Germanias Vermächtnis

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Margot nickte.

„Dann ist es vorbei!“, resümierte er erleichtert, wenn auch etwas ungläubig.

Dieses Mal schüttelte die Meisterin allerdings den Kopf und sagte: „Ich bedauere, ganz das Gegenteil scheint der Fall zu sein.“

„Wie meinen Sie das? Rema ist tot, alle anderen Mitglieder des Ordens wollten die Gewalteskalation nicht! Das haben Sie doch eben gesagt!“

„Ich sprach nur von den Ältesten. Wobei das Wort Älteste nur die Stellung, nicht das Lebensalter meint. Aber ja, es stimmt, wir lehnen gewaltsame Lösungen grundsätzlich ab, sehen sie meist nur als letzten Ausweg. Ich habe Ihnen aber in Bad Mergentheim auch erzählt, dass etwas in Gang gesetzt wurde, dass niemand mehr aufhalten oder verhindern kann, eine Entwicklung, die durch Remas Tod nur noch beschleunigt wurde!“

„Wie meinen Sie das?“ Torbens Beunruhigung wuchs wieder.

„Remas Nachfolge ist bereits geregelt. Sie hatte eine Tochter, die seit Jahren auf diese Rolle vorbereitet wurde. Ihr Name ist Riva. Sie hat jetzt die Führung des Ordens übernommen. Und auch sie ist von Rache beseelt!“

Torbens Magen verkrampfte sich. Hinter ihm klingelte ein Handy. Es gehörte Tim, der offenbar einen Anruf bekam. Torben konnte dem aber im Moment keine weitere Beachtung schenken und hakte stattdessen bei der Meisterin nach: „Also rüstet Riva, das war doch ihr Name, jetzt zu einer Art Gegenschlag? Will sie meinen Tod? Wird sie auch Julia und den Professor jagen oder die Familien unserer Freunde?“

Margot schüttelte energisch den Kopf: „Nichts dergleichen! Sie haben es immer noch nicht verstanden! Den Orden zeichnen zwei Prinzipien aus. Das erste besteht darin, unauffällig im Hintergrund zu bleiben, im Verborgenen zu agieren. Und das zweite ist, alles für eine Herrschaftsform, ein staatliches Machtgefüge, zu tun, das unseren Interessen dient und sie gleichzeitig schützt. Bei beiden Zielen spielen Sie und Ihre Freunde keine Rolle!“

„Soll das heißen, ich bin Ihnen egal?“ Torben war verwirrt.

„So würde ich das nicht ausdrücken. Riva werden Sie nicht gleichgültig sein. Aber sie stellt Sie vorerst hinter andere, wichtigere Entwicklungen zurück.“

„Oh, wie großzügig!“, bemerkte Torben sarkastisch und fragte Margot: „Und was verdrängt den Wunsch, mich tot zu sehen?“

„Ganz einfach“, antwortete die Meisterin und taxierte fest seinen Blick, „die Aussicht auf ein neuerliches Erstarken unserer Macht, in einer Form, die keines von den jetzt lebenden Mitgliedern je gekannt hat.“

„Was soll das nun wieder heißen?“, tadelte Torben. „Sie sprechen in Rätseln!“

Margot zeigte ein geheimnisvolles Lächeln und antwortete: „Ich rede von der Einleitung eines politischen Umsturzes! – Da wir nach der ganzen Aufregung um Ihre Person und den Ereignissen im Leinawald in Thüringen vermutlich kein wirkliches Geheimnis mehr sind, ist es für uns an der Zeit, gemeinsam mit unseren Verbündeten für unsere Sache aktiv zu werden!“

„Reden Sie von einer Revolution? In Deutschland?“ Torben zweifelte.

„Ich rede von einer Verschiebung der Macht!“, antwortete Margot und ergänzte: „Wie Sie wissen, haben wir germanische Wurzeln. Deutschland gilt dadurch natürlich unser besonderes Interesse. Es geht aber über die derzeitigen exakten Staatsgrenzen hinaus.“

„Langsam, langsam! Bevor wir zu den Staatsgrenzen kommen, bleiben wir bitte zuerst bei den Verbündeten! Wer sollen die sein?“ „Ganz einfach, Menschen und Organisationen, die ebenso wie wir im Verborgenen ihre Wunden geleckt haben und langsam wieder erstarkt sind!

