Germanias Vermächtnis

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Wie die gekreuzten blauen Schwerter belegten, war die Teetasse aus echtem Meissener Porzellan und Torben stellte sie vorsichtig – darauf bedacht, sie nicht zu zerbrechen – neben seinem aufgeschlagenen Notizbuch ab.

Obwohl er schwarzen Tee nicht mochte, hatte er es nicht übers Herz gebracht, das Angebot der alten Dame, die ihm und dem Professor gegenüber saß, auszuschlagen. Während sie Milch bevorzugte, hatte Torben das heiße Getränk mit viel Zucker für sich genießbar gemacht.

Natürlich hatten sie Semmlers Angebot sofort angenommen, seine Tante und offensichtliche Zeitzeugin der Kriegsjahre kennenzulernen. Spätestens als er erfahren hatte, dass Mathildes Quedlinburg im Zweiten Weltkrieg auch nichts anderes als ein riesiges Krankenhaus gewesen war, wusste Torben, dass die Priesterinnen die Stadt – wie Bad Mergentheim – ebenfalls dazu genutzt hatten, um erneut in einer Menge medizinischen Personals unterzutauchen. Schließlich musste es ihr innerer Antrieb gewesen sein, das Wissen anzuwenden, das sie über Jahrhunderte über das Heilen von Krankheiten und Verletzungen gesammelt und von Generation zu Generation weitergegeben hatten.

Schon der Hinweis der sterbenden Margot hatte in ihm den Verdacht aufkommen lassen, dass das Geheimnis, dem sie nachspürten, auch mit den letzten Kriegstagen in Verbindung stehen könnte. Insoweit gab es nichts Besseres, als mit jemandem zu sprechen, der diese Zeit noch selbst hautnah erlebt hatte. Semmlers Hinweis aufnehmend, hatte Torben vorgeschlagen, lediglich gemeinsam mit dem Professor dessen Tante aufzusuchen. Auch wenn zumindest Levitt sie augenscheinlich gerne begleitet hätte, kam von niemandem Widerspruch. Offenbar hatten beide in ihrer Gruppe noch immer so etwas wie ein Exklusivrecht, einen Bonus, weil sie es waren, die vor einigen Monaten zuerst die Tore zur Geschichte weit aufgestoßen hatten.

Frieda Kern erwies sich als zähe, kleingewachsene Frau, deren Lederhaut verriet, dass sie ihr ganzes Leben im Freien verbracht hatte. Das Fehlen jeglicher Fettpolster und ihr sehniger Körperbau zeigten, dass dieses Leben vermutlich mit harter körperlicher Arbeit verbunden gewesen war.

Nun lebte sie am Rande Quedlinburgs allein in einer kleinen Zweiraumwohnung, welche die Masse der Andenken an die verschiedenen Stationen ihres Lebens kaum fassen konnte. Umrahmt von Fotografien, kleinen Schnitzereien, Figuren, Muscheln und einer Vielzahl anderer billiger Souvenirs stand dabei die Schwarzweißaufnahme eines Mannes im reiferen Alter quasi im Zentrum der Erinnerungsstücke. Frieda Kern hatte ihnen bereits erzählt, dass es sich dabei um ein Foto ihres vor einigen Jahren verstorbenen Ehemannes handelte. Sie erklärte ihnen auch ihr genaues Verwandtschaftsverhältnis zu Semmler, dem Fremdenführer und Neffen der alten Dame, der sie einander vorgestellt hatte, jetzt aber wieder anderen Geschäften nachging.

Torben hörte an dieser Stelle möglicherweise nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu, beobachtete aber umso genauer.

Er schätzte Frieda Kerns Alter auf circa achtzig Jahre, ihre verkrümmten Finger schienen ein sicheres Anzeichen von Arthrose und mit der getrübten Linse des rechten Auges sah sie sicherlich nicht mehr viel. Dennoch wirkte sie agil und besaß noch immer einen wachen Verstand. Schon allein aufgrund ihres Alters erinnerte sie ihn an seine Großmutter. Er mochte sie auf Anhieb, fühlte sich auf der eigentlich viel zu weichen Couch inmitten ihres Plunders ausgesprochen wohl und war gespannt, was sie zu berichten hatte. „Sie wollen also etwas über den Domschatz und sein Verschwinden hören“, begann Frieda Kern kurz darauf.

