Germanias Vermächtnis

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IX

Ob man es nun wollte oder nicht, Quedlinburgs Schönheit beeindruckte einfach jeden. Fast konnte man glauben, man sei in der Zeit zurückgereist. Mit dem historischen Straßenpflaster und den engen Gassen, in denen sich an die eintausenddreihundert Fachwerkhäuser eng aneinander schmiegten, glich der Stadtkern einem riesigen, mittelalterlichen Denkmal.

Der Professor schien wohl, wie man seinen Äußerungen bei ihrer Ankunft entnehmen konnte, sonst sehr kritisch zu den Entscheidungen der UNESCO, dem wissenschaftlichen und kulturellen Arm der Vereinten Nationen, eingestellt zu sein. In diesem konkreten Fall erläuterte er allerdings, dass sie recht daran getan hatten, die Stadt zum Weltkulturerbe zu erklären.

Das Hotel, das Mosche gebucht hatte, trug den Namen „Zum Bär“ und befand sich – entsprechend ihrer vermutlich historischen Mission – seit dem Jahre 1748 direkt am zentralen Marktplatz, schräg gegenüber dem eindrucksvollen Rathaus im Renaissance-Stil und der davor befindlichen Roland-Statue, einem der Wahrzeichen der Stadt. Für Torben war es mehr als ein Symbol, für ihn war es die Bestätigung, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden, denn schon früher hatten ihm die Roland-Figuren, egal ob aus Holz oder Stein, den Weg zu den Geheimnissen des Ordens gewiesen.

Jedem von ihnen stand ein komfortables Einzelzimmer im Landhausstil zu Verfügung, das keine Wünsche offen ließ. Die Betten waren sogar groß genug, notfalls zwei Menschen aufzunehmen. Torben schloss es fürs Erste aber eher aus, dass Julia den Weg zu ihm finden würde. Eine Vermutung, mit der er Recht behalten sollte.

Zumindest aßen die Mitglieder ihrer kleinen Reisegruppe später im hoteleigenen Restaurant gemeinsam zu Abend, um gleich danach wieder auseinander zu gehen.

Von der Reise ermüdet, zogen die Frauen nämlich prompt ihre Betten vor, wobei Anna sich zuvor in einem Schaumbad entspannen wollte, da ihr dieser Luxus auf der Ausgrabungsstätte gefehlt hatte. Die Mossad-Agenten mussten noch in Erfahrung bringen, zu welchen Ergebnissen die Beratungen in Berlin geführt hatten, sowie Tagesreport bei ihren Vorgesetzten ablegen, sodass Torben und der Professor allein zurückblieben und sich die Möglichkeit ergab, dem Weingeist ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Julia legte Torben allerdings im Weggehen zumindest für einen kurzen Moment behutsam ihre Hand auf die Schulter und lächelte ihn an, für ihn ein Zeichen, dass er ihr nicht böse sein sollte, und er nickte ihr daher verständnisvoll zu. Nachdem sie verschwunden war, wandte er sich seinem alten Freund zu und berichtete ihm von den Erlebnissen der vergangenen Wochen in Südostasien. Professor Meinert ließ ihn gewähren und lauschte andächtig. Erst Tage später sollte Torben auffallen, dass es für den Professor eher ungewöhnlich war, andere Menschen längere Zeit ausreden zu lassen, ohne sie zu unterbrechen sowie eigene Bemerkungen und Anekdoten zum Besten zu geben. An diesem Abend bemerkte er es freilich nicht, wohl auch, weil seine Gedanken eigentlich Julia galten.

Von der Schweigsamkeit des Professors, sollte es sie tatsächlich gegeben haben, war am nächsten Morgen nichts mehr zu bemerken.

Als Erster bekam das ein Fremdenführer zu spüren, der sie auf eine Entdeckungstour durch die Stadt begleitete.

Professor Meinert und seine Tochter verfügten zwar über ein profundes geschichtliches Fachwissen, gleichwohl hatte Torbens Vorschlag einer einführenden Stadtführung von allen Zustimmung erfahren. Sich auf der Suche nach einem neuen Rätsel oder alten Geheimnis des Ordens eine erste, grobe Orientierung in Quedlinburg zu verschaffen, konnte zumindest nicht schaden.