Eine dieser Gruppen haben wir ganz besonders an uns gebunden, denn sie wird mittlerweile von Rivas Zwillingsbruder, Ruben, geführt! – Sie haben richtig gehört, Rema hatte zwei Kinder, Zwillinge! Beide sind die direkten Nachkommen Adolf Hitlers! Sie sind genetisch nahezu identisch, gezeugt von einem extra dafür ausgewählten deutschen Mann und geboren von einer germanischen Priesterin! Sagt Ihnen das Lebensborn-Projekt etwas?“

Torben schüttelte kurz den Kopf.

„Nein? – Egal!“, Margot winkte ab. „Was würden Sie sagen, wenn diese Kinder vielleicht kurz davor stehen, wieder die Macht in Deutschland zu übernehmen?“

„Dann würde ich sagen, wir sollten schnellstens aus der Sonne gehen! Ich glaube, Sie halluzinieren von imperialen Großreichsphantasien! Und Ihr gesamter Orden anscheinend auch!“

Als Antwort auf seine Bemerkung schenkte ihm die Meisterin nur ein mildes Lächeln. Plötzlich verengten sich ihre Augen, und sie starrte irgendjemanden oder irgendetwas über Torben hinweg an. Ihr Mund öffnete sich und sie rief: „Tim, nein …“

Torben spürte den Luftzug des Projektils im gleichen Moment als er den Knall des Schusses hörte. Die Kugel schlug in Margots Oberkörper ein und riss sie abrupt von ihm weg. Als er sah, wie sie leblos zu Boden stürzte und dabei die Dahlien unter sich begrub, drehte er sich wie in Trance zu dem Schützen um. Er konnte erkennen, wie Tim die Pistole in seine Richtung schwenkte. Gelähmt vor Angst und unfähig zu reagieren, sah Torben sein Leben an seinem inneren Auge in einem Sekundenbruchteil buchstäblich vorbeiziehen: eine lachende, vielleicht achtzehnjährige Julia, seine Mutter beim Kuchenbacken, ein Schulausflug in einen Tierpark, Camping mit seinen Eltern, Freddy, sein kleiner, schwarzer Kater, den er als Siebenjähriger sein Eigen nannte, und einige Momentaufnahmen mehr.

Zu seiner großen Überraschung brach aber nicht er getroffen zusammen, sondern Tim wurde, bevor er die Waffe erneut abfeuern konnte, regelrecht in die Ginsterhecke am Wegesrand geschleudert. Plötzlich sah Torben Levitt und Mosche vor sich und begriff, dass sie ihrer kleinen Gruppe nicht nur unentdeckt gefolgt waren, sie hatten zielgerichtet das Feuer erwidert und dadurch sein Leben erneut gerettet.

Noch immer war er aber wie erstarrt und hatte den Eindruck, dass er das ganze Geschehen als Zuschauer und körperloses Wesen außerhalb seines Leibes verfolgte. Er sah zu, wie Mosche angerannt kam, sofort Tims Knöchel packte und den Körper aus der Hecke zog, um kurz darauf in Richtung seines Kollegen den Kopf zu schütteln. Er sah auch, wie Levitt danach seine Waffe wegsteckte, die er bis dahin noch immer im Anschlag gehabt hatte, und auf Torben zuging. Er baute sich vor ihm auf, fasste seine Schultern und fragte betont ruhig: „Torben, hören Sie mich? Sind Sie verletzt?“

Das sorgte endlich dafür, dass der sich aus seiner Starre löste und den Kopf schüttelte. „Nein … Ich glaube nicht …“

„Gut!“ Levitts Stimme verlor ihren angenehmen Klang. Er ließ ihn los. „Und genau für diese Fälle verlange ich von Ihnen, dass Sie eine Schutzweste tragen! Haben Sie das endlich begriffen? Das nächste Mal tun Sie das, was ich Ihnen sage! Verstanden?“

Torben stieß zwar ein kehliges „Ja, ja“ aus, beachtete aber den Mossad-Agenten nicht weiter, sondern wandte sich Margot zu. Mosche kniete schon bei ihr und öffnete ihr Blouson. Ein sich schnell auf ihrem Bauch ausbreitender dunkelroter Fleck und ihre weiße Gesichtsfarbe ließen nichts Gutes verheißen. Als Torben ihre Hand ergriff, merkte er förmlich, wie das Leben langsam aus ihrem Körper entwich. Suchend wandte er sich an Mosche, aber dieser schüttelte nur mitfühlend mit dem Kopf. – Oh Gott, wie er dieses Kopfschütteln hasste! – Hinter sich hörte er, wie Levitt mittlerweile telefonierte und jemandem am anderen Ende der Leitung die Art der Verletzung beschrieb. Torben ahnte jedoch insgeheim längst, dass der Rettungsdienst zu spät eintreffen würde.

