so oberflächlich. Dem Aeußern nach sind wir allerdings ganz gleich. Sie haben gehört, daß wir Zwillinge sind. Aber damit hat auch zu meinem Unglück die Aehnlichkeit ein Ende. Nugent, mein Bruder erhielt diesen Namen nach meinem Vater, Nugent ist ein Held, Nugent ist ein Genie. Ich wäre gestorben, wenn er sich nicht nach dem Criminalproreß meiner angenommen hätte. Ich hatte Niemanden als ihn. Wir sind Waisen und haben keine weiteren Geschwister. Nugent empfand die mir angethane Schmach noch bitterer als ich, aber er wußte sich zu beherrschen. Freilich traf ihn der Schimpf auch noch empfindlicher als mich; ich will Ihnen sagen warum. Nugent war auf dem besten Wege, unsern Familiennamen, den Namen, welchen wir jetzt aufzugeben genöthigt sind, zu einem weltberühmten zu machen. Er ist Maler, Landschaftsmaler, haben Sie nie von ihm gehört? Nun da werden Sie bald von ihm hören. Was glauben Sie wohin er gegangen ist? Zu den Wilden in Amerika, um dort Studien zu neuen Bildern zu machen. Er wird der Gründer einer neuen Schule der Landschaftsmalerei, in einer so großartigen Auffassung, wir sie nie erstrebt worden ist, werden. Der liebe Junge! Wissen Sie, was er zu mir sagte, als er hier von mir Abschied nahm? Edle Worte, wahrhaft edle Worte:l »Oscar, ich werde unseren angenommenen Namen berühmt machen. Du sollst in ehrenvoller Weise bekannt, Du sollst berühmt werden als der Bruder von Nugent Dubourg.« Denken Sie, ich hätte mich einer solchen Carrière hindernd in den Weg stellen können? Konnte ich einen solchen Mann, der mir so viel geopfert hatte, dazu verurtheilen, hier zu vegetiren, nur um mir Gesellschaft zu leisten? Was liegt daran, ob ich mich einsam fühle oder nicht. Wer bin ich? O, wenn Sie gesehen hätten, wie er das entsetzliche Allbekanntsein, welches uns nach dem Proceß verfolgte, ertrug! Ueberall hielten ihn die Leute für mich, starrten ihn an und deuteten mit den Fingern auf ihn. Keine Klage entfuhr ihm, er lachte darüber. »So viel gebe ich auf die öffentliche Meinung,« sagte er, mit den Fingern schnalzend. Das ist doch Geistesstärke, nicht wahr? Er reiste von Stadt zu Stadt, aber überall fanden sich die Photographien, die Zeitungen, überall war die ganze nichtswürdige Geschichte – »ein Roman aus dem wirklichen Leben« nannten sie es – Jedermann schon vor Nugent’s Eintreffen bekannt. Er verlor nie den Muth. »Wir werden schon noch einen Ort finden,« pflegte er heiter zu sagen, »Du brauchst Dich gar nicht darum zu bekümmern, Oscar, ich sorge für Dich. Ich verspreche Dir, ich schaffe Dir einen Zufluchtsort, gerade wie Du ihn brauchst.« Er zog überall Erkundigungen ein und machte endlich diesen einsamen Ort, welchen Sie bewohnen, ausfindig. Ich fand die Gegend hübsch, als wir zusammen über die Hügel gingen – für ihn war sie längst nicht großartig genug. Wir verirrten uns. Ich fing an, mich zu ängstigen, aber er machte sich gar nichts daraus. »Ich bin ja bei Dir,« sagte er, »und mich verläßt mein Glück nicht. Paß’ auf wir werden nächstens über ein Dorf stolpern!« Sie werden es kaum glauben, wenn ich Ihnen sage, dass wir zehn Minuten später, genau wie er es vorher gesagt hatte über diesen Ort stolperten. Als ich ihn endlich vermocht hatte, mich zu verlassen, ging er doch nicht von mir, ohne mich guten Leuten empfohlen zu haben. Er empfahl mich dem Wirth des Gasthauses hier. Er sagte zu ihm: »Mein Bruder hat eine zarte Gesundheit, mein Bruder wünscht zurückgezogen zu leben; ich werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie sich um meinen Bruder bekümmern.« War das nicht gütig? Der Wirth schien ganz gerührt davon zu sein. Nugent weinte, als er von mir Abschied nahm. O, was gäbe ich darum, wenn ich sein Herz und seinen Geist hätte. Aber es ist doch auch schon etwas, sein Gesicht zu haben, nicht wahr? Das sage ich mir oft, wenn ich mich im Spiegel sehe. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen so viel vorplaudere, aber wenn ich einmal von Nugent zu reden anfange, weiß ich nie ein Ende zu finden.«

 

Ein Zug in dem sonst unergründlichen Wesen dieses jungen Menschen war also deutlich ausgesprochen; er betete seinen Zwillingsbruder an.