„Das Verschwinden, das Wiederauftauchen, alles was nicht in irgendwelchen Zeitungen stand.“ Torbens offenes Lachen war ehrlich gemeint und öffnete das Herz der alten Dame. Sie seufzte. Mit Blick auf das Foto ihres verstorbenen Mannes begann sie zu erzählen.

„Mein lieber Willi, Gott hab ihn selig, war ein ausgesprochen treuer und liebevoller Mann. Aber manchmal“, sie lächelte verschmitzt, „mögen Frauen eben auch das blanke Gegenteil. Schroffheit und Desinteresse können auch sehr anziehend sein.

Zum Kriegsende im Frühjahr 1945 war ich gerade einmal dreizehn Jahre alt und unsterblich in einen zwei Jahre älteren Jungen verliebt, der natürlich nichts von seinem Glück wusste. Natürlich war Krieg, aber wir waren auch Kinder. Wir sprühten vor Energie und Lebensfreude trotz all dem Leid um uns herum.

Ich versuchte natürlich, die Aufmerksamkeit des Jungen zu erregen. Aber was ich auch machte, nichts wollte klappen. Rückblickend ist das auch nicht verwunderlich, denn meine Mutter verhalf mir jeden Morgen zu schrecklich bieder aussehenden Zöpfen, und von weiblichen Rundungen war bei mir noch nichts zu sehen. Vermutlich sah ich eher wie eine Elfjährige aus, ein Umstand, der wenig später bei der Vielzahl stationierter amerikanischer und danach russischer Soldaten gar nicht schlecht war. Als junges Mädchen nicht aufzufallen, war damals eindeutig ein großer Vorteil, denn es gab immer wieder Fälle, wo sich die ausgehungerten Männer gewaltsam nahmen, was sie begehrten.

Kurzum, es gab also diesen Jungen. Sein Name war Carl, und ich suchte auf plumpe Art und Weise ständig seine Nähe. Wenn er mit seinen Freunden auf der Straße Fußball spielte, schaute ich – natürlich betont desinteressiert – zu. Wenn er mit seinen Eltern sonntags in der Kirche war, drängte ich in seine Richtung. Jeden Abend vor dem Schlafengehen galten meine letzten Gedanken ihm und unserer gemeinsamen Zukunft. Alles andere war mir egal.

Carl besaß ein gewisses zeichnerisches Talent. Es kam dabei schon einmal vor, dass er jemanden für einen Groschen mittels Bleistift porträtierte. Obwohl ich wochenlang ein solches Geldstück bei mir trug, habe ich ihn natürlich nicht gefragt, ob er mich auch einmal malen könnte. Zu groß war meine Angst, dass er mich auslachen oder abweisen würde.

Plötzlich erreichte der Krieg aber auch unsere Stadt und das Leben änderte sich über Nacht. Die Amerikaner rückten ein, durchsuchten jedes Haus, jeden Schuppen, jede Scheune und jeden Keller. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Gesichter der beiden Soldaten, die das Haus meiner Eltern kontrolliert haben, noch immer vor mir, solche Angst hatten wir damals, dass sie uns ausrauben und erschlagen würden. Im Großen und Ganzen verhielten sie sich aber den Umständen entsprechend höflich, wohl auch, weil meine Mutter ihnen ein paar Gläser eingemachtes Obst schenkte.

Wer den Alliierten allerdings suspekt vorkam, allen voran Männer im wehrfähigen Alter, in denen man Wehrmachtssoldaten oder SS-Angehörige vermutete, wurde in Gewahrsam genommen und verhört. So erging es dann auch dem Ehemann von Carls Schwester, der eigentlich nur wegen einer in Russland erlittenen Handverletzung nicht mehr an die Front zurückkehren musste. Er wurde sofort in das Gemeindehaus gebracht, das kurzerhand zum Gefängnis umfunktioniert worden war.

Carl suchte natürlich einen Weg, seinen Schwager zu befreien und trieb sich deshalb in der Nähe der GIs herum. Er muss sehr schnell bemerkt haben, dass einige höherrangige Soldaten im Besitz von sogenannten Entlassungsscheinen waren, in denen lediglich der Name der freizulassenden Person eingetragen werden musste. Um an ein solches Dokument zu gelangen, wählte er sich auf dem Marktplatz einen jungen Offizier mit weichen Gesichtszügen aus, und über sein zeichnerisches Talent – er bot ihm an, ihn zu porträtieren – konnte er mit ihm in Kontakt treten.“

„Ich vermute, das war Joe Thomas Meador, nicht wahr, mein Liebe?“, dem Professor fiel es wieder einmal schwer, stillschweigend zu lauschen.

