... und dann geschah es

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ABEND

Als Ezra zurückkam, herrschte heller Aufruhr. Er hörte von weitem Geschrei, durch das offene Autofenster flogen aufgeregte Stimmen. Als er in den Hof einbog, knallte eine Türe. Er sah Esther wirklich wütend dort stehen. Ida war nicht zu sehen. „Komm, lass das Ventil pfeifen“, meinte er und streichelte Esther.

„Linchen ist gegangen, auf nicht mehr Wiedersehen, weil Tante Tina gemeint hat, sie stielt.“ Das war die knappe Fassung von mächtigen Diskussionen, die seit drei Stunden hin und her wogten. „Was denn?“, fragte Ezra interessiert.

„Irgend ein Bild.“

„Was für ein Bild.“

„Hatte Tante Tina immer bei sich, mit Silberrahmen.“

Also, es fehlte ein Bild im Silberrahmen, es war aber absolut nicht klar, um was für ein Bild es sich handelte. Aber Tante Tina war es wichtig. Linchen war wegen böser Anschuldigungen gegangen und das war ernst, denn Linchen machte den Haushalt. Ezra musste die wirklich brennende, wichtige Frage stellen, die Frage auf die es ankam: „Wer kocht heute?“

„Tante Tina hat vor einer Stunde gemeint, ich solle ihr das Nachtmahl aufs Zimmer bringen und ich habe gesagt, wenn sie Linchen beleidigt, muss sie das selber machen. Und da hat Tina gesagt, sie werde in diesem Haus für das Pack, das wir sind, nichts mehr arbeiten.“ - Das hieß, offener Krieg war ausgebrochen.

Also keine Haushaltshilfe vorhanden wegen Diebstahl, Familienkrieg und keiner wollte die Arbeit machen. Das Problem musste gelöst werden. Ezra ging Wolfgang suchen, um wegen dem Diebstahl zu reden. In Wolfgangs Zimmer war keiner, nur ein zerwühltes Bett.

War zu erwarten gewesen. Wo könnte er sein?

Von den Dachbodenfenstern konnte man weit ins Land sehen. Dort hatte er den Überblick, konnte schauen, wo Wolfgang hingegangen war. Vielleicht war er auf einer der umgebenden Wiesen oder beim Fluss oder sonst wo im Umkreis. Er stieg die wackelige Treppe hinauf und öffnete die Holztür. Wolfgang legte gerade ein Seil über einen der Dachsparren.

Die erste, die schnellste Vision war Wolfgang beim Selbstmord. Das war naheliegend, denn warum legt wohl jemand ein kräftiges Seil über einen Balken? Der Gedanke war aber völlig abartig im Zusammenhang mit Wolfgang. Der Kumpel seiner Kindertage war nicht Selbstmord gefährdet. Die beiden waren schon miteinander in der Volkschule. Wolfgang war ein Mann der Hände, ein Mann der technischen Lösungen an Geräten, von denen Ezra noch nicht einmal gehört hatte. Wolfgang tat, was er wollte, und es fiel ihm immer etwas ein. Leider gehörten Tendenzen zum Diebstahl dazu.

Ezras Familie, Tante und Mutter, hatten immer eindringlich vor Wolfgang gewarnt. Kriminelle Familie, Vater im Gefängnis, kein Umgang für dich. Das führte schnell zu einer innigen Freundschaft, die Ezra damals mit kleinen Geschenken pflegte. Tante Rena und Mutter standen wechselweise neben ihm und entwarfen bedrohliche Szenarien dieser Freundschaft, was sie sehr vertiefte. Wolfgang war eine Fundgrube für wesentliches Wissen. Von Einbruch bis Drogenhandel war er bestens informiert. Er wusste, wie es läuft, zeigte Ezra grundlegende Fertigkeiten, hatte aber selbst keine Ambitionen was zum Beispiel Drogen betraf oder Drogenhandel. Die Mafiastrukturen des Drogenhandels waren ihm zu eng, zu hierarchisch, zu wenig kreativ. Auch der einfache Einbruch war wenig reizvoll. Nach einigen Jobs in der Personenbewachung und in Sicherheitsfirmen machte er derzeit Projektarbeit im Dienste der internationalen Fahndung. Nicht etwa verkleidet als Drogendealer im Untergrund, sondern als fähiger Techniker wurde er an die Schnittstellen versetzt und leistete dort so einige Male im Jahr besondere Arbeit.