Es würde auch mir klar gewesen sein, daß Herr Nugent Dubourg es verdiene, angebetet zu werden, wenn ich mich damit hätte aussöhnen können, daß er seinen Bruder an einem Orte wie Dimchurch sich selbst überlassen hatte. Ich mußte mich des großen Dienstes erinnern, welchen er seinem Bruder bei dem Criminalproceß geleistet hatte, um es über mich zu gewinnen, ihm die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mein Urtheil über ihn bis zu einer persönlichen Bekanntschaft zu suspendiren.

Nachdem ich diesen Art der Großmuth vollbracht hatte, nahm ich die erste sich darbietende Gelegenheit wahr, um die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand zu leiten. Ich kenne nichts Langweiligeres, als die Mittheilung über die Tugenden einer abwesenden und uns unbekannten Person. »Ist es wahr« fragte ich, »daß Sie Browndown auf sechs Monate gemiethet haben? Wollen Sie sich wirklich in Dimchurch niederlassen?«

»Ja,« antwortete er, »wenn Sie mein Geheimniß bewahren wollen. Die Leute hier wissen nichts von mir. Sagen Sie ihnen, bitte, nicht, wer ich bin! Sie würden mich von hier forttreiben, wenn Sie es thäten.«

»Ich muß aber doch Fräulein Finch sagen, wer Sie sind,« erwiderte ich.

»Nein, nein, nein!« rief er eifrig aus. »Ich kann den Gedanken, daß sie darum wissen sollte, nicht ertragen. Ich bin so entsetzlich beschimpft worden. Was würde sie von mir denken?«

Es folgte ein neuer Erguß seiner entzückten Bewunderung Lucilla’s, untermischt mit erneuten Bitten, seine Geschichte vor Jedermann geheim zu halten. Ich verlor die Geduld bei seinem gänzlichen Mangels an Charakterstärke und gesundem Menschenverstand.

»Mein lieber Oscar; ich möchte Sie wohl ohrfeigen,« sagte ich, »Sie befinden sich in Betreff dieser Angelegenheit in einem nichtswürdig krankhaften Gemüthszustande. Haben Sie nichts Anderes zu denken? Haben Sie keinen Beruf? Müssen Sie nicht für Ihren Unterhalt arbeiten?«

Ich sprach, wie man sieht, in ziemlich starken Ausdrücken, denen ich noch durch einen entsprechenden Ton und eben solche Manieren den gehörigen Nachdruck verlieh. Herr Oscar Dubourg sah mich mit der verwirrten Miene eines Menschen an, dessen Geist sich plötzlich eine Fülle neuer Ideen gewaltsam aufdrängt. Er gab bescheiden die für ihn demüthigende Wahrheit zu. Seit seinen Kinderjahren hatte er immer nur die Hände in die Tasche zu stecken gebraucht, um jederzeit Geld zu finden, ohne daß er jemals nöthig gehabt hätte, es vorher zu verdienen. Sein Vater war ein beliebt er Porträtmaler gewesen und hatte eine Dame, deren Portrait er gemalt, eine Erbin geheirathet. Oscar und Nugent fanden sich beim Tode ihrer Eltern in der verabscheuungswürdigen Lage unabhängiger Gentleman. Die Würde der Arbeit war etwas diesen unglücklich verwöhnten jungen Leuten Unbekanntes.