Als er Margot genauer ansah, gewann er den Eindruck, als lächelte sie. Es war verrückt, aber fast schien es, als wäre sie zufrieden. Ihre Lippen formten offenbar Wörter und er rückte näher an sie heran, um sie zu hören. Als er sie immer noch nicht verstehen konnte, beugte er seinen Kopf soweit über ihr Gesicht, dass sein linkes Ohr schon fast ihren Mund berührte. Erst jetzt vernahm er ihre leise, zerbrechliche Stimme. „ … alles gut mein Junge … bin bei Hilde … bester Ort zu … will auch hier …“

Das Sprechen zog ihr noch schneller die Kraft aus dem Körper. Torben gestand sich ein, dass dies wahrscheinlich die letzten Augenblicke in Margots Leben waren, und ob nun Angehörige des Ordens oder nicht, sie sollte friedvoll einschlafen, einen würdigen Tod finden. Er legte ihr die Hand auf die Brust und hielt sie gleichzeitig fest. „Alles ist gut! Ich werde dafür sorgen, dass Sie auch hier beerdigt werden, sodass Sie neben Hilde liegen. Sie werden für immer zusammen sein.“

Als Margot das hörte, schloss sie kurz ihre Augen und deutete ein Nicken an, als Zeichen, dass sie verstand.

Ihr Gesicht wirkte zunehmend fahler, aber plötzlich bewegte sie erneut ihre Lippen. Torben versuchte abermals, die Wörter zu verstehen, aber es waren nur noch wenige Silben, die sie ihm als Vermächtnis hinterließ, bevor sie in das nächste Leben hinüberglitt.

IV

„Was hat Sie noch zu dir gesagt?“ Julia sprach in normaler Lautstärke mit Torben, aber im Vergleich zu der brüchigen Stimme der sterbenden Margot wirkte sie unglaublich laut.

Levitt hatte der Polizei eine abgewandelte Version des Geschehens erzählt und Torbens Anwesenheit gar nicht erwähnt. Demnach hatten die beiden Mossad-Agenten, als sie die Gräber einiger jüdischer Verwandter besuchten, zufällig den Mord an Margot beobachtet und sich entschlossen, den Täter zu stellen, wobei dieser aber aufgrund seiner Gegenwehr von ihnen erschossen wurde. Der Mitschnitt des Notrufs und die vagen Aussagen einiger anderer Besucher des Friedhofs, denen Torben nicht weiter aufgefallen war, unterstützten diese Darstellung. Ihre diplomatische Immunität sollte – falls alles nach Plan verlief – im Weiteren dafür sorgen, dass die Agenten nicht festgehalten würden.

 

Torben und Julia hatten indessen an der Haltestelle in der Nähe des Friedhofs den erstbesten Linienbus bestiegen, mit dem sie einen Taxistand erreichten. Mit einem der dort wartenden Wagen kehrten sie in das Hamburger Hotel zurück, wo sie jetzt dem Eintreffen ihrer Begleiter entgegensahen. Noch während der Fahrt hatte Torben Julia in groben Zügen über den Inhalt seines Gesprächs mit Margot in Kenntnis gesetzt, ihre letzten Worte aber bislang für sich behalten.

„Torben, hörst du mir zu? Was hat sie dir noch gesagt?“

„Entschuldige“, Torben ließ sich auf den Rand des durchgelegenen Bettes sinken und blickte zu Julia auf, „aber es kam gerade alles wieder hoch, der Schusswechsel, die beiden Leichen … Ich dachte wirklich für einen Moment, dass ich auch sterbe … Es war, als würde ich es gerade nochmals erleben.“

Julia streichelte längst seine Haare und ließ sich vor ihm auf die Knie sinken. Ihre Hände umfassten seinen Nacken und zogen seinen Kopf zu ihrem. Kurz drauf spürte er ihre weichen und warmen Lippen auf den seinen. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, sondern nur eine kurze, zärtliche Berührung, als wollte sie ihm dadurch Kraft und inneren Frieden schenken. Schon entfernte sich Julia wieder etwas von ihm und strich sich leicht verlegen eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, hinter das rechte Ohr und sagte: „Es tut mir leid! Ich bin an allem schuld!“

Er hielt sie aber noch immer umschlungen und spürte ihren gleichmäßigen Herzschlag.

