Germanias Vermächtnis

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II

Torben bezog gemeinsam mit Julia, Levitt und einem weiteren, jüngeren Mossad-Agenten namens Mosche Shalev, den er ebenfalls bereits kannte, ein paar nebeneinander liegende Zimmer in der zweiten Etage eines schäbigen Motels. Mosche wurde, seitdem er ihre kleine Truppe am Hamburger Flughafen in Empfang genommen hatte, die Rolle des Fahrers zuteil. Und Levitt? Ja, Levitt schien irgendwie zum Anführer ihrer Gruppe aufgestiegen zu sein. Er fällte mittlerweile nahezu alle Entscheidungen, ob nun wichtig oder nicht.

Torben versuchte, sich an möglichst viel zu erinnern, was in den letzten Stunden geschehen war.

Thailand lag noch nicht einmal zwei Tage zurück, und doch kam es ihm so vor, als sei eine kleine Ewigkeit vergangen. Julia hatte nicht gelogen, als sie davon sprach, ihn nach Hause bringen zu wollen, wenn man den Begriff Zuhause etwas weiter definierte und damit lediglich das Heimatland meinte, denn in Deutschland waren sie schon mal.

Er konnte sich durch seinen letzten Rausch nicht an jedes Detail ihrer Reise erinnern. Nachdem sie ihn in der Bar aufgelesen hatten, brachten sie ihn wohl gleich in sein Hotel und stellten ihn unter eine kalte Dusche, die ihn in die Lage versetzte, zumindest für die nächsten Stunden halbwegs auf den Beinen zu bleiben. Levitt und Julia packten – von seinen Flüchen und Verwünschungen begleitet, als das eiskalte Wasser auf ihn niederprasselte und sich in seinem Kopf wie tausend kleine Nadeln bohrte – eilig seine Sachen zusammen und beglichen die offenen Rechnungen. Als das erledigt war, verfrachteten sie ihn wieder in den Toyota und kündigten ihm an, dass ihr nächstes Ziel der Flughafen Bangkok sei. Torben, noch halb betrunken, hatte nur mit den Schultern gezuckt, was von beiden als Zustimmung aufgefasst wurde. Von der eigentlichen zweistündigen Fahrt bekam er nicht viel mit, weil er tief und fest schlief. Am Flughafen wurde er dann auch recht grob von Levitt geweckt, weil es Julia einfach nicht gelingen wollte.

Verschlafen und verkatert, wie er war, registrierte er kaum, dass sie ein uniformierter Flughafenbeamter am Zoll und allen anderen Kontrollen vorbei hastig zu einer Linienmaschine brachte. Sie hatten kaum ihre Sitze in der Business Class eingenommen, da rollte der Flieger auch bereits auf die Startbahn. Torben war mittlerweile sowieso alles egal, denn die Trunkenheit oder genauer die Betäubung seiner Nervenbahnen ließ langsam nach. Während Julia und Levitt ihre Sitze in Liegepositionen brachten, um sich auszuruhen, übergab er sich mehrfach auf der Flugzeugtoilette und fühlte sich hundeelend. Erst nach einigen Stunden, in denen er im Halbdunkel ständig und fast schon zwanghaft Julia in ihrem unruhigen Schlaf beobachtete, klangen die schmerzhaften Magenkrämpfe ab, und die Müdigkeit überwältigte ihn. Er wachte erst auf, als sie im Landeanflug auf Frankfurt am Main waren.

Julia schien genauso wie er noch ziemlich verschlafen zu sein. Sie lächelte ihm müde aber aufmunternd zu. Im Gegensatz zu ihnen beiden wirkte Levitt erstaunlich frisch. Irgendwie war es dem Mossad-Agenten sogar gelungen, sich zu rasieren. Als Torben das bemerkte, strich er sich unbewusst über seine langen Bartstoppeln. Er konnte sich nicht einmal mehr an seine letzte Rasur erinnern.

Die Temperaturen waren in Deutschland zwar bedeutend niedriger als in Thailand, aber eine strahlende Sonne verkündete, dass es ein angenehmer Frühsommertag werden würde.

Zeit, das schöne Wetter zu genießen, blieb nicht, denn Levitt drängte schon wieder zum Aufbruch, da sie ihre Reise mit einem innerdeutschen Flug nach Hamburg fortsetzen sollten. Und so bestand Torbens Frühstück dann auch lediglich aus einem Coffee to go in der Ankunftshalle, den er unbemerkt von seinen Begleitern mit etwas Cognac aus einer kleinen Schluckflasche aus einem Duty-Free-Shop aufpeppte.