„Ja, sein Name war Meador. Sie haben also von ihm gelesen?“

Professor Meinert nickte, und Torben, der sich nebenbei die eine oder andere Notiz gemacht hatte, schloss die Frage an: „Muss mir dieser Name etwas sagen?“

Der Professor blickte in Frieda Kerns Richtung, als wolle er sich die Erlaubnis für seine Antwort holen. Ihren angedeuteten Lidschlag verstand er als Einwilligung und erklärte Torben: „Wir sagten Ihnen doch bereits, dass jeder Historiker die Odyssee des Domschatzes kennt. Meador war für sie verantwortlich!

Er war Oberleutnant des 87. US-Artillerie Bataillons. Er war knapp dreißig Jahre alt, als er ab 1944 in Europa gegen die Nazis kämpfte. Von Bedeutung ist, dass er vor dem Krieg Kunstgeschichte studiert hatte und dadurch, im Gegensatz zu seinen Kameraden, – sagen wir einmal – besonderes Augenmerk auf historische Gebäude und Artefakte legte. Oder, um es anders auszudrücken, er brachte alles, was von Wert sein könnte, in seinen Besitz und schickte es gut gepolstert und sorgfältig verpackt per Feldpost an seine Familie nach Texas, egal ob nun Silberbestecke, Porzellan oder Ölgemälde. Nicht nur einmal wurde er deshalb von seinen Vorgesetzten gerügt. Ich erinnere mich dunkel, dass er deshalb auch vor einem Kriegsgericht gestanden hat. Das hielt ihn natürlich nicht von seinen Beutezügen ab, vielmehr wurde er nur vorsichtiger, darauf bedacht, künftig nicht mehr ertappt zu werden. Und er war selbstverständlich kein Einzelfall. Viele andere alliierte Soldaten taten es ihm überall in Europa gleich. Das ist ganz typisch für Kriege, erinnern Sie sich bitte nur einmal an die US-Invasion im Irak des Sadam Hussein und die Kunstgegenstände, die dort abhandenkamen.

Aber genug davon und zurück zu dem Jungen, von dem Frau Kern gerade sprach. Ihm ist es jedenfalls tatsächlich gelungen, eben diesem Meador einen Entlassungsschein zu entwenden. Der hat es nicht einmal bemerkt. Für ihn war nur wichtig, dass er endlich jemanden gefunden hatte, der sein künstlerisches Interesse teilte oder zumindest ein gewisses Talent für Malerei besaß. Also freundete er sich mit Carl an. Vielleicht war er es sogar, der Meador einen geheimen Zugang zu den Altenburger Höhlen gezeigt hat, in denen der Domschatz einige Jahre zuvor eingelagert worden war. Selbstverständlich hatten die Amerikaner das Versteck schon gefunden, allerdings bewachten sie nur den Haupteingang, weil sie dachten, es gebe nur einen Weg ins Innere.

 

Meador gelangte aber trotzdem unbemerkt hinein und stahl die wertvollsten zwölf Artefakte der Stiftskirche aus dem Bergstollen. Auch diese schickte er wieder zu seiner Mutter in die Staaten. Als er Monate später selbst nach Hause zurückkehrte, verkaufte er die Stücke jedoch nicht, sondern behielt sie selbst. Erst Jahrzehnte später, Jahre nach seinem Tod, versuchten seine Erben in den Achtzigerjahren, die Relikte nach und nach auf dem internationalen Kunstmarkt zu veräußern. Natürlich erregten sie Aufsehen, deutsche Behörden schalteten sich ein, anfangs flossen Millionen in Richtung der Verkäufer, es gab Prozesse und man überschüttete sich gegenseitig mit Vorwürfen.“

„Letztendlich kehrten aber zehn Reliquien auf ihren angestammten Platz zurück, nicht wahr?“, fragte Torben nach.