„Willst du dich aufhängen?“, fragte Ezra.

„Nicht gleich“ brummte Wolfgang, dann strahlte er ihn an. Wolfgang war sehr dunkel und hatte das Lachen eines Seeräubers. „Wenn man die Seile befestigt, kann man von Balken zu Balken schwingen. Ich habe mir schon immer einen solchen Dachboden gewünscht. Früher haben sie Tabak hier getrocknet“, meinte er und strahlte den Dachboden an. Wolfgang war kräftig, über hundert Kilo schwer, erklomm aber behände einen der Balken und schwang sich am Seil zu einem anderen. Ezra fand, das sah gut aus, wie Tarzan im blauen Hemd.

„Warum hast du denn um Gottes Willen das Bild genommen?“ Wolfgang sah ihn kurz an, an der Grenze zum schlechten Gewissen. „Sie hatte keinen gescheiten Schmuck“, meinte er schließlich entschuldigend.

„Ja, aber sie hat Linchen beschuldigt.“

„Ach, das ist ok.“

„Wie kannst du das sagen?“

„Letzte Nacht hat mir Linchen gesagt, dass ihr der spinnerte Haufen reicht, und sie will reisen, als Stewardess anheuern oder sowas.“

„Letzte Nacht?“ Naja, Wolfgang hatte wieder einmal eine Dame beglückt. Er sprach nicht wirklich über seine Nächte, aber Ezra wusste, dass sie recht abwechslungsreich waren. „Ja, aber Linchen hat den Job hingeschmissen und Esther sieht nicht ein, dass sie jetzt die Köchin machen soll.“

Das war auch für Wolfgang ein Problem, das man bewältigen sollte. Er dachte ernsthaft nach. „Ist ok, wir machen das.“

„Ich kann nur begrenzt kochen. So echte Dreisternküche sieht anders aus.“

„Ja, ich habe auch meine Grenzen, aber für eine Woche reicht es, ich kann ein paar gute Sachen für den Notfall. Und ich denke, Esther hat dann wieder jemanden. Sie wird doch die Welt nicht ohne Linchen lassen. Oder?“ meinte Wolfgang und sah den Balken sehr genau an, während er sich gedankenverloren den Unterbauch rieb.

„Ok, werde ich Esther sagen, damit sie sich beruhigt. Aber warum hast du wirklich das Bild genommen?“

„Der Silberrahmen ist echt und ziemlich wertvoll.“ Wolfgang fand das logisch.

„Und was ist das für ein Bild?“

„Nur ein altes Foto, von der braunen Sorte. Ein Mann. Ich weiß nicht, warum sie so einen Wirbel darum machen.“ Wolfgang fand es immer unverständlich, warum Leute so an ihrem Besitz hingen. Warum sie nicht gutwillig akzeptierten, dass ihre Sachen verschwunden waren.

„Bringst du mir bitte das Foto?“

„Was willst du mit dem Foto?“

„Anschauen, vielleicht kommt er mir bekannt vor.“ Wolfgang war verwundert. „Wegen Hille, es muss ihn ja irgendwer gestoßen haben. Deshalb suche ich einen Grund, eine Verbindung. Ich habe keine Ahnung, warum einer Hille umbringen will, und fische im Trüben.“ Er ließ Wolfgang von Balken zu Balken schwingend zurück.

ABEND, SPÄTER

Schließlich hatten Esther und Wolfgang miteinander gekocht.

Das Kochen war schwierig, denn Wolfgang schwitzte `Mann´ aus jeder Pore. Er hatte dünne, lange Seidenhosen an und das Hemd lag am Sessel. Sein Oberkörper war stark behaart und er machte in vielen Kleinigkeiten Esther klar, dass sie begehrt war. Eine Berührung beim Zwiebelschneiden, zartes Reiben, wenn man aneinander vorbei ging. Anzüglich war Wolfgang nie! Nein, keine blöden Bemerkungen über Busen und Po. So war Wolfgang nicht. Er war eher wie ein großer Bernhardiner mit Sehnsucht. Sie wusste, er wollte sie ablecken.