Leidlich wiederhergestellt und am Nachmittag endlich in der Lage, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, erfuhr Torben erst in der Hansestadt, wo sie auf einen breit grinsenden Mosche trafen, warum sie so in Eile waren. Es war Julia, mit der er bisher kaum ein offenes Wort wechseln konnte, die ihn jetzt in einem kleinen Zimmer eines bestenfalls zweitklassigen Hotels darüber aufklärte.

Es war das erste Mal auf diesem Trip, dass sie wirklich allein waren und Torben erinnerte sich, dass ein ähnlicher Moment bereits mehr als zwei Monate zurücklag. Sie waren sich in Wien nähergekommen, obwohl Michael zu jener Zeit noch am Leben war, der, damals wie heute, wie eine riesige Mauer zwischen ihnen stand.

Julia brach als erste das Schweigen: „Torben, wie geht es dir? Ist soweit alles okay?“

Während sie bei ihrer Frage an der Tür stehen blieb, bewegte sich Torben in Richtung Bett, ließ sich darauf fallen und antwortete etwas scherzhaft: „Ich fühle mich so, wie ich aussehe! Die nächsten Tage sollte ich wohl lieber auf Alkohol verzichten.“

„Kannst du das denn?“ Die Bemerkung klang beiläufig, sollte ihn aber trotzdem direkt treffen.

Er ignorierte die Anspielung und stellte selbst eine Frage: „Okay, was um alles in der Welt machen wir hier?“

Sie seufzte, setzte sich neben ihn, nahm seine Hand und sagte leise: „Ganz einfach – ich möchte, dass diejenigen, die für den Tod deiner Mutter und Michaels verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden.“

„Aber, das ist …“ Weiter kam Torben mit seiner Antwort nicht, denn Julia schnitt ihm sofort das Wort ab und entgegnete energisch: „Kein Aber! Das sind wir ihnen schuldig! Es geht mir nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit!“

Kopfschüttelnd erwiderte Torben darauf: „Was wir wollen spielt keine Rolle! Julia, diese Geschichte ist zu groß für uns! Begreifst du das noch immer nicht? Diese Leute sind zu allem fähig! Gerade du müsstest das am besten wissen!“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen“, ihre Stimme wurde leiser, „sobald ich meine Augen schließe, sehe ich Michaels entstellten Leichnam vor mir.“

Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach: „Torben, ich muss mich dieser Sache stellen, um wieder ein normales Leben zu führen.“ Ihr Händedruck wurde stärker. „Und ich weiß, dass es dir genauso geht. Bevor wir beide damit nicht abgeschlossen haben, wird es auch keine gemeinsame Zukunft für uns geben.“ Torben schlug der Puls plötzlich bis zum Hals. Sie sprach von einem gemeinsamen Leben mit ihm, wovon er nicht mehr zu träumen gewagt hatte, denn er hatte sie nicht nur einmal enttäuscht. Nicht genug, dass er es war, der sich vor mehr als zehn Jahren von ihr getrennt hatte, er hatte sie auch allein gelassen, als es um die Organisation von Michaels Beerdigung ging, und er hatte ihr nicht beigestanden, als sie sich den Fragen der trauernden Verwandten stellen musste, ein weiteres Versäumnis, das er sich vorwerfen musste.

Julia wiederum hatte trotz allem an der Beerdigung seiner Mutter teilgenommen und ihm dadurch die nötige Kraft gegeben, diesen Tag durchzustehen.

Ihr Erscheinen verstand er aber im Nachhinein – so redete er es sich seit Wochen ein – nur noch als rein freundschaftliche Geste, da sie sich danach lediglich zweimal kurz sahen und während Torbens Vietnamreise weniger als ein halbes Dutzend Mal miteinander telefonierten. Und nach jedem dieser – in seinen Augen – unpersönlichen Telefonate hatte er sich schlechter gefühlt als vorher. Sie wurden dadurch nur zu weiteren willkommenen Anlässen, um zur Flasche zu greifen.

