Читать книгу: «Geschichte der Sonderpädagogik», страница 6

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Christian August Schlick erlebte die zweimalige Besetzung Meißens durch Napoleon (1806 und 1812/1813). Im September/Oktober 1813 stand Meißen im Zentrum der Kampfhandlungen. Nach der ‚Beschlagnahme‘ unentbehrlicher Arbeitsmittel, Werkzeuge, Brennstoffe und Feuerlöschgeräte durch preußische und russische Offiziere mußte die Arbeit in der Manufaktur im September 1813 völlig eingestellt werden […] Der in Dresden residierende russische General-Gouverneur Fürst Repin reformierte die Meißner Manufaktur radikal. Ihre Belegschaft wurde auf 328 Mitarbeiter reduziert. Christian August behielt seinen Job in der Brennerei. Aber in die neu eingeführte vier-klassige Rangordnung der Porzellanmaler […] fand er keinen Eingang […] Christian August Schlick blieb trotz angegriffener Gesundheit bis ins hohe Alter berufstätig. Im Alter von 70 Jahren […] verstarb der gehörlose Porzellanmaler ohne den Pinsel aus der Hand gelegt zu haben. Die Sterbe-Caße der Porzellanmanufaktur Meißen stellte für seine Beerdigung 70 Taler und 6 Groschen bereit.“ (Feige 1999, 51f)

Als nach dem Tode Samuel Heinickes 1790 dessen Witwe für die weitere Existenz der Schule kämpfte, überprüfte eine Kommission, bestehend aus 30 Professoren der Leipziger Universität, die Leistungen der Schüler. Das Gutachten fiel insgesamt positiv aus, und damit war die Voraussetzung für das Fortbestehen des Instituts gegeben; nur eine Sache wurde negativ vermerkt: Die Schüler zeigten ungenügende Leistungen im Schreiben mit Feder und Tinte auf Papier.

Tagebuch-aufzeichnungen

Die erfindungsreiche Anna C. E. Heinicke ersann ein didaktisches Mittel, um diese Fertigkeit bei den Schülern zu üben: Sie regte zum Schreiben von Tagebüchern an. Aus den Tagebuchaufzeichnungen des Schülers Adam Ernst G. Backmann erfahren wir nicht nur etwas über den Alltag innerhalb des Taubstummeninstituts, sondern auch über die Kontakte zur Außenwelt, die sich recht liberal gestalteten.

„Sehr beliebt war bei den Heinike’schen Pensionären das Bad in der Pleiße während der Sommermonate. Ein bevorzugter Spielplatz war der Boden des fünfstöckigen Miethauses am Neuen Kirchhof, in dem Heinicke sein Institut 1785 auf einer ganzen Etage untergebracht hatte. In Backmanns Aufzeichnungen finden sich Schilderungen von Spielen der Schüler und der Töchter Heinickes […] auf dem Boden. Außerdem diente er als ‚Ausguck‘. Von seinen Fenstern aus beobachteten Adam Ernst und seine Mitschüler die vorbeiziehenden Passanten, zumeist Handwerker oder Bauern auf dem Weg zum Markt. Seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung waren allerdings ausgedehnte Spaziergänge in der Allee […]

Alle seinerzeit berühmten Leipziger Gärten kannte Adam Ernst. Als ‚vorzüglich verständiger‘ Lehrling durfte er ‚ohne sichere Begleitung‘ ausgehen […] den Tagebucheintragungen nach zu schließen, nutzte er dieses Privileg ausgiebig. Überall beobachtete er die Mitbürger genau bei ihren Verrichtungen. ‚Ich habe gestern viel nackende Menschen gesehen‘, notierte er unter dem 18. Juni 1790, ‚sie hatten Hemde, Schuhschnallen, Hoth, Strümpfe, Halstuch und alle Kleider ausgezogen, badeten sich im Wasser und gingen hernach spazieren, wenn sie sich wieder angezogen hatten‘ […] Wichtig war ihm, wie ihm bekannte Personen gegenübertraten: ob sie grüßten zum Beispiel. Lobend erwähnt wurde ein Bauer namens Rudolph aus dem Heimatdorf Grethen, den Adam Ernst eines Sonntagmorgens 5 Uhr in der Grimmaischen Gasse traf: ‚Er hat den Hut vor mir abgenommen‘ […]

Als ältester ‚Lehrling‘ im Heinicke-Institut genoss Adam Ernst Backmann gewisse Vorrechte. So durfte er den Lehrer Petschke begleiten, wenn dieser für das Institut einkaufen ging. Ihm war der Schlüssel für die Speisekammer der Pension anvertraut. Zuweilen ließ er sich von der Mitschülerin Anna Dorothea Richter oder dem Mitschüler Johann Christoph Hofmann dazu verleiten, den begehrten (Kandis-)Zucker zu verteilen, wenn Madame Heinicke schlief […] Zusammen mit Christian Friedrich Irmscher wurde Adam Ernst zur Erledigung kleinerer handwerklicher Tätigkeiten in den Räumlichkeiten des Instituts herangezogen.