„Ganz richtig, mein Sohn“, meldete sich auch Frau Kern nun wieder zu Wort. „Das sogenannte Bergkristall-Reliquiar und ein Umhängekreuz fehlen allerdings bis heute.“ Sie lächelte geheimnisvoll. Torben spürte förmlich, dass sie genau wegen dieses Umstandes hier waren. Er fragte sie ganz direkt: „Spannen Sie mich bitte nicht weiter auf die Folter. Was wissen Sie darüber?“

„Über die Umstände des letztendlichen Verschwindens in den Vereinigten Staaten weiß ich gar nichts. In den Zeitungen stand nur, dass beide Gegenstände in Dallas abhandengekommen sein sollen. Mehrere Zeugen berichteten, sie weit nach Kriegsende noch im Besitz von Meador gesehen zu haben. – Allerdings“, ihr spitzbubenhaftes Lächeln kehrte zurück, „habe ich als junges Mädchen eine Beobachtung gemacht, die mit eben diesen beiden Gegenständen in Verbindung stehen könnte.“

Bedeutungsvoll nahm Frieda Kern noch einen Schluck aus der Teetasse und begann danach zu erzählen: „Natürlich sprach es sich sehr schnell herum, dass Carl viel Zeit mit einem US-amerikanischen Offizier verbrachte. Während einige ihn für diesen Umgang mit dem Feind verachteten oder wieder andere ihn um seine neuen, guten Beziehungen beneideten, überwältigte mich ein völlig anderes Gefühl, nämlich Eifersucht! Was treibt wohl ein erwachsener Mann mit einem zarten Jungen, der halb so alt wie er selbst ist? Wieso verbringt er seine Freizeit mit ihm? Auch wenn es Carl nicht gemerkt hat, ich habe gespürt, welche Neigungen Meador hatte.

Es machte mich zu dieser Zeit jedenfalls völlig verrückt, mir vorstellen zu müssen, was Meador mit meinem Carl jeden Nachmittag, wenn sie verschwanden, anstellte. Also passte ich sie eines Morgens ab und verfolgte ihren Jeep mit meinem alten und viel zu großen Damenrad. Glücklicherweise schien es Meador nicht eilig zu haben und mir gelang es dadurch, an ihnen dranzubleiben. Natürlich wurde der Abstand zwischen uns immer größer und irgendwann verlor ich sie gänzlich aus den Augen.

Außer Atem wie ich war und völlig betäubt von dem Gedanken an meine Jugendliebe, kam mir aber Aufgeben nicht einmal ansatzweise in den Sinn. Ich folgte der Straße, einem ungepflasterten Feldweg, immer weiter. An Kreuzungen versuchte ich anhand von frischen Fahrspuren, die richtige Richtung zu erahnen und drang dabei in den Wald über den Altenburger Höhlen vor, viel weiter, als jemals zuvor. Ich wusste, dass es Gerüchte gab, dass sich hier noch versprengte deutsche Soldaten aufhalten sollten, die unter anderem Waffendepots bewachten. Mein Sinn für Gefahr kehrte allmählich zurück, und ich begann langsam, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Gerade als ich umkehren wollte, erblickte ich jedoch in einiger Entfernung Meadors Wagen und schöpfte wieder neuen Mut. Er stand, abwärts des Weges geparkt, nur einhundert Meter von mir entfernt. Meador war außerhalb des Autos, und Carl konnte ich hinter der Frontscheibe im Inneren entdecken. Es schien, als wäre er in ein Buch vertieft. Er nahm nichts von seiner Umgebung wahr.

Zu meiner völligen Überraschung lief aber Meador plötzlich und scheinbar zielgerichtet los. Über der Schulter hing ihm lose ein Rucksack, der offensichtlich leer war. Ich konnte erkennen, wie er langsam den kleinen Hang des Hügels hinaufkletterte. Ab und an stützte er sich dabei an einem Baum ab. Bei diesen Gelegenheiten blickte er sich regelmäßig um, als ob er sicher gehen wollte, nicht verfolgt zu werden.

Ich war damals völlig verwirrt, weil ich mich wohl getäuscht hatte und gleichzeitig doch unendlich erleichtert, dass Meador mit meinem geliebten Carl gar kein geheimes Schäferstündchen verbrachte. Aber was machte er dann mitten in dieser Einöde?

Um der Frage nachzugehen, versteckte ich schnell mein Fahrrad in einem Graben hinter einem Gebüsch und folgte Meador vorsichtig. Das war übrigens nicht so einfach, wie es sich jetzt vielleicht anhört. Ich nutzte dafür umgestürzte Baumstämme, Gestrüpp und Bodensenken, immer darauf bedacht, dass er mich nicht sah oder hörte. Plötzlich – ich war vielleicht sechzig Meter von ihm entfernt – blieb er in einer kleinen Vertiefung, ähnlich einem Trichter, stehen. Er hantierte kurz an irgendetwas herum und war einen Moment später wie vom Erdboden verschluckt.