Aber vielleicht hatte sie ja nur etwas Zeit gebraucht, um – genauso wie er – etwas Abstand zu gewinnen und ihre Gefühle zu ordnen. Tief in seinem Inneren begann wieder ein Funke zu glimmen, sein Widerstand brach und er hörte sich selbst die Frage stellen: „Levitt und du, wie wollt ihr denn vorgehen?“

Ihr Händedruck löste sich, sie stand auf und lief in dem kleinen Zimmer langsam auf und ab.

„Wir haben eine Spur gefunden, die vielleicht zum Orden führen könnte. Sie hängt offenbar mit den Finanzgeschäften dieser Stiftung in Bad Mergentheim zusammen, die als Tarnung für die Priesterinnen gedient hatte.“

Torben erinnerte sich, sie waren damals bei ihren Nachforschungen auf das Deutschordensschloss in Bad Mergentheim gestoßen. In Unkenntnis, dass dort tatsächlich just zu diesem Zeitpunkt eines der wichtigsten Treffen des Ordnens stattfand, hatte Torben die Veranstaltung gestört, was dazu führte, dass seine Freunde und er gefangen genommen wurden. Es stellte sich heraus, dass die im Schloss ansässige Stiftung für Demografie und Pflege der deutschen Kultur eine der vielen Tarnorganisationen der Priesterinnen war. Nach ihrer Entdeckung hatten die Ertappten jedoch unverzüglich begonnen, die dort unterhaltenen Büros zu räumen und alle Spuren zu verwischen.

In Torben fing es zu arbeiten an. Julia könnte Recht haben. Obwohl der Orden unbeschreiblich mächtig und einflussreich war, hatten es seine Repräsentanten sicherlich dennoch nicht mehr geschafft, alle Unterlagen zu vernichten, die zum Beispiel in deutschen Finanzämtern oder den zuständigen Ministerien zu der Stiftung lagerten. So sehr sich die Priesterinnen auch anstrengt hatten, dieses Mal hinterließen sie bestimmt Brotkrumen, denen man folgen könnte.

Julia sprach bereits weiter: „Mosche hat die Ermittlungen der deutschen Behörden begleitet. Ihm ist der Vorname einer Person aufgefallen, die die Prokura besaß, die Finanzgeschäfte der Stiftung abzuschließen, nicht nur, weil er in seinen Ohren ziemlich ungewöhnlich klang, sondern auch, weil er ihn bei deiner Aussage, die du damals machen musstest, schon einmal gehört hatte. Er lautet Margot. Du weißt schon, Meisterin Margot! Das könnte eine gute Spur sein, glaubst du nicht?“

Torben dachte nach. Margot war nicht eine x-beliebige Vertreterin des Ordens. Sie wollte ihm damals zur Flucht verhelfen und hatte ihm gestanden, dass die Schwester seines Großvaters namens Hilde Schauweiler nicht im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen war. Sie war vielmehr der Trumpf gewesen, mit denen sein Vorfahr zur Zusammenarbeit mit dem Geheimzirkel genötigt und zu Höchstleistungen motiviert worden war.

 

Margots Familie wurde nach Kriegsende vom Orden auserwählt, Hilde an Kindes statt großzuziehen. Und so kam es, dass beide Frauen wie Schwestern aufwuchsen. Die Gefühle, die sie verbanden, hatten aber, je älter sie wurden, irgendwann nichts mehr mit Geschwisterliebe gemein. Margot hatte ihm erzählt, dass sie bis zu Hildes Tod nicht nur gemeinsam dem Orden dienten, sondern über all diese Jahrzehnte auch eine Liebesbeziehung pflegten.

Dennoch zweifelte er: „Julia, ich weiß nicht, ist das nicht alles etwas weit hergeholt? Sicherlich ist der Name Margot heute nicht mehr so geläufig, aber vor siebzig, achtzig Jahren war es keineswegs ungewöhnlich, sein Kind so zu nennen.“

„Ich bin noch nicht fertig!“, setzte Julia schnell fort, die spürte, wie Torbens Neugier erwachte. „Der komplette Name lautet Margot Wiese. Es gibt zwar keine Adresse zu ihr, aber wir sind in den Unterlagen auf eine weitere Frau namens Hilde Wiese gestoßen, für die die Stiftung Beiträge an die Rentenversicherungsanstalt abgeführt hat. – Verstehst du, zwei Schwestern, die beide für die Stiftung arbeiteten und laut den Unterlagen auch noch ungefähr gleich alt waren! Dazu die Vornamen Margot und Hilde! Es passt alles zusammen, meinst du nicht auch?“

Selbst Torben musste zugeben, dass dies ein erstaunlicher Zufall war und fragte gespannt: „Was habt ihr noch?“

In diesem Moment erkannte Julia, dass sie ihn am Haken hatte. Und Torben wusste es auch. Sie setzte sich wieder neben ihn. „Die Zahlungen der Stiftung an Hilde wurden vor fast neun Jahren eingestellt. Das könnte auf zwei Möglichkeiten deuten, zum einen, dass sie sich einen anderen Arbeitgeber gesucht hat oder zum anderen, dass sie …“

„ … verstorben ist“, beendete Torben den Satz.