„Das muss es nicht, so schlecht küsst du nun auch wieder nicht!“ Torben versuchte es mit seiner alten Schlagfertigkeit, obwohl die Wärme und die Geborgenheit, die ihm der Kuss gegeben hatte, für einen Moment den Schmerz in seiner Brust betäubt hatten.

Leicht verblüfft von der Antwort löste sich Julia völlig aus seinen Armen und boxte ihn leicht in die Seite. Sie setzte sich wieder neben ihn, bevor sie antwortete: „Idiot, hör auf, den starken Mann zu spielen! Ich kenne dich gut genug, dass ich merke, wenn du mit deinen Witzen nur deine wahren Gefühle überspielen willst.“

Torben ließ sich mit der Antwort einen Moment Zeit. „Es liegt nicht nur daran, dass wir das alles noch einmal durchleben müssen, sondern, dass wir erneut die Aufmerksamkeit des Ordens auf uns gezogen haben und nun wieder im Fokus stehen. Gut, wir haben dieses Mal mit dem Mossad einen starken Verbündeten an unserer Seite und können auch auf die Hilfe der deutschen Sicherheitsbehörden hoffen, aber der große Vorteil unserer Gegner besteht darin, dass wir sie nicht genau kennen! Sie sind und bleiben vage Schatten.“

„Dann müssen wir sie ins Licht ziehen!“, bemerkte Julia eigensinnig.

Trotz eines angedeuteten Nickens zweifelte Torben: „Das ist weder einfach noch ungefährlich. Ich habe dich gerade erst wiedergefunden. Ich mag gar nicht daran denken, was mit mir geschieht, falls dir etwas passiert. Die letzten Wochen stand ich bereits am Abgrund und du hast genauso nach Michaels Tod gelitten!“

„Hör auf!“ Ihre Hand suchte die seine. „Mach dir keine Gedanken! Alles wird gut! Diesmal bestimmen wir Tempo und Richtung unserer nächsten Schritte!“

Er küsste kurz ihre Hand und antwortete: „Ich hoffe, du hast Recht! Margot hat tatsächlich noch etwas gesagt. Es waren nur wenige Worte. Wenn ich sie richtig verstanden habe, lauteten sie: ‚Such in Quedlinburg‘.“

„Kannst du damit etwas anfangen?“, fragte Julia.

Er überlegte. „Ein Hinweis, ganz klar … Quedlinburg ist eine Stadt im Harz. Ich soll dort offenbar mit irgendwelchen Nachforschungen beginnen. Aber wo? – Irgendwelche Ideen?“

„Nein, da fragst du eindeutig die Falsche. Der Professor und du seid die Experten. Ich bin eigentlich nur für die Fotos zuständig. Allerdings dachte ich bislang, der Orden hätte nach dem Krieg nur in Westdeutschland weiter existiert und dort seine Macht gefestigt. Quedlinburg lag in der DDR. Meinst du, dort befindet sich – wie in Altenburg – ein weiteres, unbekanntes Versteck oder ein verschollener Bunker mit einem Geheimnis des Ordens, das es zu lüften gilt?“

Torben streckte sich etwas. „Ich weiß nicht, was es sein könnte, aber es ist offensichtlich so wichtig, dass es Margot mit ihrem letzten Atemzug erwähnen musste. Aber ich kann mir vorstellen, wer uns bei der Beantwortung unserer Fragen behilflich sein kann.“

„Der Professor?“, mutmaßte Julia.

„Richtig, der Professor! Aber um ihn zu besuchen, müssen wir vorher auf unsere israelischen Freunde warten.“

V

Die Nacht hätte für Torben nicht schrecklicher sein können. Nicht weil er allein schlief, da Julia das so wollte, sondern er hatte einfach keine Ruhe gefunden. Alle waren sie ihm wieder erschienen: Michael, wie er ihn mit einer Pistole bedrohte und dann selbst starb; Margot, in ihrem Blut auf dem Friedhof; seine Mutter, wie sie ihn auf dem Totenbett anlächelte; Tim, der ihn auch hatte töten wollen; und viele andere mehr. Keuchend und schweißnass war er schließlich aufgewacht und hatte sich danach mit grimmiger Entschlossenheit der Minibar gewidmet.