Als ich auf diese Stelle zu robbte, schlug mir das Herz bis zum Hals, da Meador ja jederzeit wieder auftauchen konnte. Aber nichts dergleichen geschah und so erreichte ich …“

Frau Kern brach mitten im Satz ab und griff erneut zur Tasse.

Torben, ungeduldig wie immer, fragte sofort nach: „Was erreichten Sie?“

„Was glauben Sie denn, was sie gefunden hat?“ Der Professor lächelte, als er das sagte. „Sie wird den geheimen Zugang zu den Altenburger Höhlen gefunden haben, den Meador genutzt hat, um nach und nach den Domschatz zu stehlen, während der Haupteingang von seinen Kameraden bewacht wurde. Nicht wahr, meine Liebe?“

„Ganz recht!“, bestätigte Frau Kern schmunzelnd die Vermutungen Professor Meinerts. „Ich fand damals einen Belüftungsschacht, der vermutlich künstlich in den Berg getrieben worden war, weil man ja die Höhlen auch als Luftschutzbunker nutzen wollte. Eigentlich war dieser Zugang mit einem schweren Eisengitter verschlossen, aber das stand jetzt offen und selbst ein Schloss konnte ich nirgends sehen. Der Schacht war schmal, gerade breit genug, dass sich ein erwachsener Mann noch durchzwängen konnte. Und Meador war genau dies offensichtlich gelungen.

Zufrieden mit meiner Entdeckung zog ich mich wieder zurück und versteckte mich in der Nähe hinter einigen mit Moos überzogenen Felsen. Ich brauchte Geduld, denn erst etwa eine Stunde später sah ich von dort, wie zunächst Meadors Kopf aus dem Loch hervorschaute und kurz darauf der restliche Körper folgte. Ich beobachtete ihn, wie er das Gitter wieder schloss und mit einigen Zweigen und Laub tarnte. Sein Rucksack schien mir jetzt prall gefüllt zu sein. Er zündete sich eine Zigarette an und machte sich offensichtlich gut gelaunt auf den Rückweg zu seinem Auto.

Ich folgte ihm wieder genauso vorsichtig und mit einigem Abstand. Wenig später sah ich, wie Meador, nachdem er seine Beute im Kofferraum verstaut hatte, gemeinsam mit Carl wegfuhr. Als ich mir relativ sicher war, dass sie nicht doch umdrehten, lief ich zum Lüftungsschacht zurück.

Dort angekommen, gelang es mir mit viel Mühe, das Gitter aufzudrücken. Ich blickte in die Dunkelheit, und mir schlug kühle und leicht modrige Luft entgegen, die mich frösteln ließ. Ich wollte unbedingt wissen, was dort unten war. An Ungeheuer und Monster glaubte ich sowieso nicht – nicht nach diesem Krieg – und Meador war wieder weggefahren. Vor wem sollte ich also Angst haben? Und so kletterte ich langsam die in die Felswand getriebenen Eisensprossen hinunter, die schon mit einer Rostschicht überzogen waren, immer darauf bedacht, auf dem nassen Metall nicht auszugleiten.

Es war ein schöner Frühlingstag Anfang Mai, sodass mir die mittlerweile hoch am Himmel stehende Sonne halbwegs Licht spendete. Außerdem sagte ich mir, sollte es zu dunkel werden, würde ich eben einfach umdrehen. Aber ich hatte Glück, als ich nach etwa zehn Metern wieder festen Boden spürte, stieß ich mit meinem Fuß an einen Gegenstand, der mit einem leisen, metallischen Klicken zur Seite rollte. Ich tastete danach und konnte es kaum fassen. Es war eine Taschenlampe! Meador musste sie zurückgelassen haben, vielleicht für seinen nächsten Besuch.

Sie funktionierte, und so konnte ich mich umsehen. Der Gang, in dem ich mich befand, war nur wenig größer als der Schacht über mir. Einige der Flächen erschienen unnatürlich glatt. Wahrscheinlich hatte man für die Belüftung der Höhlen, um sie als Bunker zu benutzen, einfach einen Felsspalt vergrößert. Der Gang verlief nahezu waagerecht und führte mit einer Rechtsbiegung von mir weg, sodass ich nur die ersten Meter ausleuchten konnte.