»Ich verachte einen reichen Müßiggänger,« sagte sich zu Oscar in in meiner republikanischen Strenge. »Sie bedürfen des veredelnden Einflusses der Arbeit, um einen Mann aus sich zu machen. Kein Mensch hat ein Recht, müßig zu gehen, Keiner ein Recht, reich zu sein. Sie würden sich in einem weniger krankhaften Gemüthszustande befinden, mein junger Mann, wenn Sie Ihr Brot und Ihren Käse verdienen müßten, bevor Sie es essen.«

Er starrte mich mit kläglicher Miene an. Die edlen Gesinnungen, welche ich von meinem verstorbenen Gatten überkommen hatte, brachten Herrn Oscar Dubourg völlig außer Fassung. »Seien Sie mir nicht böse,« sagte er in seiner unschuldigen Weise. »Meinen Käse würde ich auch nicht essen können, wenn ich ihn mir verdiente, ich kann keinen Käse vertragen. Ueberdies beschäftige ich mich so gut ich kann.« Er nahm seine kleines goldene Vase von dem hinter ihm stehenden Tische und erzählte mir, was ich ihn schon Lucilla hatte erzählen hören, als ich am Fenster horchte. »Sie würden mich diesen Morgen bei der Arbeit gefunden haben,« fuhr er fort, »wenn nicht die dummen Menschen, die mir meine Metallplatten schicken, ein Versehen gemacht hätten. Die Legierung sowohl des Goldes wie des Silbers ist diese Mal ganz Verkehrt. Ich muß die Platten wieder zurückschicken und einschmelzen lassen, bevor ich irgend etwas damit anfangen kann. Sie liegen schon alle bereit, um heute, wenn der Fracht wagen kommt, wieder abgeschickt zu werden. Wenn es hier Bedürftige giebt, die Geld brauchen, so werde ich ihnen mit dem größten Vergnügen etwas von dem meinigen abgeben. Es ist nicht meine Schuld, daß mein Vater meine Mutter heirathete. Und was kann ich dafür, daß er Jedem von uns, meinem Bruder und mir eine jährliche Einnahme von zweitausend Pfund hinter lassen hat?«

Zweitausend Pfund! Und der berühmte Pratolungo hatte nie vor seiner Verbindung mit mir gewußt, was es heißt, fünf Pfund zu seiner Verfügung haben. Ich blickte nach der Zimmerdecke empor. In meiner gerechten Entrüstung vergaß ich Lucilla und ihre Neugier in Betreff Oscar’s – vergaß ich Oscar und seine Angst, daß Lucilla entdecken möchte, wer er sei. Ich öffnete meine Lippen, um zu reden. Im nächsten Augenblicke würde ich meine Donnerkeile gegen das ganze infame System der modernen Gesellschaft geschleudert haben, wenn ich nicht durch die merkwürdigste und unerwartetste Unterbrechung, die jemals einer Frau die Lippen geschlossen hat, zum Schweigen gebracht worden wäre.

Zehntes Kapitel.
Erstes Auftreten von Jicks

Plötzlich trat durch die offene Thüre des Zimmers leise und ruhig ein pausbäckiges kleines Mädchen, das nicht mehr als höchstens drei Jahre alt sein konnte. trug weder Hut noch Mütze aus dem Kopfe. Ein schmutziges Kinderkleid bedeckte die ganze kleine Gestalt vom Kinn bis zu den Füßen. Diese merkwürdige Erscheinung schritt mit einer zerlumpten und sehr unrespectabel aussehenden Puppe, welche sie mit ihrem einen Arm fest umschlungen hielt, bis in die Mitte des Zimmers vor; sah zuerst Oscar und dann mich starr an, trat dann an meine Knie heran, legte mir die unrespectable Puppe auf den Schooß, deutete aus einen neben mir leer stehenden Stuhl und nahm die Rechte der Gastfreundschaft mit den Worten in Anspruch:

»Ich will sitzen.«

Wie war es unter diesen Umständen noch möglich, das infame System der modernen Gesellschaft anzugreifen? Jetzt konnte ich nichts thun, als Jicks küssen.

»Kennen Sie das Kind?« fragte ich, während ich dasselbe auf den Stuhl hob.

Oscar lachte laut auf. Gleich mir sah er diese mysteriöse junge Dame jetzt zum ersten Male; gleich mir fragte er sich, was der merkwürdige Spitzname, unter welchem sie sich eingeführt hatte, wohl zu bedeuten haben könne. Wir sahen das Kind an; es hielt seine Beine, welche in ein Paar kleine bestäubte durch löcherte Stiefeln ausliefen, ausgestreckt gerade vor sich hin, erhob seine dunkeln runden, von einem Wetterdach ungekämmter Flachshaare überschatteten Augen, sah uns wieder ernst an und nahm unsere Gastfreundschaft zum zweiten Male mit den Worten in Anspruch: »Jicks will etwas zu trinken haben.«

Während Osrar in die Küche lief, um etwas Milch zu holen, gelang es mir, ausfindig zu machen, wer »Jicks« sei. Etwas, ich kann nicht genau sagen was, in der Art, wie das Kind mit seiner Puppe in das Zimmer hineingeschlendert war, erinnerte mich an die lymphatische Dame im Pfarrhause, wie sie mit dem Baby in der einen und dem Roman in der andern Hand vor und rückwärts schlenderte.