Ursprünglich hatten sie bei ihrem Rundgang vor, sich allen bedeutenden und in erster Linie sakralen Baudenkmälern der Stadt zu widmen. Zu den gotischen und neugotischen Kirchen kamen sie aber gar nicht mehr, weil sie die Führung bereits in der romanischen Stiftskirche St. Servatius abbrachen.

St. Servatius wurde – obwohl nie Bischofskirche – auch als der Dom Quedlinburgs bezeichnet und war lediglich zehn Gehminuten von ihrem Hotel entfernt. Er thronte weithin sichtbar fünfundzwanzig Meter über der Stadt auf dem Schlossberg, einem steilen Sandsteinfelsen, wo er gemeinsam mit den Wohngebäuden des ehemaligen Frauenstiftes ein eindrucksvolles Bauensemble bildete. Ihr Führer, ein Mann von Mitte fünfzig mit graumeliertem, schon lichtem Haar, Nickelbrille und nach oben gerichteter Nase, was ihm – wie Torben fand – einen leicht arroganten Ausdruck gab, hatte sich ihnen als Herr Semmler vorgestellt und mit stolz geschwellter Brust erklärt, ein Kind Quedlinburgs zu sein und die Stadt noch nie länger als drei Monate verlassen zu haben.

Anerkennend musste Torben zugeben, dass er seine Sache recht gut machte. Semmler war keine dieser Aushilfen, die aus Geldmangel oder Selbstüberschätzung jeden nur denkbaren Job annahmen. Er liebte seine Stadt, kannte jede noch so verwinkelte Ecke und war in der Geschichte des Ortes ziemlich bewandert.

Auf dem Burgberg, im Schatten der beiden riesigen quadratischen Türme der Kirche erzählte ihnen Semmler, dass Quedlinburg im 8. Jahrhundert Sitz der Liudolfinger, auch Ottonen genannt, einem sächsischen Adelsgeschlecht war, aus dem unter anderem König Heinrich der Erste hervorging. Dieser war es auch, der die Stadt Anfang des 10. Jahrhunderts zur einflussreichsten Pfalz des Reiches ausbaute, nicht zuletzt, weil er sie regelmäßig zum bedeutenden Osterfest besuchte.

Torben und seine Freunde erfuhren, dass der König nach seinem Tod im Jahre 936 sogar hier beigesetzt wurde. Zu seinen Ehren gründeten seine Witwe Mathilde und sein Sohn, der später zum Kaiser gekrönte Otto der Große, an der Grabstätte noch im gleichen Jahr das Damenstift St. Servatius.

Aus seinen früheren Abenteuern wusste Torben, dass Mathilde nicht nur Nachkommin eines alten germanischen Fürstengeschlechts, sondern wahrscheinlich auch Angehörige des ihnen feindlich gesinnten Ordens war, und dass sie Heinrich dem Ersten bewusst zugespielt wurde, um ihn mit der jugendlichen Unschuld eines dreizehnjährigen Mädchens zu verführen, ein Vorhaben, was letztendlich gelang. Der wesentlich ältere König ließ die Ehe zu seiner ersten Ehefrau annullieren und wandte sich Mathilde zu.

Semmler sprach derweil weiter und berichtete, dass es in den folgenden Jahrhunderten Brauch wurde, dass die ottonischen Herrscher das Osterfest in St. Servatius begingen und dort ihrer Vorfahren gedachten. Die eigentliche Stiftskirche entstand aus der Burgkapelle der Königspfalz. Nach einer Bauzeit von vierundzwanzig Jahren wurde dieses Kleinod – wie ihr Führer sich ausdrückte – hochromanischer Baukunst 1021 fertiggestellt und im Beisein des Urenkels Heinrich des Ersten, des Kaisers Heinrich des Zweiten, geweiht.

Spätestens ab hier wurde es für Semmler zunehmend anstrengend, wenn nicht gar unangenehm, denn die Einwürfe des Professors und seiner teilweise noch besser in dieser Zeitepoche bewanderten Tochter Annabel ließen ihn schnell die Grenzen seines Wissens erkennen und so führte er seine Kunden zügig in das Innere der Kirche, um weitere Nachfragen zu umgehen.

Torben hatte sich indes, schon als sie vor dem Sakralbau standen, vielmehr für die Architektur der Kirche als für die Ausführungen des Guide interessiert und ihre schlichte und doch erhabene Form bestaunt. Jetzt im Mittelschiff stehend, erkannte er, dass zu beiden Seiten jeweils noch ein Seitenschiff angrenzte. Als trennende Stütze folgte jeweils auf zwei Säulen immer ein Pfeiler. Torben hörte Semmler gerade noch so viel zu, dass er erfuhr, dass diese regelmäßige Abfolge niedersächsischer Stützenwechsel genannt werde.