Adam Ernst Gottlieb Backmanns Schulzeit in Leipzig endete am 27. Januar 1792. Er mußte das Institut A. C. E. Heinickes ohne förmlichen Abschluß und ohne Konfirmationsexamen verlassen, ‚weil ihm sein Vater, ehe dieses geschehen konnte, eine Stelle in Meißen bei der dasigen Porzellanfabrike … ausbedungen hatte‘ […] wie in der Matrikel nachzulesen ist. Frau Heinicke hat das bedauert. Ihrem ehemaligen Schüler bescheinigte sie abschließend, ‚seine Gedanken ziemlich correct zu Papier bringen, auch sonst fleißig und ein guter Kopf‘ zu sein […] Den Ausbildungsplatz in Meißen hat der Vater vermutlich unter Vorlage der Blumenzeichnungen seines Sohnes erwirkt.“ (Feige 1999, 68ff)

Diese durch Selbstzeugnisse beschriebene familiäre und zugleich bildungsorientierte Lebenssituation der Leipziger Zöglinge beeindruckt als ein positives Beispiel für die ersten Bildungsanstrengungen mit behinderten Kindern und Jugendlichen – vielleicht war es sogar eine Ausnahme.

Gefährdung von Menschen mit Behinderung in Notzeiten

Zu einem Zeitpunkt, zu dem noch längst nicht für alle Kinder und Jugendliche Bildungsangebote bereitgestellt wurden, verwundert es nicht, dass die ersten planmäßigen Unterrichtsversuche für Schüler mit Behinderung zunächst in eher bescheidenen Bahnen verliefen. Die beiden Pariser Anstalten, wir erinnern uns, sind hierfür beispielhaft; denn sie waren fortwährend durch materiellen Mangel und immer weiteres Zurückdrängen des Bildungsanspruchs bestimmt. Aber auch in anderen Ländern zeigte sich das Phänomen, dass in Not- und Mangelsituationen jene am weitesten an den Rand gedrängt werden, die am bedürftigsten sind.

Gehörlosenschule Madrid

Als Napoleon Spanien besetzte und die Bevölkerung unter Entbehrung und Hunger litt, traf dies besonders stark jene junge Institution, die 1805 als staatlich unterstützte Taubstummenschule in Madrid ihre Tore geöffnet hatte. In nahezu aussichtsloser Situation siedelte der gehörlose Kunstlehrer Roberto Francisco Prádez 1811 mit sechs gehörlosen Schülern an die städtische Schule von San Ildefonso über, und der Bericht hierüber lautet:

„Dort erwartete sie ein kühler Empfang. Da die gehörlosen Jugendlichen deutlich älter waren als die Kinder an der städtischen Schule, befürchtete man, daß sie einen schlechten Einfluß ausüben könnten. Deshalb wurde rigoros die totale Trennung der beiden Gruppen durchgesetzt. Die Verbindungstür vom Zimmer der gehörlosen Schüler zum Rest der Schule wurde von außen verschlossen, der Schlüssel wurde fortgenommen und obendrein wurde noch ein Riegel über die Außenseite genagelt […] Obwohl sich auf dem Schulgrundstück ein Brunnen befand, wurde Prádez und seinen Schülern der Zugang zu diesem verweigert, und sie mußten Wasser aus einem öffentlichen Brunnen in der Nachbarschaft holen […] Sie durften nicht im Speisesaal der Schule essen, und ihre Verpflegung, zwei magere Mahlzeiten pro Tag, wurde in einem öffentlichen Gasthaus zubereitet […] Die Kinder waren barfuß, ihre ungewaschenen Kleider zu Lumpen heruntergekommen […] In einen einzigen Raum eingesperrt waren sie wie Gefangene in San Ildefonso. In derartigen Umständen fand ein Beobachter, es sei nicht […] verwunderlich, daß sie sich damit unterhalten, ihr Quartier zu ruinieren, indem sie alles in den Abort werfen, was ihnen in die Finger kommt, nachdem sie ihn vollkommen zerschlagen und den Abfluß mit Knochen, Steinen und Schutt verstopft haben.“ (Plann 1993, 75)