Am nächsten Morgen konnte er das rückblickend nur als Fehler bezeichnen, denn sein Kopf brummte schon wieder und eine mittelschwere Übelkeit verdarb ihm den Appetit, als er am Frühstücksbüfett des hoteleigenen Restaurants stand. An einem Tisch im hinteren Bereich konnte er Mosche und Levitt entdecken. So entspannt, wie sie aussahen, schien es zu keinen großen Verwicklungen mit den deutschen Ermittlungsbehörden gekommen zu sein.

Levitt begrüßte ihn kurz und fragte höflichkeitshalber nach Julia. Torben erklärte ihm, dass sie noch etwas schlafen wolle. Sein Gesprächspartner nickte kurz und berichtete dann kühl, dass die „Küstenpolizisten“, wie er die Ermittler des gestrigen Tages nonchalant nannte, zwar nett, aber zweifellos überfordert gewesen waren. Sie hatten tatsächlich die Absicht gehabt, die Mossad-Agenten trotz Diplomatenstatus festzunehmen. Erst ein junger Staatsanwalt hatte sie von dieser selbstzerstörerischen Idee wieder abbringen können.

Levitt versicherte Torben, dass er trotz oder gerade wegen dieses Vorfalls noch immer die volle Unterstützung seiner Regierung hätte, weil der Mord an Margot erneut gezeigt hatte, wie skrupellos der Orden noch immer agierte. Er wurde als ernstzunehmende Bedrohung der Interessen des israelischen Volkes eingeschätzt, ehrlicherweise allerdings vielleicht nur, weil man so wenig von ihm wusste.

Torben erfuhr weiter, dass es am heutigen Tage ein Treffen im Auswärtigen Amt in Berlin gäbe, wo man in dieser Sache das Gespräch mit den deutschen Nachrichtendiensten führen würde. Über das Ergebnis würde man Levitt danach in Kenntnis setzen. Dieser rechnete ganz fest damit, dass man Mosche und ihm weiterhin freie Entscheidungsbefugnis lassen würde.

Levitt hielt im Sprechen inne, als ein Kellner an den Tisch trat und allen Kaffee anbot. Während die Mossad-Agenten ablehnten, stimmte Torben zu und war wenig später froh darüber, da das heiße Getränk langsam seine Lebensgeister weckte.

Nachdem sie wieder allein waren, wusste Mosche zu berichten, dass er den getöteten Tim vor Ankunft der Polizeibeamten noch durchsuchen konnte und dabei die Brieftasche gefunden hatte, die zumindest eine Auskunft über dessen Identität gab.

Offensichtlich hieß Tim mit vollem Namen Tim Burmann, war zum Zeitpunkt seines Todes seit drei Monaten achtunddreißig Jahre alt, in Freiburg im Breisgau geboren und arbeitete für eine Firma namens PRAETORIUS aus Bern, wie eine Visitenkarte verriet und deren Anschrift und Telefonnummer der Agent schnell notiert hatte. Eine aktuelle Adresse von Burmann hatte er allerdings nicht finden können.

Bei Tims Waffe handelte es sich laut Mosche um ein Standardmodell der Marke Sig Sauer, neun Millimeter Parabellum; nichts Ungewöhnliches, eine auch bei deutschen Sicherheitsbehörden weit verbreitete Waffe.

Überdies wurde bei der Schießerei durch eines der Projektile leider Tims Handy zerstört, mit dem er vor dem Mord an Margot noch telefoniert hatte. Es wäre zwar möglich gewesen zu versuchen, trotzdem einige Daten auszulesen. Das Risiko, das Telefon oder Teile von ihm, wie die Speicherkarten, vom Tatort illegal zu entfernen, war den Agenten aber dann doch zu groß. Die Polizei hätte anhand der Spurenlage festgestellt, dass sie das Mobiltelefon mitgenommen hatten, und womöglich Verdacht geschöpft, dass Tims Tod doch kein Zufall gewesen war. So blieb also erst einmal im Dunkeln, wer dem Mörder den vermeintlichen Auftrag erteilt hatte, die Meisterin zu töten, als sie mit Torben sprach.

Tims Schweizer Arbeitgeber war vorläufig der einzige Anhaltspunkt, den sie weiter verfolgen konnten. Auf ihn war auch der Audi zugelassen, mit dem Margot am Friedhof angekommen war. Eine Durchsuchung des Autos war den Agenten allerdings auch nicht mehr gelungen. Levitt erklärte ihm, dass aber zumindest die Nachforschungen zu PRAETORIUS bereits veranlasst seien.