Da der Professor ausnahmsweise bei diesen Ausführungen nicht protestierte, fasste ihr Führer neuen Mut und kam noch einmal auf die Geschichte des Bauwerks zurück. Zwar konnte er bis zu der Ära der französischen Besatzung Quedlinburgs überzeugen, die exakte Geschichte St. Servatius’ im Dritten Reich oder genauer die diesbezüglichen Fragen des Professors überforderten ihn dann aber doch, wie sein mittlerweile hochrotes Gesicht verriet.

Daraufhin erläuterte Professor Meinert ihrer Gruppe: „Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und in den letzten Kriegsjahren Reichsinnenminister, der sich als Wiedergeburt von Heinrich dem Ersten betrachtete, erkannte sehr schnell, wie sehr er die Figur des deutschen Königs im politischen Alltag des Dritten Reichs vermarkten konnte. Heinrich der Erste hatte nicht nur das fränkische Reich geeint und die Ungarn zurückgeschlagen, er hatte auch mit der Osterweiterung seines Reiches begonnen, eine Expansion, die den Nazis sehr zupasskam.

1938 funktionierte Himmler nicht nur die Stiftskirche kurzerhand zur „Weihestätte“ der SS um, sondern machte bereits drei Jahre zuvor die Stadt Quedlinburg anlässlich des tausendsten Todestages des großen deutschen Königs zur alleinigen Trägerin der Feierlichkeiten. Das ihm unterstellte Ahnenerbe beauftragte er zeitgleich damit, Nachforschungen zum Leben Heinrich des Ersten anzustellen und Grabungen mit dem Ziel aufzunehmen, die verschollenen Gebeine des Königs wieder aufzufinden. Dies gelang angeblich tatsächlich und so ließ er im Jahre 1937 diverse Knochenreste, die am Schlossberg gefunden wurden, neben Heinrichs Frau Mathilde beisetzen.“

Plötzlich lächelte Semmler wissend und sagte mit offenbar tiefer Genugtuung betont langsam zum Professor: „Was Sie da erzählen, ist falsch. So hat es sich nicht zugetragen.“

Professor Meinert zögerte: „Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht?“ Seine Verblüffung war nicht gespielt.

„Was Sie über Himmler erzählen, stimmt nicht.“ Semmler blickte in die Runde und wurde konkreter: „Na ja, die meisten Sachen sind schon richtig. Die Begebenheiten im Zusammenhang mit St. Servatius als nationalsozialistischer Weihestätte – von denen Sie sprachen – sind hinreichend belegbar, da haben Sie Recht. Altar, Kanzel und Gestühl ließ man beispielsweise aus der Kirche entfernen und den gotischen Chor“, er zeigte hinter sich, „mauerte man einfach zu. – Soweit scheint alles klar zu sein. Aber Heinrich den Ersten hat man höchstwahrscheinlich nie hier begraben!“

 

„Woher wollen Sie das so genau wissen?“, der Professor war skeptisch. „Die Unterlagen, die ich kenne, werfen diesbezüglich lediglich einige Fragen auf.“

„Vielleicht haben Sie die falschen Dokumente eingesehen. Denn nur von ‚Fragen aufwerfen‘ kann keine Rede mehr sein.“

„Hören Sie zu, guter Mann“, Professor Meinert war trotz der Kritik, die an ihm geübt wurde, erstaunlich verträglich, „wenn Sie etwas wissen, erzählen Sie es uns. Ich bin bei Weitem kein Laie, aber wenn ich in meinem Alter noch etwas lernen kann, bin ich immer darüber erfreut.“

Semmler bemerkte anscheinend, dass er nicht näher an eine Entschuldigung des Professors für das permanente Unterbrechen seiner Führung herankam und fing daher an, zu berichten: „Es ist offensichtlich, dass vor allem Sie beide“, er blickte Professor Meinert und seine Tochter an, „ausgesprochen gut in geschichtlichen Fragen bewandert sind. Ich für meinen Teil bin gelernter Stellmacher und habe erst vor wenigen Jahren mein Hobby zum Beruf gemacht. Mein Wissen ziehe ich also – gerade für den neueren Teil der deutschen Geschichte – aus eigenem Erleben oder den Gesprächen mit Zeitzeugen. Wussten Sie zum Beispiel, dass in Quedlinburg im Verhältnis zur Einwohnerzahl nirgendwo sonst in der DDR in der Wendezeit des Jahres 1989 mehr Menschen auf die Straße gegangen sind und für ihre Rechte demonstriert haben? – Nein? Interessant, nicht wahr? Ich sollte aber nicht abschweifen, zurück zu Heinrich dem Ersten.