Dennoch, nachdem die ersten Schulgründungen für Gehörlose und Blinde erfolgt waren, war die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen international nicht mehr aufzuhalten:

erste Schulgründungen

Schulen für Gehörlose

1763: Paris, Edinburgh

1778: Leipzig, Wien

1784: Rom

1786: Prag

1787: Bordeaux

1788: Berlin

1790: Groningen

1800: Waitzen (Vác/Ungarn), Barcelona

1805: Madrid

1806: Pawlowsk, St. Petersburg

1807: Kopenhagen

1808: Gent

1809: Stockholm

1824: Trondheim

1846: Porvoo/Bargo/Helsinki

Schulen für Blinde

1791: Liverpool

1792: Edinburgh

1793: Bristol

1799: London

1804: Wien

1806: Berlin, Glasgow

1807: Mailand, St. Petersburg (Leiter Haüy)

1808: Prag, Amsterdam, Stockholm

1809: Dresden, Zürich

1811: Kopenhagen

1861: Christiania (Oslo)

1865: Helsinki

Anstalten für Taubblinde

1832: Boston/USA

1860: Larnay bei Poitiers/Frankreich

1874: New York/USA

1886: Venersborg /Schweden

1901: Edinburgh/Schottland

1906: Nowawes bei Potsdam/Deutschland

internationale Kommunikation

Dieser europäische Siegeszug einer Idee war nur möglich durch die Existenz einer internationalen Kommunikationsstruktur. Frankreich war im 18. Jahrhundert die tonangebende Kulturnation, und für gebildete Menschen in Europa war es eine Selbstverständlichkeit, in der französischen Sprache zu kommunizieren – ein berühmtes Beispiel ist der intensive Dialog zwischen Voltaire und dem Preußenkönig Friedrich dem Großen. De l’Epée und Heinicke wussten nicht nur voneinander, sondern sie führten eine europaweit beachtete, kontroverse Diskussion über die „richtige“ Methode. De l’Epée, aber auch Haüy empfingen zahlreiche ausländische Gäste in ihren Schulen, und es waren wiederum Einzelpersonen, die, angeregt durch diese Begegnungen, Institute wie etwa in Berlin (Zeune), in Wien (Stork) oder in Rom (Tommaso Silvestri) ins Leben riefen. Auch außerhalb des europäischen Festlandes, im Lande John Lockes, entwickelten sich parallel zu Paris, Leipzig und Wien erste Bildungseinrichtungen für Gehörlose und Blinde:

„Two years before Rousseau wrote Emile, and in the same year as the first Parisian deaf entered de l’Epée’s school, nine-year-old Charles Shirref became a pupil of Thomas Braidwood […] so […] began the first school for the deaf in Britain.“ (Pritchard 1963, 11)

Trotz dieses imposanten Aufschwungs könnte das Bild täuschen. Es war lange Zeit nur eine kleine Minderheit behinderter Menschen, die in den Genuss von Bildung und Erziehung kam, denn die Ideen der europäischen Aufklärung, die die Bildungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung mit einschloss, entfalteten ihre Wirksamkeit nur langsam:

„Unverkennbar, man muß einen Bruch zwischen pädagogischen Programmen und gesellschaftlicher Wirklichkeit, zwischen dem umfassenden Erziehungsanspruch und den bescheidenen Grenzen der realisierten Erziehungsreformen konstatieren. Man muß aber zugleich berücksichtigen […] dass erst mit der Aufklärung selbst dieser Bruch, die Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit systematisch als […] Problem formulierbar wird.“ (Tenorth 2008, 117)

Recht auf Bildung

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Recht auf Bildung in den entwickelten Staaten in größerem Umfang in die Praxis umgesetzt, und blicken wir auf die Gegenwart, so müssen wir feststellen, dass nicht einmal alle europäischen Länder den Bildungsanspruch für jedes behinderte Kind bislang eingelöst haben. So wird in Frankreich, dem Land der ersten Pioniere einer Pädagogik für Menschen mit Behinderung, mit zunehmender Empörung registriert, dass die Schulpflicht noch nicht für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung realisiert ist (Ellger-Rüttgardt 2016, 125ff). Geht man gar von einer globalen Sichtweise aus, so müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die verheißungsvollen Anfänge noch im 21. Jahrhundert weit davon entfernt sind, im weltweiten Maßstab gesellschaftliche Realität zu werden.