Esther ging es mit ihm ein bisschen wie mit Schokolade beim Abmagern. Ein großes Bedürfnis, Lust, der Geschmack auf den Lippen verfolgte sie, aber keine gute Lösung, nein gar nicht. Bilder von zerwühlten Betten, gemeinsam Duschen, Körper spüren, weiche Haut, Haare, auch Härteres. Aber das alles war wie Schokolade entschieden ungesund. Schokolade machte unzufrieden, sie wurde fett davon und daher grantig und von Wolfgang wurde sie nur begehrt, weil sie gerade neben ihm stand. Er hatte einfach das Bedürfnis. Er mochte sie auch, natürlich mochte er sie. Sie gefiel ihm wirklich. Aber jede andere gefiel ihm auch, wenn sie in einer warmen Küche neben ihm war. Wolfgang war sehr unkompliziert - wer da war, war geil. Und so schnitt sie verbissen Karotten und rührte um und versuchte, an etwas anderes zu denken. Das ging ein paar Minuten ganz gut, bis sie bemerkte, wie er sich von hinten anschlich und begehrlich an ihr roch. In hektischer Selbstverteidigung fragte sie, ob er wohl das Kürbiskernöl gefunden hätte. Er kam mit der Flasche und verstrich ein paar Tropfen auf ihrem Oberarm.

Esther spürte deutlich ihren Unterleib und sagte: „Schau jetzt habe ich da einen dunklen Streifen!“

„Ja, furchtbar“, sagte er im gleichen Ton. „Was werden die Leute denken, wenn du da einen dunklen Streifen am Arm hast.“

Die würden vor allem etwas denken, weil er ein Stück jünger war als sie, und überhaupt war das Ganze unmöglich, unbrauchbar, weil es nie so weit käme, dass die Leute irgendetwas denken würden.

„Magst du die Kartoffeln herrichten?“, fragte sie ein bisschen zu laut und hielt zwei Kilo Kartoffel zwischen seinen und ihren Körper.

„Ich tu gerne marinieren. Schönes Fleisch marinieren“, meinte er. Man sah ihm an, dass ihm die Vorstellung gefiel, Rindfleisch, Kalbfleisch, Frauenfleisch, auch Hühnchen. „Unmariniert schmecken Hühnchen fade“, kommentierte er. Esther wurde die Küche eng, aber das Essen musste fertig werden.

Wolfgang schälte und kochte die Kartoffeln. „Das Kartoffelpüree wird besser, wenn man schon das Wasser ein bisschen würzt.“ Er nahm sie um die Schulter. „Komm, da, Gewürz riechen. Riecht wie Süden und Meer.“ Es wäre irgendwie unvernünftig, Gewürz nicht riechen zu wollen. Somit rochen sie einträchtig und eng umschlungen Gewürz über dem Kartoffeldampf. Esther spürte Schweißtropfen zwischen ihren Brüsten hinunterlaufen. Wolfgang erzählte von dem Hang von wildem Thymian, in dem er einmal auf einer Reise geschlafen hatte. „…und in der Früh hat mir die Sonne so stark auf den Bauch geschienen, dass ich davon wach geworden bin. War schön warm von innen.“ Er strich sich genüsslich über seinen Bauch, und Esther flüchtete zur Nachspeise.

 

Da hatte Wolfgang den Kartoffelstampfer in der Hand und drückte ihn in die weichen Kartoffeln. „Schau“, verkündete er strahlend, „das geht wie Sex.“ Er bewegte den Stampfer hinein und heraus aus dem Kartoffelbrei. Esther stand da, in einer Hand die Schüssel mit der Nachspeise, in der anderen die kleinen Schüsselchen, und schaute gebannt auf den Kartoffelstampfer.

MITTAG DES FOLGENDEN TAGES

Ezra hatte zu Hause gelernt, dass Gemeinschaft beim Essen eine kostbare Sache sei, dass diese gepflegt werden müsste. Tinchen und Röschen hatten die Vorstellung, dass Essen in Gemeinschaft dazu da war, die wichtigen Dinge abzuhandeln.

„In mein Zimmer scheint zu früh die Sonne. Es wird dadurch zu früh heiß“, stellte Tante Tina fest. „Ich brauche ein zweites Zimmer.“

„Die sind im Moment alle belegt“, meinte Esther mit vollem Mund. „Und die, die nicht belegt sind, sind voll mit Abgelegtem.“ Eisiges Schweigen. Das war kein guter Grund. Ezra assistierte. „Vielleicht kann man das Fenster nur über Nacht aufmachen und unter Tags schließen. Dann wird es nicht so heiß.“

„Ich sagte, ich brauche ein zweites Zimmer“, betonte Tante Tina mit höflicher Schärfe.