Natürlich hat Himmler das angebliche Auffinden der verlorenen sterblichen Überreste des deutschen Königs propagandistisch verwertet. Warum auch nicht, allein schon der tausendste Todestag Heinrich des Ersten war quasi ein Glücksfall für das „Tausendjährige Reich“. Man widmete dem König prompt Sonderhefte, Postkarten und eine SS-Gedenkplakette. Die Entdeckung seines Leichnams machte die Geschichte quasi perfekt, zu perfekt, wie ich Ihnen jetzt berichten werde.“

Selbst die Mossad-Agenten hörten Semmler nun aufmerksam zu und Torben bemerkte, dass Julia regelrecht an seinen Lippen hing. „Die Nazis waren nicht die Ersten, die nach den sterblichen Überresten gegraben haben“, fuhr Semmler in ihrer Mitte stehend fort. „Bereits bei einer Grabung im Jahre 1756 hat man in der Ruhestätte von Königin Mathilde überzählige Knochen gefunden. Schon damals wurde vermutet, dass es die ihres Gemahls sein könnten. Himmler ließ den Sarg 1936 daher erneut öffnen und eben diese Gebeine anthropologisch untersuchen. Das Ergebnis fiel jedoch nicht wie gewünscht aus, und so wurden sie fortan lediglich als Reliquienknochen bezeichnet.

Die Suche ging also weiter und die vom Reichsinnenminister beauftragten Mitarbeiter der Abteilung Vorgeschichte standen von Anfang an bei ihrer Arbeit unter enormem Erfolgsdruck. Ein Scheitern wäre von Himmler sicherlich nicht ohne Konsequenzen für sie und ihre Karrieren, schlimmstenfalls sogar für ihre Familien hingenommen worden. Glücklicherweise und zu ihrem eigenen Erstaunen konnten sie aber alsbald verkünden, bei Grabungen im Untergrund der bislang leeren Grabstätte des Königs ein weiteres Skelett und verschiedene Grabbeigaben gefunden zu haben, die die berechtigte Vermutung zuließen, dass es Heinrich der Erste sein könnte.“

Der Professor unterbrach Semmler daraufhin: „Das sage ich doch die ganze Zeit! – Bislang erzählen Sie nichts Neues! – Ich weiß, dass jeder Wissenschaftler, der das Ergebnis damals anzweifelte und so die Nazi-Propaganda störte, mundtot gemacht wurde. Ich will Ihnen aber zu Gute halten, dass nach dem Krieg ein DDR-Forscher herausbekommen haben will, dass die Knochen viel zu jung sein sollen. Man müsste sie heute erneut und gründlich untersuchen. Vielleicht meinten Sie das vorhin mit Ihrer Bemerkung.“ Er winkte gönnerhaft ab.

Derweil schien Annabells weibliche Intuition anzuschlagen und sie sah Semmler durchdringend an. Irgendetwas schien sie misstrauisch zu machen und sie sagte: „Moment, George“, sie sprach ihren Vater bewusst mit seinem Vornamen an, um sich seiner Aufmerksamkeit sicher zu sein, „nicht so schnell! Unser Stadtführer weiß noch mehr über die Sache. Stimmt’s?“

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht nickte Semmler kurz und erklärte in Richtung des Professors: „Ihre Tochter hört genauer hin als Sie.“ Er räusperte sich kurz. „Normalerweise erzähle ich den Touristen die offizielle Version, weil alles andere zu phantastisch klingt. Für Sie mache ich aber heute eine Ausnahme. – Sie hatten Recht mit den Untersuchungen zu DDR-Zeiten. Genaugenommen war es bereits Ende der Fünfzigerjahre! Und Sie werden nie glauben, zu welchen Ergebnissen diverse anthropologische Untersuchungen und Nachforschungen in dutzenden Heimatarchiven und Kirchenbüchern kamen.“

Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er leicht theatralisch fortsetzte: „Die Gebeine, die Himmler unter großen Pomp beisetzen ließ, sind nicht nur mehrere hundert Jahre zu jung, sie stammen auch von einer … Frau.“

Torben spürte plötzlich Julias Hand auf seinem Arm.