Julia nickte.

„Mosche hat in den letzten Wochen unzählige Sterbeanzeigen durchforstet und Bestattungslisten eingesehen. Offenbar gibt es kein einheitliches Sterberegister in Deutschland. Du erinnerst dich vielleicht an den letzten Zensus. Dieser wurde ja auch mit fehlenden oder ungenauen Strukturdaten begründet. Auf jeden Fall hat er etwas gefunden.“

„Du sprichst sehr oft von diesem Mosche“, bemerkte Torben beiläufig und mit dem Versuch eines Augenzwinkerns.

„Was? Was soll das denn jetzt?“ Julia schüttelte ungläubig den Kopf. „Nichts weiter, es fiel mir nur auf. Ich wusste nicht, dass du so engen Kontakt zum Mossad hast. Also, auf was ist er gestoßen?“

„So intensiv war der Kontakt nicht. Ich glaube, sie wollten eher mit dir reden, aber du hast dich ja völlig abgekapselt. Wahrscheinlich hatten sie gehofft, über mich an dich heranzukommen. Offensichtlich lagen sie da nicht ganz daneben.“ Dieses Mal blinzelte sie ihm zu.

„Aber weiter, in dem Monat, in dem die letzte Einzahlung erfolgte, wurde die Urne einer Frau Hilde Wiese anonym, ohne Grabstelle auf einer extra für diese Fälle vorgesehenen Fläche eines Friedhofs in einem kleinen Ort namens Meldorf an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste beigesetzt.“

„Also deshalb sind wir hier. Aber wie kommt ihr darauf, dass uns das weiterbringt?“

„Weil sich ihr Todestag morgen jährt!“

III

Torben saß auf der Rückbank einer dunklen Mercedes Limousine. Julia, die ihre Augen geschlossen hatte, befand sich nicht einmal eine Armlänge entfernt und er hätte sie so gerne berührt. Aber soweit waren sie noch lange nicht.

Ihr Gespräch am gestrigen Abend hatte, nachdem sie ihm das Sterbedatum seiner Tante mitgeteilt hatte, nur noch einige Minuten gedauert. Sie hatte ihm lediglich noch eröffnet, dass sie hofften, heute Margot auf dem Friedhof zu stellen, falls sie an das Grab ihrer verstorbenen Geliebten zur Andacht kommen sollte. Danach hatte sie ihn mit Verweis auf ihre Jetlag-bedingte Müdigkeit allein in seinem Zimmer zurückgelassen.

Unter der Dusche waren seine Selbstzweifel zurückgekehrt. Doch er hatte auch so etwas wie einen Funken Hoffnung gespürt, eine Zuversicht seine Beziehung zu Julia betreffend. Er kannte sie schon seit seinem siebzehnten Lebensjahr. Vor zehn Jahren hatte er sich aus rein egoistischen Gründen von ihr getrennt. Heute wusste er, dass er damit vermutlich den größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Aber vielleicht bekam er jetzt eine zweite Chance.

Als er wenig später mit der Hand das Kondenswasser vom Badezimmerspiegel wischte, um sich endlich wieder einmal zu rasieren, fühlte sich das beinahe wie ein kleiner Neuanfang an. Es war fast, als trennte er sich mit den Bartstoppeln von einem Teil seines alten Lebens. Unbewusst verzichtete er danach – das erste Mal seit Wochen – sogar auf seinen abendlichen Schlummertrunk und ging gleich zu Bett.

Er wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen. Levitt und Mosche kehrten zurück und stiegen ins Auto ein. Das Zuschlagen der Türen sorgte dafür, dass Julia ihre Augen wieder öffnete und sich aufrecht hinsetzte.