Im Gegenzug berichtete Torben danach ausführlich, was Margot ihm erzählt hatte, und seine beiden Zuhörer machten sich dazu einige Notizen. Sie stimmten ihm nicht nur zu, dass eine Nachfrage bei Professor Meinert sinnvoll sei, sondern klärten ihn auch darüber auf, dass Levitt seit ihrer Begegnung in Thüringen ständig in Kontakt zum Professor stehe. Überrascht das zu hören, weil er bislang geglaubt hatte, dass Professor Meinert das teilweise recht brutale Vorgehen des Mossads kategorisch ablehnte, erfuhr Torben weiter, dass im Gegenzug dafür ein aktuelles Vorhaben des Professors von staatlicher Seite aus unterstützt wurde. Seine Nachfragen, worum es sich dabei handele, tat Levitt mit einer Handbewegung und den Worten ab: „Das kann er Ihnen selbst erzählen!“

VI

Die Erste, die Torben und Julia freudig begrüßte, war Gertrud, der kleine Chihuahua des Professors, der ihnen schwanzwedelnd und laut kläffend entgegeneilte.

Torben schien dabei ihr besonderer Liebling zu sein, denn nachdem sie kurz seine Schuhe beschnüffelt hatte, zwackte sie ihn ein paar Mal in die Waden. Die offensichtliche Aufforderung zum Spielen war wegen ihrer kleinen, spitzen Zähne allerdings nicht ganz so spaßig, und Torben sah sich genötigt, den kleinen Racker auf den Arm zu nehmen, um sich dem Stöckchen werfen oder Herumtollen zu entziehen. Julia fand Gertrud natürlich sofort „herzallerliebst“ und kündigte an, sie selbst behalten zu wollen.

Das Bellen des kleinen Hundes, das die Ankunft von Fremden ankündigte, hatte längst die Aufmerksamkeit von einem guten Dutzend junger Leute erregt, die auf der kleinen Ausgrabungsstätte zwischen den riesigen Laubbäumen unterhalb der Burgruine arbeiteten. Neugierig geworden und den Anlass als willkommene Pause nutzend, klopften sie den Dreck von ihren Knien, kurzen Hosen und T-Shirts ab und blickten in ihre Richtung.

Levitt war anscheinend schon einmal hier gewesen, denn zielsicher schritt er, die interessierten Blicke ignorierend, auf ein etwas abseits im Schatten stehendes Wohnmobil zu, nicht ohne zuvor Torben und Julia zu bedeuten, ihm zu folgen.

Unter dem Vorzelt standen ein paar Klappstühle, halbvolle Getränkekisten und zwei Tische, die mit Kaffeebechern, Notizen und etlichen – historisch anmutenden – Karten, Luftbildaufnahmen und Büchern bedeckt waren. An der Tür des Campers angekommen, schlug Levitt mit der Faust zwei Mal kräftig gegen das Blech und sorgte so dafür, dass der Bewohner der Behausung kurz darauf seinen Kopf ins Freie steckte.

Es war dann auch Professor Meinert, der sie ähnlich herzlich wie sein kleiner Hund begrüßte. Nachdem er die beiden Stufen zu ihnen regelrecht heruntergesprungen war, um zuallererst Julia an sich zu reißen und innig zu drücken, wandte er sich Torben zu, ignorierte dessen ausgestreckte Hand und sagte: „Mein junger Freund, es ist so schön, Sie wieder zu sehen! Ich habe mir solche Sorgen um Sie gemacht! Nun kommen Sie her und umarmen Sie Ihren väterlichen Freund!“

Torben kam der Aufforderung gerne nach und hielt den mehr als siebzig Jahre alten Mann für einen Moment in seinen Armen. Er spürte, dass trotz des Lebensstils seines Besitzers der Körper noch immer kräftig – wenn auch im Bereich des Bauches wohl zu kräftig – war. Bei einem Pferd würde man sagen, es stehe gut im Futter und bräuchte dringend Bewegung. Der Professor trug sein Übergewicht aber mit Würde. Es passte zu ihm und der Lebensfreude, die er ausstrahlte.

Professor Meinert forderte sie sogleich auf, ihm ins Wohnmobil zu folgen, das trotz der Nachmittagshitze noch angenehm temperiert war.