„Und es kommt noch besser“, Semmler genoss es, endlich die ihm zustehende Wertschätzung zu erfahren, „es sind die Gebeine einer Hexe!“

Julias Händedruck wurde stärker und Torbens Blick traf sich mit dem des Professors. Beim Nicken Professor Meinerts wurde ihm klar, dass vor ihnen die Spur lag, die zu finden sie gehofft hatten. Er versuchte daher schnell, Semmler noch weitere Informationen zu entlocken: „Woher wissen Sie das mit der Hexe?“

Ihr Stadtführer zuckte mit den Schultern „Ein paar alte Aufsätze verschiedener Wissenschaftler, ein kaum bekanntes Buch eines regionalen Heimatforschers aus dem 18. Jahrhundert und diverse vergilbte Urkunden und Aufzeichnungen in den Stadtarchiven. Wenn man die Zeit hätte, alle Quellen ausführlich zu prüfen, könnte man es sicherlich mit ausreichenden Beweisen belegen. So aber müssen Sie mir im Moment in dieser Hinsicht vertrauen.“

„Aber Sie wissen, wer die Frau war?“, fragte Annabell trotzdem nach.

„Bei ihrem Namen müsste ich nochmal nachschauen. Der ist mir entfallen. Aber es war auf jeden Fall eine neunzehnjährige Magd, die unter dem Einfluss der Folter gestanden hat, eine Priesterin der schwarzen Magie zu sein, und dafür erdrosselt wurde. Weil sie vor ihrer Hinrichtung glaubhaft bereute und ihren Irrglauben widerrief, machte man sozusagen eine Ausnahme und bestattete sie trotz ihrer Verfehlungen auf heiligem Boden, allerdings möglichst nah an den Reliquien der Kirche, die eine göttliche und reinigende Macht ausstrahlen sollten. – Wahrscheinlich wurden ihre Gebeine nur deshalb zufällig bei den Ausgrabungen gefunden.

Himmler pochte derweil vehement auf einen Erfolg. Was also lag näher, als ihm ein gut erhaltenes Skelett als deutschen König zu präsentieren?“

Semmler schien für den Professor plötzlich nicht mehr interessant.

Er wandte sich Torben zu und sagte: „Es passt alles zusammen. Können Sie sich an Nordhausen erinnern, wo uns ebenfalls eine Rolandsstatue den Weg wies? Auch dort hatte Mathilde ein Stift gegründet, als ihr Heinrich der Erste die Stadt schenkte. Jetzt ist es also Quedlinburg in dem aller Voraussicht nach die Hexen im Geheimen die Geschicke der Stadt geführt haben.“

Semmler, verblüfft, dass er schon wieder nicht mehr beachtet wurde, räusperte sich hörbar und meldete sich nochmals zu Wort: „Was meinen Sie mit ‚Hexen‘ und ‚die Geschicke der Stadt führen‘? Dass die Reste einer Hexe in Heinrichs Grab liegen, heißt doch nicht, dass sie die Stadt regiert hat. Man hat die Gebeine lediglich verwechselt. Eigentlich müsste man jetzt weiter nach dem Grab des deutschen Königs suchen.“

„Wie Sie meinen.“ Der Professor wirkte nun doch leicht überheblich. Der Stadtführer war ihm ab jetzt offensichtlich egal.

Torben versuchte zu vermitteln und gleichzeitig vom Thema abzulenken: „Herr Semmler, manchmal hat Professor Meinert eben verrückte Ideen.“ Er lachte gekünstelt. „Was mich vielmehr interessieren würde – wo Sie doch so gut in der Geschichte Quedlinburgs bewandert sind – fällt Ihnen etwas Besonderes im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dieser Kirche hier oder der Stadt ein? Irgendetwas, was vielleicht – sagen wir einmal – ungewöhnlich ist?“

„Ich weiß nicht.“ Der Stadtführer war anscheinend für Torbens Schmeichelei anfällig und überlegte. „Quedlinburg wurde fast kampflos von den US-Amerikanern eingenommen. – Gott sei Dank muss man an dieser Stelle sagen, nur dadurch wurde die Altstadt, die Sie heute noch bewundern können, nicht zerstört.“

„Wieso kampflos?“ Levitt schaltete sich ins Gespräch ein. Alles Militärische schien ihn besonders zu interessieren.