Ezra schaltete schnell. „Esther, ich könnte helfen, das Zimmer neben Tante Tinas ausräumen. Habt ihr denn auch Sachen, die man hineinstellen kann, damit es dann doch wohnlich wird?“

„Naja, es ist alles Mögliche drin. Ich habe keine Idee, was alles, aber es sind große Möbel. Sonst haben wir noch Sachen in der Werkstatt - ein paar interessante Antiquitäten von der Vorbesitzerin. Man müsste schauen, was passt und was man herrichten kann. Vielleicht müsste man irgendetwas zukaufen, das dauert dann halt ein paar Tage….“ Esther schaute Ezra suchend an. Der folgte zweifellos einem Plan, Überlegungen, die zu einem Ziel führten, nur hatte sie kein Bild davon. Irgendetwas hatte er vor. Das war klar. Vielleicht fiel ihm doch etwas ein, um Tina zum Aufgeben zu bewegen? Dass sie Urlaub hier machte, wäre kein Problem, wenn man nur wüsste, wann sie fährt.

Ida war das erste Mal wieder bei Tisch wegen Edmund. Sonst kam sie schon einige Zeit nicht zum Essen und war auch kaum zu sehen. Esther war froh, dass wenigstens Edmund sie aus ihrem Schneckenhaus holen konnte. Sie war besorgt. Ida fühlte sich nicht gut an, sie wirkte blass und durchscheinend, nahe am Versteinern. Das Problem mit Tante Tina musste gelöst werden, bald. Vielleicht hatte Ezra eine Idee? „Das Bett könnte man hinüber stellen“, sagte sie.

„Wo gibt’s denn noch Möbel?“

„Für Tante Tina vielleicht nicht. Aber es ist einiges Interessantes da. Es gibt einen prächtigen Bauernkasten und eine Truhe, die wollte ich mir herrichten, und Eva wollte die Porzellangarnitur mit dem alten Messingwaschtisch“, murmelte sie nur um etwas zu sagen.“

„Das ist gut“, sagte Tante Tina, „ihr könnt die Sachen hineinstellen.“

Esther spürte den Übergriff, die selbstherrliche Forderung, die Besitzergreifung fast schmerzlich, es schnürte sie ein. Die Sprache entzündete sich und der Hals formte einen harten Knoten. Aber sie hatte dem Übergriff eine Einladung gegeben, in Gold gerahmt und mit Blumen.

Ezra war zufrieden. Genau wie er es wollte. Esther merkte die stille Genugtuung und tappte noch immer im Dunkel. Trotz des Ärgers schien alles richtig zu laufen. Wolfgang saß daneben und schaufelte Essen in großen Brocken. Ihm schmeckte es, und er schien mit essen beschäftigt, aber immer wieder kroch ein schneller Blick unter den Brauen zu Ezra. Er kannte den Kumpel – da war etwas im Busch.

Edmund und Ida waren in ein anregendes Gespräch vertieft. Beide schienen von der ganzen Debatte nichts mitgekriegt zu haben. Edmund verbreiterte sich über die Irrwege von Korruption bei der Polizei, Falldarstellung, verhinderte Maßnahmen, wieder Falldarstellung ohne Namen, aber sonst sehr präzise. Über die Schlechtigkeit der Welt und der Behörden im Besonderen, und Ida war ganz Ohr. Völlige Hingabe, von kleinen Lauten des Staunens unterbrochen. So gefördert hatte Edmunds Darstellung Fahrt aufgenommen und schwebte deutlich hörbar im Raum. „…..und dann hat der Abteilungsleiter tatsächlich den Hörer hochgenommen und seinen Kumpel im Rathaus angerufen, um ihm zu sagen, dass es den Bericht am Laptop gab, und Vorberg sei interessiert.“

„Oh“, machte Ida voll Staunen.

„Und dann haben sie einfach nur mehr von Geldbeträgen gesprochen.“

„Nein!“

„Ja, so schlecht sind die. Auf nichts kann man bauen, nichts ist wirklich vernünftig“, meinte er zutiefst traurig.

„Wirklich“, sagte Ida. Edmund fühlte sich verstanden.

Und Ezra hatte Laptop und Vorberg vernommen. Was bitte war da in Gang? Was wusste jetzt auch noch Edmund von der ganzen Sache?