2.3 Die Erfindung neuer Methoden

Ohne die Entwicklung angepasster Methoden an die besonderen Bildungsbedürfnisse gehörloser, blinder und wenig später auch geistig behinderter Menschen hätte sich die pädagogische Spezialdisziplin der Heilpädagogik nicht etablieren können, denn nur mit Hilfe spezifischer Methoden konnte die in der Theorie anerkannte Bildungsfähigkeit jedes Menschen in der Praxis tatsächlich entwickelt werden, und somit kann zu Recht die Erfindung neuer Methoden als die „Geburtsstunde der Behindertenpädagogik“ (Drewek/Tenorth 2001, 63) gelten.

Kompensation fehlender Sinne

Methoden bei Gehörlosigkeit: Angeregt durch die Philosophie der Sensualisten und ihrer Erkenntnistheorie richtete sich das Augenmerk der „Erfinder“ auf die Frage, wie ein fehlender Sinn durch den Einsatz eines anderen kompensiert werden könne. Im Falle von Gehörlosigkeit lag ein gravierendes Problem vor, da der fehlende Gehörsinn zugleich Sprachlosigkeit nach sich zog. Somit stand zur Debatte, ob der Gehörlose in seiner „eigenen“ Sprache, also der Gebärde, kommunizieren solle – allerdings damit weitgehend isoliert von der übrigen menschlichen Gesellschaft – oder aber befähigt werden solle, die menschliche Lautsprache zu erlernen – möglicherweise um den Preis eines Verlustes von Identität.

Wie die historische Entwicklung zeigt, spitzten sich die beiden unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu wahren Gegensätzen zu, als „deutsche“ Lautspracherziehung und „französische“ Gebärdensprache zu unversöhnlichen Gegensätzen konstruiert wurden. Die Realität sah meist anders aus, nämlich sehr viel bunter. Weder Heinicke noch de l’Epée schlossen das jeweils andere methodische Verfahren aus. Wie berichtet, benutzten Heinickes Zöglinge selbstverständlich Gebärden, und ebenso versuchte de l’Epée seine Schüler auch zur Lautsprache zu erziehen. Aber – und das ist bedeutsam – die Schwerpunkte beider Verfahren unterschieden sich im Kern, und das belegt auch der kontroverse Briefwechsel zwischen den beiden Protagonisten (Heinicke 1912, 104ff).

Methode de l’Epée

Während Heinicke vor allem aus wirtschaftlichen Gründen keine präzise Darstellung seiner lautsprachlichen Methode veröffentlichte – er wollte seine Methode gewinnbringend veräußern –, hat de l’Epée ganz im Gegenteil den öffentlichen Diskurs gesucht, um seiner Methode national und international den erhofften Einfluss zu sichern. In seinem Werk „Die Unterweisung der Taubstummen durch die methodischen Zeichen“ räumte er der Darstellung seines praktischen Vorgehens breiten Raum ein. Es folgt ein Beispiel für das methodische Vorgehen de l’Epées, das sich bewusst von der Methode des Handalphabets absetzte:

„Das Handalphabet bezeichnet am Anfange den Taubstummen, die keine Sprache verstehen, nichts; es vermittelt ihnen aus sich selbst nicht das geringste Verständnis. Wenn wir, nachdem wir uns seiner bedient haben, um einen Taubstummen die Buchstaben unterscheiden zu lehren, die beiden Wörter nous portons [wir tragen] an die Tafel schreiben, wird er große Augen machen und nichts davon verstehen. Es wird ihm auch nichts nützen, wenn wir über diese beiden Wörter die drei Personen der Einzahl und unter sie die beiden andern der Mehrzahl setzen; er wird nur noch größere Augen machen und uns mit trauriger Miene ansehen. Die meisten führen ihre Hand oder ihren Finger an die Stirn und begleiten diese Geste mit dem gewöhnlichen Zeichen der Verneinung, um uns begreiflich zu machen, daß sie nichts davon verstehen. Aber nur einen Augenblick Geduld, und unserm neuen Schüler wird bald mit Hilfe unserer methodischen Zeichen das Verständnis erschlossen werden.