Ich nahm mir die Freiheit, Jicks’ Kleid etwas genauer zu untersuchen und entdeckte in der einen Ecke desselben das Zeichen »Selina Finch.« Neben mir saß also, wie ich vermuthet hatte, ein Mitglied der zahlreichen Familie Frau Finch’s, das, wie mir schien, reichlich jung war, um ganz allein ohne Kopfbedeckung die Umgegend von Dimchurch zu durch streifen. Oscar kam mit einem Becher Milch zurück Das Kind bestand darauf; den Becher selbst in die Hände zu nehmen, leerte denselben ohne abzusetzen bis aus den letzten Zug, holte tief Athem, sah mich mit einem weißen Schnurrbart auf der Oberlippe an und kündigte das Ende seines Besuchs mit den Worten an: »Jicks will wieder hinunter.«

Ich half unserer kleinen Freundin vom Stuhl hinunter. Sie nahm ihre Puppe und blieb einen Augenblick in Gedanken versunken stehen. Was hatte sie jetzt vor? Darüber sollten wir nicht lange in Ungewißheit bleiben. Plötzlich legte sie ihre heiße, fette, kleine Hand in die meinige und versuchte es, mich mit sich zum Zimmer hinaus zu ziehen.

»Was willst Du?« fragte ich.

Jicks antwortete in einem unübersetzbar zusammen gesetzten Wort: »Mann Hott, hott.«

Ich ließ mich zum Zimmer hinaus zerren, um »Mann Hott, hott« zu sehen, zu spielen, oder zu essen; bestimmt zu sagen, was ich eigentlich damit sollte, war unmöglich Das Kind zog mich über den Vor platz vor die Hausthür. Hier hielt der Fuhrmann mit dem Wagen, welcher die zur Zurücksendung nach London bestimmte Kiste mit Gold – und Silberplatten auf nehmen sollte und von dessen Eintreffen wir des weihen Rasenbodens wegen nichts gehört hatten. Ich sah Oscar an, der mir gefolgt war. Jetzt verstanden wir nicht nur das meisterhaft zusammengesetzte Wort Jicks, welches, den Wagen als unwichtig außer Acht lassend, Mann und Pferd bedeutete, sondern auch die höfliche Zuvorkommenheit, mit welcher Jicks zu uns gekommen war und uns, nachdem sie sich ausgeruht und etwas getrunken hatte, von einem Umstande in Kenntniß setzte, welcher von uns unbemerkt geblieben war. Das merkwürdige Kind war, wie der Fuhrmann selbst erzählte, bis nach Browndown geschlendert, um zu sehen, was er hier machen werde, und hatte ihn vorhin befragt und auszuforschen gesucht. Jicks war ein öffentlicher Charakter in Dimchurch, der Fuhrmann kannte sie ganz genau. Man hatte ihr ihres Umherstreifens wegen den Spitznamen »Gipsy« gegeben und hatte diesen Namen in ihrem eigenen Dialekt in Jicks umgeändert. Sie war auf keine Weise im Pfarrhause zu halten; man hatte dort seit langer Zeit jeden Versuch als hoffnungslos aufgegeben. Früher oder später kam sie aber immer wieder zum Vorschein, oder es brachte sie jemand nach Hause, oder einer der Schäferhunde fand sie unter einem Gebüsch eingeschlafen und schlug Lärm. »Was in dem Kopfe des Kindes vorgeht,« sagte der Fuhrmann, indem er Jicks mit einer Art abergläubischer Verehrung ansah, »das weiß nur der liebe Gott. Sie hat ihren eigenen Willen und ihre eigene Art und Weise. Sie ist ein Kind und ist auch kein Kind. Mit drei Jahren ist sie ein Räthsel, das niemand von uns lösen kann. Und das ist Alles, was ich von ihr weiß.«