Levitt wandte sich ihnen zu: „Sehen Sie das dunkelgrüne Eisentor, auf der rechten Seite?“ Torben und Julia nickten. „Es ist der einzige Eingang zum Friedhof. Es wurde gerade aufgeschlossen. Der Friedhof hat jetzt bis 19 Uhr geöffnet. Also stellen Sie sich schon mal auf eine längere Wartezeit ein, und machen Sie es sich bequem. Hoffen wir, dass die Priesterinnen sentimentaler sind, als man ihnen auf den ersten Blick zutrauen würde. – Und Torben, Sie sind der Einzige von uns, der Margot kennt. Das heißt …“

„Ich weiß, was das heißt!“

Mit Torbens ruppiger Bemerkung endete auch das Gespräch. Offensichtlich war keinem von ihnen nach weiterem Reden zumute. Es war 8.03 Uhr morgens.

Während Torben sich gerade ausmalte, wie er Margot stellen und was er ihr sagen würde, vertrat sich Julia wenig später mit Mosche die Beine. Als Torben sie mit einigen Croissants sowie gefüllten Kaffeebechern zurückkehren sah und bemerkte, wie ungezwungen sich der junge Mossad-Agent mit ihr unterhielt, ja fast schon flirtete, und es sogar schaffte, sie zum Lachen zu bringen, spürte er erst, welch langer Weg noch vor ihnen lag. Julia und er waren weit davon entfernt, wieder unbefangen miteinander umzugehen.

Die Sonne kletterte langsam aber stetig immer höher und sorgte dafür, dass sich der Innenraum der Limousine zunehmend aufheizte, sodass sie bald alle Fenster öffneten, um zumindest etwas kühlenden Luftzug zu haben. Etwa ab 9 Uhr besuchten die ersten Menschen den Friedhof. Meist waren es ältere und vom Leben gebeugte Männer und Frauen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kamen. Torben stellte sich jeden einzelnen von ihnen vor, wie sie anschließend an den Gräbern ihrer Lieben standen und im Stillen zu ihnen sprachen.

Gerade als seine Gedanken zu seiner Mutter abschweifen wollten, stieß ihn Julia leicht von der Seite an und zeigte auf einen ankommenden dunkelblauen Audi A6, der dreißig Meter von ihnen entfernt einparkte. Levitt und Mosche bemerkten ihn auch und Letzterer begann unruhig auf seinem Sitz hin und her zu rutschen.

Der Fahrer verließ kurz darauf den Wagen, öffnete eine der hinteren Türen und half einer Frau in einem dunkelgrauen Kostüm beim Aussteigen. Noch bevor sie ihr Gesicht sehen konnten, wusste Torben, dass es tatsächlich Margot war. Er sagte: „Ihr hattet Recht! Das ist sie!“

„Sind Sie sich vollkommen sicher, Torben? Vielleicht sollten wir sie näher herankommen lassen!“, zweifelte Levitt.

„Ich bin mir zu einhundert Prozent sicher! Das ist Meisterin Margot!“, antwortete er mit einem grimmigen Ton in seiner Stimme. „Und sie wird uns jetzt zum Orden führen!“

„Nicht so schnell! Sehen Sie, der Chauffeur begleitet sie auf den Friedhof!“, gab Mosche rasch zu bedenken.

Torbens Hand lag jedoch bereits auf dem Türöffner der Wagentür und er erwiderte: „Das ist mir egal! Ich spreche sie einfach an! Was will sie schon machen, mich am helllichten Tage erschießen und wegrennen? Sie wird mit mir reden müssen!“

„Dann sollten Sie wenigstens eine Schutzweste tragen! Wir haben welche im Kofferraum!“, forderte ihn Levitt auf.

Torbens Antwort bestand nur aus zwei Worten: „Zu spät!“ Noch während er diese aussprach, entriegelte er die Tür, trat auf die Straße und ließ Julia mit zwei derb fluchenden Mossad-Agenten hinter sich zurück.

Margot hielt einen Strauß weißer Dahlien in der Hand und betrat mit ihrem Fahrer, einem circa einen Meter neunzig großen, athletisch wirkenden Mann mit dunklem Teint und nach hinten gegeltem Haar, den Friedhof. Torbens Abstand zu ihr betrug weniger als dreißig Meter und er folgte ihr zügig, um die Entfernung nicht noch größer werden zu lassen. Als er sah, wie sie einen kleinen Weg auf der rechten Seite einschlug, der unter einigen alten und schattenspendenden Platanen hindurchführte, beschleunigte er seine Schritte noch mehr. Links und rechts des Pfades reihten sich moderne Grabsteine genauso wie verwitterte Putten und brüchige Steinkreuze, aber nichts davon konnte jetzt sein Interesse wecken oder ablenken. Er wollte nur noch eines: Margot stellen und dazu zwingen, ihm seine Fragen zu beantworten. Und je näher er diesem Ziel kam, umso mehr Adrenalin strömte durch seine Adern.