Ein Folioband, den wir auf den Tisch legen lassen, beginnt seine Aufmerksamkeit anzuziehen. Alle anderen Taubstummen versammeln sich um uns, und ich stelle den Neuling neben mich, zu meiner Rechten. Dann setze ich den Zeigefinger meiner linken Hand auf das Wort je [ich] und zeige gleichzeitig mit dem der rechten mich selbst, indem ich mich damit auf die Brust klopfe; sodann stelle ich den Finger meiner linken Hand auf das Wort porte [trage], nehme den Folioband und trage ihn nacheinander auf der Schulter, auf dem Arm, in den Zipfeln meines Rockes; auf dem Rücken und auf dem Kopf; alles das im Gehen und mit der Haltung eines Menschen, der sich schwer beladen fühlt. Keine meiner Bewegungen entgeht der Aufmerksamkeit des Taubstummen. Ich gehe nun zum Tische zurück und setze, um die zweite Person zu erklären, den Zeigefinger der linken Hand auf das Wort, tu [du]; gleichzeitig richte ich den der rechten Hand gegen die Brust des Taubstummen und klopfe einige mal sanft darauf, wobei ich ihn darauf aufmerksam mache, daß ich ihn ansehe; und daß er mich auch ansehen muß. Sodann setze ich den Finger auf das Wort portes [trägst] und gebe ihm den Folioband, indem ich ihm ein Zeichen mache, nun seinerseits dasselbe zu tun, was er mich zuerst hat ausführen sehen. Er fängt an zu lachen, nimmt das Buch und richtet den Auftrag sehr gut aus.“ (de l’Epée 1910, 46f)

Methodenstreit

Wie schon dargelegt, obsiegte im internationalen akademischen Streit um die adäquate Unterrichtsmethode Gehörloser zunächst de l’Epée. Spätestens jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wendete sich das Blatt, und mit den Beschlüssen des Mailänder Kongresses der Taubstummenlehrer von 1880 erfolgte wiederum eine einseitige Entscheidung, nun zugunsten der Lautsprache.

Urteil der Züricher Akademie

Ein schweizerisches Dokument, ein Artikel aus dem Feuilleton der Neuen Züricher Zeitung von 1906, erinnert an das Urteil der Züricher Akademie über den Methodenstreit zwischen Heinicke und de l’Epée von 1783 und wirft rückblickend ein differenziertes Bild auf die scheinbar so unversöhnlichen Positionen:


„Zu der Eigenart des großen Abbé de l’Epée gehört, daß er wenig Widerspruch ertrug und seine Lehrweise zwar als verbesserungsfähig, aber doch als die beste der bestehenden betrachtete. Er glaubte, der Taubstumme sei vorzugsweise nur durch den Gesichtssinn zu unterrichten, daher entspreche das geschriebene und nicht das gesprochene Wort seinen Bedürfnissen; seine Muttersprache sei die Gebärdensprache, die durch methodische Zeichen so vervollkommnet werden könne, daß sie allein es ermögliche, seine geistigen Kräfte allseitig auszubilden. Nicht dass de l’Epée die Fingersprache oder das laute Sprechen vernachlässigt hätte. Von der ersten Stunde an übte er beide nach bekannter Methode; denn jene war notwendig, um das Handalphabet zu lehren, diese wegen des Verkehrs mit den Vollsinnigen […] Allein die Fingersprache und das laute Sprechen schienen ihm so einfach und für die Erfassung der übersinnlichen Begriffe so beschränkt zu sein, daß er die größte Arbeit auf die Anwendung und Ausbildung seiner methodischen Zeichen verwandte. Es waren dies teils natürliche, teils künstlich kombinierte pantomimische Beschreibungen der zu erklärenden sinnlichen oder übersinnlichen Begriffe […]

In der Großartigkeit des Systems lag aber gerade seine Schwäche; die Fingersprache wie das eigentliche Sprechen mußten zu kurz kommen. Indem de l’Epée das Grösste wollte, die vollständige, geistige Ausbildung der Taubstummen, die ihm nur bei wenigen gelingen konnte, unterschätzte er das Nächstliegende und Einfachste, was alle Taubstummen in erster Linie nötig haben, die tägliche Umgangssprache. Abbé de l’Epée war nicht nur in seiner uneigennützigen Hingabe für die Armen, sondern auch in der groß angelegten Unterrichtsmethode Idealist.