Im Innenraum dominierten Beigetöne und durch die großen Fenster wirkte das Fahrzeug hell und freundlich. Einige der auch hier herumliegenden, handschriftlichen Aufzeichnungen und Folianten warf der Professor kurzerhand in die Spüle und mehrere Tablettenpackungen landeten achtlos in einer Schublade, um für seine Gäste ausreichend Platz zu schaffen. Fünf Erwachsene gleichzeitig aufzunehmen, stellte für das Wohnmobil nämlich eine größere Herausforderung dar. Und so presste sich wenig später Torben gemeinsam mit Julia, Levitt und dem Professor in die enge Sitzbank neben der Kochnische. Mosche hatte inzwischen die Aufgabe übernommen, Gertrud zu verwöhnen, und setzte sich mit ihr auf die Liegefläche eines der schmalen Betten, wo er trotzdem noch bedeutend mehr Platz als die anderen hatte. Torben schien die Enge aber wenig zu stören, nicht nur, weil es ein guter Vorwand war, sich an Julia zu schmiegen, sondern auch, da er sich so sehr freute, den Professor wiederzusehen.

 

„Zuallererst George, was um aller Welt machen Sie hier?“ Während er fragte, deutete Torben mit einer Hand durch die Fenster nach draußen.

Professor Meinert lachte: „Sie wollen wissen, was ich schon wieder in Thüringen suche?“

Torben nickte. Ihr Weg hatte sie tatsächlich erneut in das ostdeutsche Bundesland geführt. Als ihm Levitt das angekündigt hatte, glaubte er für einen kurzen Moment, dass der Professor vielleicht versuchen würde, doch noch in den ausgebrannten Bunker im Leinawald vorzudringen, in dem damals Meisterin Rema ums Leben gekommen war. Hier irrte er jedoch gewaltig, denn der Eingang zum Bunker war nicht nur längst verschlossen, sie befanden sich mittlerweile mehr als hundert Kilometer östlicher in einer kleinen Talsohle am Fuße der Burg Gleichen, einer mittelalterlichen Burgruine bei Wandersleben südöstlich von Gotha. Gemeinsam mit den wenige Kilometer entfernten Burganlagen Veste Wachsenburg bei Holzhausen und der Mühlburg bei Mühlberg gab sie einem bekannten mittelalterlichen Burgenensemble seinen Namen. Die sogenannten Drei Gleichen ragten aus dem Hügelland des Thüringer Beckens nicht nur weit sichtbar heraus, sie schienen auch die Spitzen eines riesigen Dreiecks zu bilden.

„Genauso wie Sie, mein Freund“, sprach der Professor inzwischen weiter, „brauchte ich nach unseren letzten Erlebnissen – sagen wir einmal – etwas Ablenkung. Und da uns ja die Behörden aus Gründen der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zum Stillschweigen verpflichtet haben, was nicht heißt“, er flüsterte den nächsten Teil des Satzes, „dass ich nicht trotzdem alles aufschreibe, um es vielleicht später einmal zu veröffentlichen, habe ich unseren Freund Levitt um eine kleine Gefälligkeit gebeten.“

„Kleine Gefälligkeit ist gut!“, warf der Mossad-Agent daraufhin ein. „Ich musste einen erbitterten Kampf mit dem deutschen Verwaltungsapparat führen.“

„Aus dem Sie als strahlender Sieger hervorgegangen sind!“, erwiderte der Professor anerkennend und wieder mit lauterer Stimme. „Denn normalerweise benötigt man mehrere Jahre, nicht einige Wochen, um die erforderlichen Erlaubnisse und behördlichen Genehmigungen für archäologische Ausgrabungen in Deutschland zu erhalten. Von der Frage der Finanzierung will ich gar nicht sprechen. Vielen Dank nochmals!“

Just in diesem Moment ging die Tür des Wohnmobils auf und eine schlanke junge Frau in kurzer Khaki-Hose und eng anliegendem T-Shirt kam herein. Ihr Erscheinen sorgte dafür, dass Mosche wieder sein mittlerweile berühmtes strahlend-weißes Lächeln zeigte, das jeden dafür verantwortlichen Zahnarzt mit Stolz erfüllt hätte, sich aufrecht hinsetzte und Gertrud für ihn augenblicklich uninteressant wurde.