Das Knirschen des Sandes unter seinen Füßen, das seinen schnellen Schritt verriet, erregte wenig später die Aufmerksamkeit von Margots Begleiter. Er drehte sich zu ihm um, aber Torben war bereits zu nah und drängte einfach an ihm vorbei. Bevor der Leibwächter reagieren oder etwas sagen konnte, umrundete er auch Margot und stellte sich der sichtlich überraschten Priesterin in den Weg und begrüßte sie mit einem: „So schnell sieht man sich wieder!“

Der Bodyguard wollte Margot sofort von Torben wegziehen, aber seine Schutzperson überwand sehr schnell ihren ersten Schock, erhob die Hand und sagte: „Schon gut, Tim! Ich kenne diesen Mann!“

Der so Angesprochene schien trotzdem unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Er musterte Torben offen feindselig und antwortete: „Madam, wollen Sie wirklich mit ihm reden? Ich könnte …“

„Nein, nein, es ist schon gut! Es ist ein alter Bekannter, den ich lange nicht gesehen habe. Ich war nur etwas überrascht, ihn hier anzutreffen. Wir werden ein Stück gemeinsam gehen, um uns ungestört zu unterhalten. Sie können uns ja mit etwas Abstand folgen.“ Widerwillig nickte Tim und zog sich einige Meter zurück. Aus den Augenwinkeln heraus sah Torben, wie er aus der Innentasche seines Jacketts ein Handy zog und eine Nummer wählte.

Margot ergriff Torbens Arm und zog ihn weg. Sie sagte mit einem Seufzen: „Zwar wüsste ich gerne, wie Sie mich gefunden haben, aber für die Beantwortung dieser Frage wird keine Zeit bleiben.“ Sie deutete mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung ihres Kopfes in Tims Richtung und sprach weiter: „Er wird die anderen informieren. Wir müssen uns also beeilen.“

Während des Gehens musterte sie von der Seite kurz sein Gesicht. „Das erinnert mich an unsere letzte Begegnung. Offenbar haben wir nie viel Zeit für unsere Gespräche.“ Sie lächelte. „Es ist schön, dass Sie noch am Leben sind!“

„Das habe ich nicht dem Orden zu verdanken!“, knurrte Torben wenig charmant zurück. Die fast schon liebenswürdige Reaktion seiner Kontrahentin irritierte ihn, sorgte jedoch dafür, dass sich seine Nerven etwas beruhigten und seine Anspannung von ihm abfiel. Zumindest war sie bereit, mit ihm zu sprechen.

Derweil nickte Margot und führte ihn weiter. „Ich kann Sie verstehen. Dann lassen Sie es mich so formulieren: Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen würden, aber ich freue mich umso mehr, Sie zu sehen!“

Wie zur Bekräftigung ihrer Aussage spürte Torben, wie sich ihr Händedruck auf seinem Arm kurz verstärkte.

„Sie freuen sich? Tatsächlich? Das ist gut, denn Sie werden mir eine Menge Fragen beantworten müssen!“

„Sie wissen, dass ich das nicht kann!“

Torben blieb stehen und zwang Margot dadurch, das Gleiche zu tun. „Hören Sie endlich auf, an diesem Punkt waren wir doch bereits einmal! Seitdem habe ich eine Menge selbst herausbekommen! Ich weiß zum Beispiel von der Flucht der schwangeren Eva Braun aus dem eingeschlossenen Berlin! Mein Großvater hat dieses Entkommen erst möglich gemacht, nicht wahr? Ich habe eine Vermutung und möchte wissen, ob sie der Wahrheit entspricht!“ Er machte eine Pause, bevor er mit gedämpfter Stimme fragte: „Also, Meisterin Rema, die mit aller Macht meinen Tod wollte, bevor sie in diesem Bunker in Thüringen umkam, war sie die gemeinsame Tochter von Eva Braun und Adolf Hitler?“

 

Margot ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Torben wollte gerade noch eindringlicher nachfragen, als sie seine Vermutung doch noch mit einem kurzen Kopfnicken bestätigte und leise ergänzte: „Das werden Sie aber nie beweisen können!“

„Wieder falsch! Sie werden es bezeugen! Mit Ihrer Aussage bringe ich den Orden zu Fall und jeden, der an dem Tod meiner Mutter und von Michael Anteil trägt! Man wird Sie alle verhaften!“, triumphierte Torben.