„Ganz einfach, Quedlinburg war quasi eine Lazarettstadt. In dutzenden Villen, Sporthallen und Kirchen wurden in Notlazaretten seit 1943 Verwundete versorgt. Zeitweilig waren es an die achttausend Personen. Schon mit Hinblick auf das Schicksal der Verletzten war ein verbissener Verteidigungskampf nicht möglich.“

„Sie sprechen von Tausenden Menschen. Für so viele Patienten war doch auch zusätzliches Pflegepersonal notwendig, nicht wahr?“, fragte Julia.

„Natürlich“, antwortete Semmler, „die Ärzte und vor allem Krankenschwestern kamen aus ganz Deutschland.“

Torben blickte wieder zum Professor und sagte nur „Bad Mergentheim“. Sein Freund nickte.

„Bitte, was meinten Sie?“ Semmler schaute Torben an.

„Ach, nichts Besonderes. – Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Reden Sie ruhig weiter.“

Der Stadtführer versuchte, den letzten Gedanken wieder aufzunehmen und erzählte: „Das Aufregendste am Kriegsende war der Verlust unseres Domschatzes und Jahrzehnte später seine glückliche Rückkehr!“

„Ich kenne die Geschichte. Sie ging schon vor zwanzig Jahren durch die Medien und wird regelmäßig aufgewärmt. Jeder Archäologe träumt von solch einem Fund“, bemerkte Annabell.

Leicht flapsig erwiderte Torben darauf: „Okay, kann mich trotzdem mal jemand aufklären?“

„St. Servatius verfügt über einen der bekanntesten und kostbarsten Kirchenschätze des Mittelalters, Reliquien gefertigt aus Gold, Edelsteinen und Elfenbein, Geschenke an das mächtige Damenstift“, erklärte Semmler und behielt bei seinen Ausführungen den Professor im Auge. „Bereits 1943 hatte man den Domschatz in einen unterirdischen Stollen unter der Altenburg ausgelagert, nicht sehr weit von hier entfernt. Als die US-Amerikaner die Höhle fanden, entwendete einer ihrer Soldaten zwölf der wichtigsten Stücke und schickte sie seiner Familie per Feldpost nach Hause. Nach dem Tod des GI versuchten seine Erben Anfang der Neunzigerjahre, die Stücke auf dem internationalen Kunstmarkt zu verkaufen. Nachdem deutsche Millionen flossen und nach einem langen juristischen Tauziehen kehrte der Schatz oder zumindest der größte Teil davon, zwei Stücke blieben nämlich unauffindbar, 1993 auf seinen angestammten Platz zurück. Sie können ihn gerne in der Domschatzkammer wenige Meter von hier bewundern.“ Er streckte seinen rechten Arm nach hinten aus und wies damit in Richtung einer Ausstellung.

„Eine wirklich interessante Geschichte.“ Torbens Bemerkung war ernst gemeint. „Aber Sie erzählen sie doch sicherlich nicht ohne Grund. Ich hatte nach etwas Ungewöhnlichem gefragt, nach etwas, was die wenigsten Menschen wissen können! Wieso gerade diese Geschichte, wenn alle Medien bereits darüber berichtet haben?“

Sein Nachbohren war erfolgreich, denn Semmler nickte geheimnisvoll und sagte: „Dass der Schatz wieder auftauchte, war eine Sensation, gewiss. Das Ungewöhnliche ist jedoch, dass gerade zwei Gegenstände verschwunden blieben, von denen ich glaube, dass sie eine besondere Bedeutung haben müssen.“

„Ich versteh nicht recht, was Sie uns damit sagen wollen?“ Professor Meinert war skeptisch.

Ihr Führer jedoch blieb rätselhaft und erwiderte: „Ich kenne jemanden, dem es eher zusteht, diese Geschichte zu Ende zu erzählen. Zwar könnte ich es auch, weil ich sie schon etliche Male gehört habe, noch kann sie es aber selbst.“

„Sie?“, fragte Julia.

„Ja, meine Tante. Ihr Name ist Frieda Kern. Ich kann Sie miteinander bekannt machen, wenn Sie möchten. Allerdings“, Semmler blickte reihum, „sollten wir Ihre Gruppe wohl etwas verkleinern. Ich will nicht, dass sie sich zu sehr aufregt.“

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