Selbstverständlich war ich unglaublich aufgeregt. Aber Umdrehen kam für mich damals nicht in Frage, zu groß war meine Neugier, was sich am Ende des Ganges verbergen könnte. Ich wollte es unbedingt wissen! Also drang ich mit Hilfe der Taschenlampe immer tiefer in die Höhle vor.

Ich war etwa dreißig Meter gegangen, da vernahm ich Geräusche. Ich schaltete das Licht so schnell ich konnte aus und hoffte, dass mich bislang niemand bemerkt hatte. Plötzlich fiel mir ein, dass es Meador sein könnte, der doch noch einmal zurückkehrte und sich mir nun von hinten näherte. Ich stellte mir vor, wie er längst das geöffnete Abdeckgitter und die fehlende Taschenlampe entdeckt hatte und jetzt den Eindringling mit gezogener Waffe jagte, bereit ihn zu töten. Schon spürte ich seinen starken Griff an meinem Hals. Ich bekam trotz der Kühle unter der Erde einen Schweißausbruch und Panik stieg in mir hoch. Was sollte ich nur machen? Er würde mich sicherlich jeden Moment ermorden, weil ich sein Geheimnis entdeckt hatte.“

Frieda Kern machte erneut eine Pause, blickte ihre Besucher an und fragte: „Noch etwas Tee?“

Torben prustete regelrecht los, so musste er lachen: „Tee? Sie fragen an der spannendsten Stelle der Geschichte, ob wir noch etwas Tee trinken möchten? Ich wage kaum zu atmen, damit ich alles, was Sie erzählen, auch ganz genau höre! Sie sind einfach unglaublich, meine Liebe!“

Frieda Kern lächelte und antwortete mit einem Augenzwinkern: „Ich weiß! Ich wollte ja nur feststellen, ob Sie mir noch zuhören.“

„Natürlich tun wir das. Und nun erzählen Sie schon, was passierte weiter?“, forderte Torben sie auf.

„Da ich vor Ihnen sitze, liegen Sie mit Ihrer Vermutung richtig, dass es nicht Meador war, der sich gemeinsam mit mir in der Höhle befand.“

Sie nippte erneut an ihrer Tasse und Torben lächelte in sich hinein. Ihre Gastgeberin verstand es wirklich, sich ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Er hätte sie gern in jüngeren Jahren kennengelernt. Er konnte sie sich gerade sehr gut als verwegenes dreizehnjähriges Mädchen vorstellen.

Sie sprach nun doch endlich weiter: „Da kein nach Blut lechzender Meador in der Dunkelheit auftauchte, beruhigte ich mich langsam und konzentrierte mich auf die Geräusche, die ich hörte. Sie kamen weder näher noch aus Richtung meines Einstiegs. Ihre Quelle lag also vor mir. Kurzerhand steckte ich mir die Taschenlampe in den Hosenbund, damit ich sie nicht aus Versehen gegen die Felsen schlug und tastete mich danach langsam und vorsichtig in der Dunkelheit weiter nach vorn. Nach einiger Zeit konnte ich die Wände und Konturen des Schachts wieder schemenhaft erkennen. Vor mir gab es also eine Lichtquelle. Außerdem wurden aus den unverständlichen Geräuschen langsam aber sicher mehrere Stimmen und kratzende beziehungsweise schlagende Laute.

Da ich wieder mehr sah, kam ich auch schneller vorwärts, und nach wenigen Minuten stieß ich auf eine geräumige Höhle. Sie lag etwa zwei Meter unterhalb meines Spalts, der durch einen Vorsprung in der Wand von unten sicherlich kaum zu erkennen war.

Ich legte mich auf den Bauch und kroch zum Ende meines Ganges. Vorsichtig spähte ich nach unten.

Ich sah dutzende große und kleine Kisten, provisorisch aus alten Brettern oder neuem, unbehandelten Bauholz gefertigt, die in der Mitte einer wahrlich riesigen Höhle lagerten. Ich wusste sofort, dass ich auf den Schatz der Quedlinburger Kirchen gestoßen war. Als durch die Bombenangriffe der Engländer die ersten historischen Gebäude in Deutschland brannten, hatten unsere Stadtoberhäupter nämlich beschlossen, vorsichtshalber alle wertvollen Gegenstände auszulagern, damit uns nicht das Gleiche widerfahren konnte. Nur wenige Eingeweihte wussten damals, wo die Sachen deponiert worden waren.