„Glauben Sie wirklich, Sie könnten dem Orden drohen oder ihn gar zerschlagen? Haben Sie immer noch nichts über Die Gemeinschaft gelernt?“

Die Gemeinschaft? So nennen Sie sich also?“

Margot nickte erneut. „Einige wenige, zu denen ich selbst zähle, sprechen meist nur von Der Gemeinschaft. Andere nennen den Orden auch Die Hüterinnen oder Die Bewahrerinnen. Letztendlich haben wir viele Namen.“ Sie setzte erneut zum Weiterlaufen an und zog ihn wieder mit sich.

Torben wusste bereits, dass Margots Gemeinschaft von einem zwölfköpfigen Ältestenrat namens Die Oberen geführt wurde, dem die Meisterin aufgrund ihrer herausragenden Stellung selbst angehörte.

Er ging weiter und bemerkte, dass der hinter ihnen befindliche Tim zwar nicht mehr telefonierte, sie aber keinen Moment aus den Augen ließ. Torben würde also weiterhin ganz genau aufpassen müssen, was um ihn herum passierte. Verstärkung, sollte sie denn gerufen worden sein, wäre aber sicherlich nicht innerhalb von wenigen Minuten hier. Außerdem gäbe es dann noch Levitt und Mosche, die ihm sicherlich zu Hilfe eilen würden.

Und so ging er langsam mit der Meisterin, als wären sie enge Verwandte oder gute Bekannte, die sich bei einem schweren Gang gegenseitig stützten, durch die schmale Allee in Richtung einer kleinen, vom Sonnenlicht hell erleuchteten Lichtung, die von einer Ginsterhecke umgeben wurde. Als sie die Wiese betraten, blieb die Meisterin nach einigen Schritten stehen und legte vorsichtig die Dahlien ab. Sie senkte kurz den Kopf und flüsterte: „Hilde, ich bin hier und ich habe deinen Neffen mitgebracht!“

Torben zögerte. Hier war also die Asche seiner Tante beigesetzt worden. Er war etwas durcheinander und wusste in diesem Moment nicht, was er sagen sollte. Obwohl er damit hätte rechnen müssen, in genau so eine Situation zu geraten, fehlten ihm schlichtweg die Worte.

Dafür setzte Margot das Gespräch fort: „Ich wusste, dass ein gewisses Risiko bestand, heute hier zu erscheinen. Aber in den letzten acht Jahren war ich an jedem ihrer Todestage hier und nichts in der Welt hätte mich davon abhalten können, auch heute herzukommen.“

Ein Windstoß fuhr ihr durch die Haare, und sie schloss kurz die Augen, als verbinde sie dies mit einer alten Erinnerung.

Als sie Torben wieder ansah, lächelte sie und erzählte weiter: „Sie müssen wissen, Hilde und ich, wir liebten beide die Nordsee. Dieser regelmäßige Wechsel von Ebbe und Flut, diese unbändige Kraft; Zeiträume, in denen man Dinge sehen kann, die kurz darauf wieder unter der Oberfläche für alle Blicke verborgen sind.

Es war wie mit uns. Gefühle, die wir sonst vor aller Welt versteckten, konnten wir hier zumindest teilweise ausleben. Wir haben unsere schönsten gemeinsamen Stunden an diesem Ort verbracht.“

Margot blinzelte kurz in die Sonne, bevor sie weitersprach: „Auf Meldorf sind wir eher zufällig gestoßen. Der Orden war gerade nach dem Krieg sehr stark im Norden der Republik, besonders in der Region um Neustadt in Holstein. Die Kureinrichtungen boten sich regelrecht dafür an, dass die Anhänger der Gemeinschaft dort arbeiten und untertauchen konnten. Eine Zeitlang lebten wir auch dort. Alle Freunde und Bekannte, die wir damals hatten, zog es in ihrer Freizeit natürlich an die nahegelegene Ostseeküste, Sie wissen schon, zum Baden und Faulenzen an die langen Sandstrände.