Einen entgegengesetzten Standpunkt nahm der Zeitgenosse Epées, der Deutsche Samuel Heinicke ein, der, ein ausgezeichneter, praktischer Schulmann, dem gesprochenen Wort die erste Stelle im Taubstummenunterricht anwies […]

Leider hielt er, teils aus Spekulation, teils aus Furcht vor Mißbrauch, seine Methode geheim. Er ging von der richtigen Annahme aus, daß die Gedanken erst durch die Sprache gebildet werden und man somit auch im Unterricht der Taubstummen so schnell als möglich zum artikulierten Sprechen übergehen müsse. Die Lernfähigkeit der Taubstummen gründe sich auf Gesicht, Gefühl und Geschmack […] Auch er erreichte überraschende Resultate; geschickte Schüler vermochten die Worte von den Lippen abzulesen und mit Vollsinnigen zu reden. Natürlich erregten seine Tätigkeiten und Erfolge großes Aufsehen; weckten aber ebenso sehr Neugier, Mißtrauen und Verleumdung, in seiner Anstalt in Leipzig hatte er selten gleichzeitig mehr als 9 Zöglinge, die er kaum 4 Jahre behalten konnte. Auch fehlte es ihm nicht an ökonomischen Schwierigkeiten; er war und blieb arm. Dazu kam seine Reizbarkeit; denn Heinicke war eine streitbare Natur und griff Uebelstände und Personen schonungslos an, wenn sie ihm hindernd in den Weg traten. Besonders hatte er für die Mängel der Volksschule einen offenen Sinn, für die Klagen der Lehrer ein williges Ohr und auf die Anmaßungen der Geistlichen ein scharfes Auge. Er verstand es aber, nicht nur zu tadeln, sondern auch besser zu machen und darf füglich ein Vorläufer der modernen Pädagogik und Schule genannt werden […]

Auch Heinicke überschätzte seine Lehrart und fällte deswegen über die anderen Methoden, ohne sie zu kennen, ein scharfes und ungerechtes Urteil […]

Es wäre eine müßige Frage, zu untersuchen, wer von den beiden Taubstummenlehrern Epée und Heinicke der größere wäre: beide haben ihr ganzes Können und ihre ganze Persönlichkeit für eine erhabene Aufgabe eingesetzt. Ihre Ziele und ihre Erfolge waren nahezu die gleichen, nicht aber ihre Wege, die sie betraten. Der Streit um den Vorzug ihrer Methode konnte nicht ausgetragen werden, weil der Wert einer Methode weniger von ihr selbst abhängt, als vielmehr von der Art und Weise, wie sie ausgeübt wird. Der Buchstabe tötet, der Geist ist’s der lebendig macht. Was aber dieser literarischen Fehde besondere Bedeutung verleiht, ist, daß sie in allen Ländern zum erstenmal die öffentliche Meinung für die Bildung der Taubstummen interessierte.“ (Ernst 1906)

In den ersten praktischen Unterrichtsversuchen, ich hatte bereits darauf hingewiesen, überwog ein pragmatisches Ausprobieren, das zwangsläufig verschiedene methodische Elemente berücksichtigte.

Beispiel Rom

So ging der Italiener Silvestri in der römischen Gehörlosenschule zwar von der Gebärdensprache de l’Epées aus, ergänzte sie aber um lautsprachliche Anteile. Er schrieb 1785:

„Unser Ziel in Rom ist nicht allein, diesen armen Menschen die Sprache wiederzugeben, sondern auch, ihre wichtigste Qualität, ihren Verstand zu fördern. Zu diesem Zwecke bediene ich mich eines einfachen, natürlichen Mittels, welches der natürlichen Stärke des Taubstummen keine Gewalt antut, sondern im Gegenteil gerade die Kommunikationsform bevorzugt, mit der er […] so wohlvertraut ist, und die ihm zu Gewandtheit und Schnelligkeit verhilft. Mittels Gebärden drückt ein jeder Taubstumme seine Wünsche und Bedürfnisse vollends aus. Aus diesem Grunde hat die Schule sich die Gebärden für seine Bildung zunutze gemacht, dabei aber gewisse Korrekturen vorgenommen […] Doch um den Taubstummen wieder ganz der Gesellschaft zuzuführen, versäumt die Schule es auch nicht, ihn das Verstehen von Lippenbewegungen und die ihnen zu Grunde liegenden Gedanken zu lehren. Dies gestattet es ihm, unverzüglich und ohne andere Hilfsmittel als die lebendige Stimme zu antworten.“ (Pinna et al. 1993, 417f)

Wiener Methode

Die Verbindung unterschiedlicher Elemente wurde nach dem Ausscheiden Storks auch in dem Wiener Taubstummeninstitut unter der Leitung seines Nachfolgers May praktiziert. Walter Schott spricht von einer „Wiener Methode“, über die er Folgendes schreibt:

„Die ersten Lehrer des k. k. Taubstummen-Instituts hatten […] die Gebärdenmethode des de l’Epée in Paris erlernt und in Wien zur Anwendung gebracht. Die Pariser Gebärdensprache war aber in ihrem Gebrauch so umständlich (infolge der vielen grammatikalischen Endungen, Ableitungen usw.), daß sie als Kommunikationsmittel für den alltäglichen Gebrauch der Gehörlosen untereinander sehr unpraktisch und zeitraubend war. Daher war es nur natürlich, wenn neben der im Unterricht verwendeten Gebärdensprache eine andere, abgekürzte, sich entwickelte und die Schrift als sicheres Mittel zur Verständigung gegenüber der hörenden Umwelt besondere Bedeutung erlangte […] Während Stork ein entschiedener Gegner Heinickes war, verschloß sich May nicht dessen Gedanken. Besonders den sozialen Ideen stimmte May durchaus bei […] May löste sich von der französischen Methode auch insofern, als er die komplizierten Zeichen durch Vereinfachungen ersetzte und diese mit […] Handalphabetszeichen ergänzte. Damit gelang ihm die Konstruktion eines ‚gemischten Systems‘, das Gebärde und Lautsprache verband. Offenbar versuchte May die Vorteile beider Methoden zu vereinen.“ (Schott 1995, 112f)

Musikerin M. Paradis

Methoden bei Blindheit: Was die Methode zur Unterrichtung Blinder betraf, so lagen die Dinge hier wesentlich einfacher. Als Haüy mit seinen Überlegungen begann, hatte er nicht nur wesentliche Anregungen durch Diderots Brief über die Blinden erfahren, sondern aus eigener Anschauung miterlebt, in welch erstaunlichem Maße eine blinde Person über intellektuelle und musische Fähigkeiten verfügte.


Maria Theresia Paradis

Am 1. April 1784 trat die blinde Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis aus Wien zu öffentlichen Konzerten in Paris auf, und ihre Präsentationen wurden umgehend zum Stadtgespräch. In Alexander Mells Handbuch des Blindenwesens von 1900 lesen wir über sie:

„Sie wurde in allen Städten, wo sie auftrat, Mittelpunkt der Gesellschaft; die berühmtesten Personen der Zeit, Gelehrte, Musiker, Dichter, Staatsmänner suchten ihren Umgang, um sich an ihrem geistreichen Gespräche, an ihren feinen gesellschaftlichen Formen zu erfreuen. Nichts erinnerte, wenn sie saß, an ihr Unglück.“ (Mell 1900, 577)

Paradis’ Hilfsmittel

Maria Paradis, ein Patenkind der österreichischen Kaiserin Maria Theresia und „Mozarts berühmte Zeitgenossin“ (Fürst 2005) war nicht nur eine exzellente Musikerin und Komponistin, sondern zugleich eine allseits gebildete Persönlichkeit. Sie vermochte sich mit Hilfe einer kleinen Handpresse schriftlich mitzuteilen, verfügte über geografische Karten, konnte Karten und Schach spielen sowie mit Hilfe besonderer Tafeln rechnen. Die dafür notwendigen Hilfsmittel hatte sie, wir erwähnten es bereits, durch ihre Kontakte zu dem Blinden Johann Ludwig Weissenburg, Sohn eines Kammerdieners aus Mannheim, erhalten, der aufgrund seiner Begabung insbesondere in Mathematik ausgebildet worden war.

Grundlegend für die Unterrichtung blinder Menschen war die Erkenntnis, dass der fehlende Gesichtssinn durch den des Tastens zu ersetzen sei, und alle Kunst bestand darin, Hilfsmittel zu erfinden, die den Tastsinn für die Anbahnung von Lernprozessen nutzbar machten.

Leselernprozess

Haüy hat in seinem 1786 erschienenen Werk „Essai sur l’éducation des aveugles“ (Abhandlung über die Erziehung Blinder) beschrieben, welche Mittel er für den Leselernprozess seiner blinden Schüler einsetzte, wobei er ausdrücklich auf die Hilfsmittel der Maria Paradis sowie J. L. Weissenburgs verwies:

„Durch das Lesen wird das Gedächtniss leicht, rasch und methodisch ausgebildet. Es ist der Canal, durch welchen wir verschiedene Kenntnisse erlangen. Unsere hauptsächlichste Sorgfalt muss daher darauf gerichtet sein, die Blinden lesen zu lehren und für ihren Gebrauch eine Bibliothek herzustellen. Früher hat man in dieser Hinsicht verschiedene vergebliche Versuche gemacht. Man lehrte den Blinden lesen durch Buchstaben, die erhaben und beweglich auf einer Platte waren, oder indem man Buchstaben anwandte, die auf eine Karte durch Nadelstiche gebildet waren. Schon erschlossen sich ihnen die Wunder der Schreibkunst […] Aber diese rohen Hülfsmittel gaben dem Blinden nur die Möglichkeit, den Reiz der Lectüre empfinden zu lassen, ohne ihm die Mittel derselben zu gewähren. Wir fanden dieselben ohne Mühe, ihr Princip existirte schon lange, und täglich machte es sich vor unsern Augen geltend.