 

Wir Kinder träumten natürlich davon, zufällig auf diesen Schatz zu stoßen und plötzlich unermesslich reich zu sein. Mir war es offensichtlich gelungen! Und Meador auch! Plötzlich wurde mir klar, dass er nach und nach wie ein Grabräuber im alten Ägypten die historischen Artefakte plünderte.

Aber es gab auch noch andere, die von dem Aufenthaltsort wussten, denn von meiner vermutlich sicheren Position aus konnte ich zwei mir nicht bekannte Frauen beobachten, die sich im Lichte einer Petroleumlampe ebenfalls an einer der Kisten zu schaffen machten.“

Torben machte sich eifrig Notizen, und Frieda Kern wartete kurz, damit er mit dem Schreiben hinterherkam.

„Die ältere von beiden, sie trug eine zu große Männerjacke und eine graue Schirmmütze, gab Anweisungen, und die jüngere durchkramte den Behälter. Ab und an hielt sie einen funkelnden Gegenstand hoch. Doch jedes Mal schüttelte die Alte den Kopf. Das jeweilige Objekt wurde danach wieder sorgfältig in Papier, Lumpen oder Holzspäne verpackt.

Beide Frauen waren sehr erregt, und ich hörte, wie sie offensichtlich über jemanden schimpften, ihn gar fast schon verfluchten. Sie sprachen von dem ‚elenden Hund, der das Kreuz und den Flakon‘ mitgenommen hätte. Sie sagten, dass es besser gewesen wäre, ihn gleich zu töten. Außerdem wäre es ‚eine verrückte Idee‘ gewesen, die Hinweise in den Gegenständen zu verstecken. Ich nehme an, dass sie Meador meinten.“

„Moment, bitte nicht so schnell! Wenn Sie erlauben? Ich habe gleich an dieser Stelle ein paar Nachfragen“, unterbrach der Professor, und Frieda Kern reagierte mit einem kurzen Kopfnicken.

Professor Meinert setzte an: „Sie haben also vermutlich in der Altenburger Höhle, in der der ausgelagerte Domschatz lagerte, zwei Frauen überrascht?“

„Genau, das sagte ich.“

„Aber, wie kamen die beiden in die Höhle?“

„Sie wussten offensichtlich genauso wie Meador von den Belüftungsschächten. Ich sah, wie sie die Höhle etwas später durch einen anderen auf der gegenüber liegenden Seite verließen.“

„Also gab es mehrere davon?“

„Offensichtlich!“

„Ist Ihnen an den beiden Frauen irgendetwas Besonderes aufgefallen? Sprachen Sie sich mit Namen an?“, erkundigte sich der Professor weiter.

„Ihre Gesichter konnte ich kaum erkennen. Die Ältere war vielleicht um die sechzig. Die andere halb so alt. Sie trugen Hosen. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Das taten schon damals viele Frauen, weil es einfach zweckmäßig war. Die Kleidung war hochwertig, aber stark verschmutzt, als ob sie länger nicht gewechselt worden war. Es fielen weder Namen, noch kann ich mich sonst an irgendetwas Besonderes erinnern. Es tut mir leid.“

Torben gefiel nicht, wie der Professor die alte Dame regelrecht vernahm. Er schaltete sich wieder ins Gespräch ein: „Frau Kern, machen Sie sich darüber keine Gedanken. Was Sie uns erzählt haben, hilft uns wirklich weiter. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, suchten die beiden Frauen nach zwei Gegenständen, die Sie ‚Kreuz‘ und ‚Flakon‘ nannten. Wurden sie noch fündig?“

„Nein, und das verärgerte sie ungemein. Sie beratschlagten, was sie tun könnten. Ich hörte, dass sie darauf hofften, dass die Gegenstände vielleicht irgendwo zum Kauf angeboten würden. In ihren Augen könnte der Soldat – sie kannten Meadors Namen ja nicht – die ganzen Sachen nicht ständig mit sich herumtragen.“

„Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass er sie per Feldpost nach Hause schicken würde“, brummte der Professor.

„Vermutlich“, pflichtete ihm ihre Gastgeberin bei.

„Und diese beiden Gegenstände, von denen wir gerade sprechen, Sie meinen, das könnten die beiden noch immer verschollenen Artefakte des Domschatzes sein?“, fragte Torben.