Von unserer Liebesbeziehung durfte natürlich keiner etwas wissen. Das hätte man im Orden nie geduldet und uns unverzüglich voneinander getrennt. Offiziell war Hilde mein Leben lang immer nur meine Schwester und Assistentin, obwohl manche sicherlich etwas ahnten. Grundsätzlich waren wir aber sehr vorsichtig. Wir trafen uns manchmal sogar mit Männern oder flirteten unter aller Augen mit Geschäftspartnern.

Um uns wenigstens einmal unbeobachtet und ungezwungen bewegen zu können, fuhren wir eines Tages aus einer Laune heraus einfach Richtung Westen, weit weg von der Ostsee und dem Korsett, das uns einzwängte. Nach einhundert Kilometern fühlten wir uns relativ sicher, nicht zufällig auf einen unserer Freunde zu treffen. Wir fanden uns in Meldorf wieder und sahen uns das alte Marienkloster an. Wahrscheinlich haben wir uns sofort in die Ruhe und vor allem die Abgeschiedenheit des Ortes verliebt. Im Laufe der Jahre kamen wir immer wieder hierher. Es war nur selbstverständlich, Hilde hier zur letzten Ruhe zu betten.“

Etwas gefiel Margot nicht an dem Dahlienstrauß, und so bückte sie sich und ordnete die Blumen neu.

Zufrieden mit dem Ergebnis war wieder Zeit, das Gespräch mit ihrem Begleiter fortzusetzen. „Wissen Sie, Torben, an der Küste werden sie manchmal auf sogenannte Friedhöfe der Namenlosen stoßen, alte Begräbnisstätten für Menschen, die bei Sturm durch das aufgewühlte Wasser von Bord ihrer Schiffe gerissen und tot an Land gespült wurden. Wenn man die Leichen fand, setzten die Küstenbewohner sie zwar bei, ihre Namen blieben aber in der Regel für alle Zeiten unbekannt.

Hilde hat sich manchmal mit diesen armen Seelen verglichen. Sie war von ihrer wahren Familie getrennt, ohne Hoffnung auf Rückkehr. Nach dem Tod meiner Mutter wusste außer mir niemand mehr, wie sie wirklich hieß oder woher sie stammte. Dieser Umstand bedrückte sie sehr. Nur deshalb habe ich sie hier anonym beerdigen lassen. Ich wollte nicht, dass auf ihrem Grabstein bis in alle Ewigkeit eine Lüge steht. Es reicht schon, dass sie ihren richtigen Namen in dieser Welt nicht tragen konnte.“

Margot stöhnte auf, und Torben sah das Schimmern in ihren Augen. Sie fing sich jedoch rasch, streckte ihren Rücken durch und sagte: „Genug davon! Deshalb sind Sie nicht hier! – Also Torben, was wollen Sie wissen? Für mich ist es jetzt sowieso vorbei und ich werde vermutlich bald vor meine Schöpferin treten.“

Torben hatten Margots Worte, als sie von seiner Tante gesprochen hatte, tiefer bewegt, als sie vielleicht vermuten würde. Ihre Trauer war – genauso wie seine eigene über den Verlust seiner Mutter – aufrichtig und in ihrer Stimme hatten Liebe und Wärme geklungen. Er fühlte sich ihr fast verbunden. Sie beide hatten Menschen geliebt, die zur selben Familie gehörten.

Er musste sich daher regelrecht zwingen, erneut seine Fragen zu stellen. Aber nach einem kurzen Räuspern begann er endlich, zum ursprünglichen Thema zurückzukehren: „Rema war Eva Brauns Tochter und hat den Orden quasi geführt, richtig?“

„Grundsätzlich kann ich Ihnen zustimmen, der Orden wird aber nicht von einer Einzelperson beherrscht.“

„Gut, dann formuliere ich es anders: Sie haben damals angedeutet, dass eine der Meisterinnen alle anderen gegen mich aufgebracht hat. War das Rema?“, präzisierte Torben seine Frage.

„Ja, das stimmt! Die meisten von uns sehen uns nicht in der Tradition von Racheengeln und bevorzugen, wie Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben ist, eine Form des Agierens, die keinerlei Aufsehen erregt!“

„Also war letztendlich Rema für das Töten verantwortlich – Konrad Reiher, Michael, meine Mutter und alle anderen? Sie hat Nicole beauftragt?“

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