Wir beobachteten, dass ein bedrucktes Blatt beim Verlassen der Presse auf der Rückseite alle Buchstaben in relief zeigte, aber verkehrt. Wir liessen Buchstaben giessen, die so beschaffen waren, dass ihr Abdruck auf Papier von den Augen wahrgenommen werden kann, und mit Hülfe eines nach Art der Buchdrucker angefeuchteten Papiers gelang es uns, das erste Exemplar abzuziehen, das bisher mit erhabenen Buchstaben erschienen war, welche durch das Gefühl unterschieden werden konnten. Das war der Ursprung der Bibliothek für die Blinden […]

Vom Lesen des Gedruckten bis zu dem des Geschriebenen hat der Blinde nur einen Schritt zu thun. Wir sprechen hier nicht von der Schrift der Sehenden; wir haben bis zu diesem Tage vergebens den Gebrauch von Relieftinten versucht, und wir haben dieselben durch Schriftzüge ersetzt, die auf einem dicken Papiere vemittelst einer eisernen Feder, deren Schnabel nicht gespalten ist, erzeugt werden. Es ist unnütz zu bemerken, dass man, wenn man an einen Blinden schreibt, sich keiner Tinte bedient; dass die Buchstaben gerade, von einander getrennt und etwas dick sind, und dass man nur die eine von den zwei Seiten eines Blattes beschreibt. Wird dies beobachtet, werden die Blinden leidlich fliessend die Cursivschrift der Sehenden, ihre eigene und die anderer Blinden lesen. Ausserdem werden sie auf dem Papiere ebenso die Musiknoten und andere Figuren unterscheiden, welche durch unser Verfahren fühlbar gemacht worden sind.“ (Haüy 1883, 2ff)

Haüys Auftritt mit blindem Schüler

Der 17-jährige François Le Sueur war Haüys erster Schüler, mit dem er bald den Beweis seiner Unterrichtserfolge öffentlich machte. Alexander Mell hat uns in Dokumenten die Entstehungsgeschichte der Pariser Blindenanstalt übermittelt und dabei auch den Auftritt Haüys mit seinem Schüler im „Bureau Académique d’Ecriture“ wiedergegeben:


„Herr Haüy ließ sodann seinen Schüler Uebungen ausführen. Der Herr Generalleutnant der Polizei hatte ein Buch aufgeschlagen und gab daraus einige Wörter an, die sofort auf die Tafel gebracht wurden; und der junge Le Sueur las, nachdem er die Fingerspitzen über die Buchstaben hatte gleiten lassen, mit lauter Stimme: ‚Tableau de la Maison du Roi‘. Er führte mit demselben Verfahren die Addition mehrerer Zahlensummen, die man auf die Tafel eingetragen hatte, aus. Man nahm auch aufs Geratewohl einige Lettern, Buchstaben and Ziffern gemischt; man druckte sie auf ein Papier ab und der junge Mann brachte es zuwege, sie zu nennen, wenngleich mit etwas Mühe; was nicht überraschen darf, weil man, abgesehen davon, daß diese Lettern keinerlei Sinn bildeten, es darauf angelegt hatte, sie ohne Ordnung vorzulegen und einige davon sogar umzukehren. Er bewegte sich ebenso auf mehreren geographischen Karten, die man ihm gab und auf denen die Grenzen der verschiedenen Länder durch eine Menge von Nadelstichen, die den Konturen folgten, tastbar gemacht worden waren. Le Sueur erkannte die einzelnen Provinzen, auf die man seine Hand legte, und nannte gleichzeitig die Hauptstädte dieser Provinzen. Er unterschied ebenfalls die Musikzeichen, indem er der Reihe nach sowohl die Stufe, die sie in der Tonleiter einnahmen, als auch die Ausdrücke, die ihre verhältnismäßigen Werte angaben, benannte […]

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