„Nach allem, was ich gelesen habe, fehlt noch immer von einem Bergkristallreliquiar in Form einer Bischofsmütze – das könnte der ‚Flakon‘ sein – und einem aufklappbarem Kruzifix – also nichts anderem als einem Kreuz – jede Spur! Meine Antwort lautet also: Ja!“ Torben bohrte nach: „Und Sie haben ganz genau gehört, dass in diesen Artefakten Hinweise versteckt gewesen sein sollen?“

„Ja, mein Sohn! Das sagte ich bereits!“, antwortete Frieda Kern freundlich und lehnte sich zufrieden zurück.

Mit der Bemerkung „Unglaublich“ tat Torben das Gleiche.

Professor Meinert hatte jedoch noch weitere Fragen und wandte sich nochmals an Frau Kern: „Haben Sie sich die Kisten genauer angeschaut?“

„Nein, das habe ich nicht. Ich hatte Angst, dass ich es vielleicht nicht schaffen würde, an der glatten Wand wieder in meinen Schacht hochzuklettern.“

„Meador ist es doch auch gelungen?“, wandte der Professor ein.

„Ja, er war aber auch ein erwachsener Mann und ich nur ein halbwüchsiges Mädchen!“, konterte ihre Gastgeberin. „Ich wartete noch einige Minuten in der Dunkelheit, bis die beiden Frauen, die wirklich unglaublich wütend darüber waren, dass ausgerechnet diese beiden Stücke ebenfalls entwendet worden waren, in ihren Felsspalt verschwanden. Danach trat ich ebenfalls den Rückweg an und kletterte nach einer knappen Viertelstunde aus dem Loch ins Freie.

Die Taschenlampe hatte ich zuvor selbstverständlich wieder an die Stelle gelegt, wo ich sie gefunden hatte, damit Meador bei einer eventuellen Rückkehr keinen Verdacht schöpfte. Das Lüftungsgitter schloss ich ebenfalls und tarnte es wieder mit Moos und Ästen. Als ich zu meinem Fahrrad ging, hielt ich nach den beiden Frauen Ausschau, schließlich mussten sie kurz vor mir an die Erdoberfläche zurückgekehrt sein, wenn auch an anderer Stelle. Sie hatten allerdings offenbar einen mir unbekannten Weg eingeschlagen, denn ich konnte sie nirgends entdecken.

Als ich endlich wieder auf meinem Rad saß, folgte ich einer spontanen Eingebung und radelte den Weg noch einen halben Kilometer weiter. Dabei umrundete ich quasi den Altenburger Berg. Plötzlich tauchten vor mir in einiger Entfernung ein Fahrzeug der US-Armee und zwei Armeezelte auf. Ich sah, dass einige GIs gelangweilt im Schatten einiger Bäume Karten spielten oder schliefen. Im Hintergrund konnte ich eine Felswand erkennen. Zufrieden, dass ich jetzt den Haupteingang zum Höhlensystem gefunden hatte, der tatsächlich wie vermutet von den Alliierten bewacht wurde, drehte ich um und kehrte nach Hause zurück.“

„Haben Sie damals irgendjemandem von Ihren Erlebnissen berichtet?“, wollte Torben wissen.

„Um Himmels willen, nein, natürlich nicht!“, lachte Frieda Kern. „Was glauben Sie denn, was mein Vater mit mir gemacht hätte? Er hätte mich für meinen Leichtsinn grün und blau geschlagen! Ich habe es schön für mich behalten und bin auch nie wieder dorthin gefahren.

Im Laufe der Zeit habe ich das Erlebte einfach vergessen. Andere Sachen in meinem Leben waren wichtiger. Familie, Beruf, Freud und Leid. Erst als der Schatz wiederentdeckt wurde und nach Quedlinburg zurückkehrte, erinnerte ich mich daran. Als dann auch noch von zwei fehlenden Gegenständen berichtet wurde, die just in meine Geschichte passten, erschien mir das sehr ungewöhnlich, sodass ich mit Verwandten oder Freunden – so wie jetzt mit Ihnen – darüber gesprochen habe.

Vorher hatte ich dies nicht ein einziges Mal getan. Damals genügte mir mein Wissen, dass Carl nicht Meadors Liebhaber war.

Er hatte ihn wahrscheinlich lediglich zur Höhle oder den Belüftungsschächten geführt. Vielleicht kannte Carl die Gegend von den Kriegsspielen und Manövern, die die Hitlerjugend immer dort abgehalten hatte und bei denen er möglicherweise zufällig auf die Zugänge gestoßen war.

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