Während der Fuhrmann uns diese Ausschlüsse gab traten der Zimmermann, welcher die Kiste zugenagelt hatte, und sein Sohn zu uns. Sie gingen mit Oscar ins Haus und kamen, die Kiste mit dem kostbaren Metall, welche für einen zu schwer war, gemeinschaftlich tragend, wieder heraus. Nachdem die Kiste auf den Wagen gehoben war, setzten sich auch die beiden Zimmerleute, Vater und Sohn, welche sich zu ihrer kleinen Fahrt nach Brighton der Fuhrgelegenheit bedienen wollten, in den Wagen. Der ältere Zimmermann, ein großer dicker Mann, sagte spaßend zu Oscar: »Die Gegend zwischen hier und Brighton ist sehr einsam, Herr Dubourg. Unserer drei werden nicht zu viel sein, um Ihre kostbare Kiste sicher an die Eisenbahn zu bringen.« Oscar nahm die Sache ernsthaft und fragte: »Giebt es hier in der Gegend Räuber?« »Du lieber Gott,« erwiderte der Fuhrmann, »Räuber würden hier Hungers sterben, wir haben ja nichts, was des Raubens werth wäre.«

Jicks, welche Alles, was vorging, bis auf die kleinsten Einzelheiten mit dem lebhaftesten Interesse beobachtete, nahm es auf sich, den Männern das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Das wunderliche Kind machte gegen seinen Freund, den Fuhrmann gewandt, mit seiner fetten kleinen Hand eine befehlende Geberde und rief so laut es konnte: »Weg!« Der Fuhrmann legte mit einem komischen Ausdruck von Respect seine Hand an den Hut und rief Jicks zu: »Alles in Ordnung,Fräulein, Zeit ist Geld, nicht wahr?« Er knallte mit der Peitsche und der Wagen rollte über den dichten dicken Rasen geräuschlos davon.

Es war Zeit für mich, nach dem Pfarrhause zurückzukehren und die umherstreifende Jicks diesmal in die Arme ihrer Familie zurückzuführen. Ich wandte mich zu Oscar, um ihm Adieu zu sagen.

 

»Ich wollte, ich könnte mit Ihnen gehen ,« sagte Oscar.

»Sie werden so gut wie ich im Pfarrhause aus und eingehen können,« antwortete ich, »sobald man dort erfahren haben wird, was diesen Morgen zwischen Ihnen und mir vorgegangen ist. Sie haben von dem, was ich darüber mittheilen werde, nichts zu fürchten, sondern können nur dadurch gewinnen. Machen Sie sich frei von Hirngespinnsten und argwöhnischen Gedanken, die ihrer unwürdig sind. Morgen werden wir gute Nachbarn, Ende der Woche werden wir gute Freunde sein. Für jetzt sage ich Ihnen Lebewohl!«

Ich kehrte mich um, um Jicks bei der Hand zu nehmen. Aber während ich mit Oscar gesprochen hatte, war das Kind entschlüpft und keine Spur von ihm zu sehen. Noch ehe wir einen Schritt thun konnten, um unsere verlorene kleine Zigeunerin zu suchen, drang ihre Stimme von der hinter uns liegenden Seite des Hauses her in schrillen und zornigen Tönen zu uns. »Geht weg,« hörten wir das Kind ungeduldig rufen, »häßliche Männer, geht weg!«

Wir gingen um die Ecke des Hauses und fanden hier zwei schäbig aussehende Fremde, die sich an die Seitenmauer des Hauses lehnten. Ihre leichenhaften Gesichter, ihr thierischer Ausdruck und ihr von übelriechendem Schmutz starrender Anzug ließen mich in ihnen Exemplare des niedrigsten Lumpengesindels, das die Welt noch hervorgebracht hat, des in London aufwachsenden Lumpengesindels erkennen. Da standen sie lungernd, die Hände in den Taschen und den Rücken an die Mauer gelehnt, wie wenn sie sich vor einem Wirthshause sonnten, und da stand Jicks vor ihnen auf dem Rasen mit weit ausgespreizten Beinen, vertrat trotz ihres jugendlichen Alters das Eigenthumsrecht und hieß die Schufte fortgehen.

»Was macht Ihr hier?« fragte Oscar in scharfem Tone.

Einer der Kerle schien im Begriff, eine impertinente Antwort zu geben; aber der andere jüngere und noch gemeiner aussehende hielt ihn zurück und ergriff zuerst das Wort:

»Wir haben einen langen Marsch gemacht, Herr,« sagte der Kerl in einem unverschämt demüthigen Ton, »und haben uns die Freiheit genommen, uns an Ihrer Mauer auszuruhen und unsere Augen an der Schönheit Ihres jungen Fräuleins hier zu weiden.« Dabei deutete er auf das Kind. Jicks aber ballte die Faust gegen ihn und hieß ihn in noch leidenschaftlicherem Tone als vorher fortgehen.