Eine ähnlich freudige Erregung ergriff den Professor und er sagte: „Ah, da bist du ja! – Darf ich vorstellen, Annabell Siewert, meine Tochter! – Anna, das sind meine Freunde, von denen ich dir erzählt habe – Julia Hartwig, Torben Trebesius, Simon Levitt und Mosche Shalev.“

Mit einem freundlichen „Hallo“ nickte sie jedem kurz zu und setzte sich dann neben den nun noch breiter grinsenden Mosche auf das Bett. Torben schätzte sie auf Mitte zwanzig. Der Professor musste sehr spät Vater geworden sein. Sie trug ihre blonden Haare modisch kurz und hatte eine kleine Stupsnase, auf der sich etliche Sommersprossen abzeichneten, mit denen sie irgendwie frech wirkte. Sie war Torben sofort sympathisch.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Tochter haben, George. Und dann noch eine so hübsche!“, wandte er sich dem Professor augenzwinkernd zu, was ihm erneut von Julia einen kleinen Stoß in die Nierengegend einbrachte.

„Ich stamme aus seiner dritten Ehe. Meine Mutter und er …“

Weiter kam Annabell nicht, denn ihr Vater unterbrach sie: „Ach, wen interessiert das schon. Wo war ich vorhin? – Ach ja, mein kleines Ausgrabungsvorhaben.“

„Unser kleines Ausgrabungsvorhaben!“, verbesserte ihn seine Tochter sanft.

„Ja, ja, natürlich unsere Expedition. Du hast ja Recht. – Sie müssen wissen, Anna ist das schwarze Schaf der Familie und hat darauf bestanden, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Allerdings interessiert sie sich mehr für das Mittelalter.“

Anna präzisierte: „Frühmittelalter, um genau zu sein.“

„Von mir aus auch Frühmittelalter!“ Der Professor konnte es augenscheinlich überhaupt nicht leiden, ständig unterbrochen zu werden, und bedachte seine Tochter mit einem tadelnden Blick. Sie ignorierte dieses Zeichen jedoch und sprach längst weiter: „Man kann sagen, dass das Frühmittelalter im späten 6. Jahrhundert mit dem Ende der Völkerwanderung beginnt. Es ist von der Christianisierung und dem Aufstieg und Fall des Frankenreichs geprägt. Sie werden es vermutlich mit den Adelsgeschlechtern der Merowinger und Karolinger verbinden. Es endet etwa Anfang des 10. Jahrhunderts.“

„Danke, Annabell!“ Die Stimme des Professors klang mittlerweile etwas gereizt. Ein Lächeln seiner Tochter ließ den alten Mann aber schnell wieder dahinschmelzen und sein aufkeimender Unmut verflog. Torben vermutete, dass sie ganz genau wusste, wie weit sie bei ihrem Vater gehen konnte, ohne dass er tatsächlich böse auf sie wurde.

Julia schien an der Szene viel Spaß zu haben und hakte beim Professor nach: „Und was machen Vater und Tochter hier gemeinsam in dieser Einöde?“

Diesmal gelang es dem Professor tatsächlich, vor seiner Tochter zu antworten, denn er erklärte schnell: „Ganz einfach, wir suchen die Heilige Lanze! – Sie brauchen gar nicht so ungläubig zu schauen. – Erinnern Sie sich bitte! Als wir in Wien waren und nach einem weiteren Hinweis auf den Orden dieser elenden Priesterinnen gesucht haben, wurde uns zwar die Heilige Lanze mitsamt dem Reichskreuz, in dem sie früher transportiert wurde, vorgelegt, gleichzeitig haben wir jedoch auch erfahren, dass es sich dabei nur um eine Nachahmung handelte. Laut metallurgischen Untersuchungen konnte die in der Hofburg ausgestellte Lanze erst im 8. Jahrhundert angefertigt worden sein. Im Übrigen ist sie ja die Spitze einer karolingischen Flügellanze ohne Schaft, wie sie im Frühmittelalter bis etwa 1200 verwendet wurde. Verstehen Sie? Im Frühmittelalter!“

„Dann suchen Sie die Originallanze?“ Torbens Überraschung war nicht gespielt. „Und Sie vermuten sie hier?“

„Ganz recht, mein Freund! Was ich nicht wusste war, dass sich Anna schon während ihres Studiums intensiv mit diesem Thema beschäftigt hatte. Als ich von unserem letzten Abenteuer zurückkehrte und ihr verbotenerweise davon berichtete, wurde sie sofort hellhörig. Sie konnte mich davon überzeugen, dass das Originalrelikt wahrscheinlich hier verloren ging. Die Zeit war günstig, die Behörden, unter Zuhilfenahme von dem guten Levitt hier, um einen Gefallen zu bitten. Und so haben wir vor zwei Wochen mit etwas mehr als einem Dutzend Freunden, Studenten und wissenschaftlichen Hilfskräften angefangen, im Dreck zu wühlen.

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