»Im Dorfe ist ein Wirthshaus,« sagte Oscar, »seid so gut, Euch da auszuruhen, mein Haus ist kein Wirthshaus.«

Der ältere Mann machte einen zweiten Versuch zu reden und setzte mit einem Fluch an; aber der Jüngere hielt ihn zurück.

»Sei still, Jim,« sagte der dem anderen überlegene Lump. »Der Herr empfiehlt das Getränk im Wirthshause. Komm laß uns auf die Gesundheit des Herrn trinken.« Dabei wandte er sich gegen das Kind und zog den Hut mit einer tiefen Verneigung. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, mein Fräulein. Sie gehören gerade zu der Art von Frauenzimmern, die mir gefallen. Bitte, verloben Sie sich nicht, bis ich wiederkomme.«

Sein roher Kamerad fand diesen feinen Scherz so komisch, daß er plötzlich in ein schallendes Gelächter ausbrach. Arm in Arm gingen die beiden Schufte in der Richtung des Dorfes von dannen. Unsere komische kleine Jicks aber wurde ganz plötzlich zu einer tragischen und schrecklichen Gestalt.

Das Kind empfand die Unverschämtheit der beiden Kerle, als ob es ihre Worte wirklich verstanden hätte. Noch nie in meinem Leben habe ich ein so junges Geschöpf in einer so leidenschaftlichen Aufregung gesehen. Sie hob einen Stein auf und warf mit demselben, noch bevor ich ihr Einhalt thun konnte, nach den Kerlen. Sie schrie und stampfte mit den Füßchen auf den Boden, bis sie purpurroth im Gesicht war. Dann warf sie sich hin und wälzte sich wüthend auf dem Rasen umher. Sie beruhigte sich nicht eher, als bis ihr Oscar unüberlegter Weise ein Versprechen gab, an das er noch oft erinnert werden sollte, nämlich nach der Polizei zu schicken und die beiden Männer für ihre Frechheit, über Jicks zu lachen, gehörig durchprügeln zu lassen. Sie stand auf, trocknete sich die Augen mit ihren Handknöcheln und sah Oscar mit einem drohenden Blicke an. »Vergiß nicht,« sagte das merkwürdige Kind, dessen Busens noch unter dem schmutzigen Ueberzug wogte, »die Männer sollen Prügel haben und Jicks soll es sehen.«

Ich sagte Oscar im Augenblick nichts davon, aber ich konnte mich auf dem Heimwege eines geheimen Unbehagens über das Erscheinen der beiden Männer in der Nähe von Browndown nicht erwehren. Es war unmöglich, zu erfahren, wie lange sie sich schon in der Nähe des Hauses versteckt gehalten haben mochten, als das Kind sie entdeckte. Möglicherweise hatten sie durch das offene Fenster gehört, was Oscar in Betreff seiner kostbaren Metallplatten zu mir gesagt hatte und hatten vielleicht gesehen, wie die schwere Kiste auf den Wagen gepackt worden war. Das sichere Eintreffen der Kiste in Brighton machte mir keine Sorge; die drei Männer im Wagen waren Manns genug, um dieselbe zu schützen. Meine Befürchtungen galten der Zukunft.

Oscar lebte ganz allein in einem mehr als eine halbe Meile vom Dorfe entfernten einsamen Hause. Seine Liebhaberei für die Anfertigung getriebener Arbeit von kostbarem Metall konnte eine gefährliche Anziehungskraft üben, sobald sie über die idyllische Einsamkeit von Dimchurch hinaus bekannt wurde. Zu diesem Argwohn gesellte sich noch ein anderer; ich fragte mich, ob die beiden Kerle sich wohl nur zufällig in unserer entlegenen Gegend umhertrieben, oder ob sie wohlüberlegter Weise zu einem bestimmten Zweck nach Browndown gekommen seien.

Von diesen Zweifeln gequält, fragte ich, als ich bei meinem Eintritt in die Pforte zum Pfarrhause mit meiner kleinen Begleiterin zufällig auf die alte Amme Zillah stieß, dieselbe ohne Weiter es: »Kommen hier nach Dimchurch viele Fremde?«

»Fremde?« wiederholte die Alte, »außer Ihnen, Madame, haben, wir hier seit Jahr und Tag keinen Fremden gesehen.«

Ich nahm mir vor, Oscar bei« der ersten passen den Gelegenheit einen warnenden Wink zu geben.

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