NACHMITTAG

Esther fragte Ida nach dem Essen: „Sag, du wolltest doch so dringend den Messingwaschtisch mit dem schönen Porzellankrug?“

„Ja natürlich, ich muss es nur reinigen. Habe immer etwas anderes gemacht, dadurch ist er noch nicht richtig schön.“

„Ja, aber wenn den jetzt Tante Tina haben will in ihrem Zimmer?“

„Wieso?“ Wie erwartet hatte sie von der Debatte nichts mitbekommen.

„Tante Tina hat beim Essen ein zweites Zimmer gefordert mit den Sachen aus der Werkstatt.“ Esther sah mit großem Entsetzen, wie Ida in sich zusammenfiel. Esther spürte Zorn und Fatalismus, und das zu gleicher Zeit in ihrem Magen. Ida ließ die Schultern hängen, und es schien, als ob die Flamme ausging. Wie gelöscht. Esther war sehr beunruhigt. Dass sie so heftig, so voll, reagieren würde, hatte sie nicht erwartet.

„Was ist? Ist ja nur ein Waschtisch.“ Ida saß wie ein Häufchen Elend vor ihr. Keine Energie, aus. „Ida komm. Ezra hat irgendetwas in Planung. Ich weiß nicht was. Aber es scheint ihm etwas eingefallen zu sein. Was ist mit dir?“

„Es ist, wie wenn Mutter hier wäre. Auf der einen Seite vermisse ich sie, auf der anderen habe ich gerade angefangen, selbst zu atmen. Ich glaube, sie hat all die Jahre für mich geatmet. Nichts, was ich sagte, hatte irgendeinen Wert, deshalb habe ich dann nichts mehr gesagt und habe das Atmen eingestellt.“ Ida sprach sehr leise. „Wie ein Kind in Windeln versuche ich, seelisch das Laufen zu lernen und hole wieder ganz alleine Luft.“

„Soll ich um deinen Waschtisch kämpfen gehen?“ Esther war wirklich besorgt. Es war so wichtig, dass Ida bekam, was sie wollte.

„Nein, er hat Charme, aber er ist, glaube ich, nur ein Eisbergspitzlein vom Problem.“ Sie erhob sich und ging langsam im Zimmer auf und ab. Esther wollte sie aufmuntern. „Was war das mit Edmund?“

Ida war gottseidank abzulenken wie ein Kind. Sie schenkte Esther ein schiefes Lächeln. „Er hat mir so ein nettes, romantisches Gedicht geschrieben.“

„Wann?“

„Ach, schon damals am Berg, noch bevor Mutter hinunterfiel.“

„Und wieso hast du dir dann so andächtig seine traurigen Erlebnisse in der Korruptionsetage angehört?“

„Nun, da geht es ihm gut dabei.“

„Ich hoffe, er erzählt in seiner Begeisterung nichts Strafbares. Ich meine, einiges von seiner Erzählung klingt, als ob es Leute gäbe, die das sehr bedrohlich fänden, gefährlich.“

„Ach, ich will doch nur, dass er noch mehr Gedichte schreibt.“

Esther war nicht sicher, dass das ein guter Grund war, so tief an gefährlichen Spielen beteiligt zu werden, in Dinge hineinzugeraten, die anderen den Job, das Ansehen, die Existenz kosten konnten. Sie musste aufpassen.

Edmunds Vater war ein hohes Tier im Ministerium, deshalb volontierte Edmund dort. Das bedeutete: Die Informationen waren Tatsache. Der traurige Edmund war Dichter und vielleicht Beamter, aber kein guter Geheimnisträger. Das war gefährlich. Für wen? Für viele.

NACHMITTAG SPÄTER

Ezra hatte jetzt eine klare Aufgaben im Visier - neben dem Job Tina zu entfernen. Er musste klären, was da im Ministerium und mit Vorberg lief, und ob das Hille fast das Leben gekostet hätte. Und er musste das Zimmer für Tina erstklassig, passend, in jeder Hinsicht genau herrichten.

Dazu musste einiges organisiert werden. Deshalb brauchte er zuerst Esther. Er fand sie in der Werkstatt, wo sie den bemalten Kasten abwischte. „Kann man, glaubst du, so ein altes Stück einfach waschen?“

„Ich denke, die Bemalung ist Lack, oder irgendetwas wie Lack.“

„Hilf mir, ihn ans Licht bringen, damit ich besser sehe.“ Sie schoben und zogen das schwere Stück in Richtung der großen Schiebetüre.

Am Rand und um den Kasten war eine Blumenbordüre. Sehr aufwendig und in vielen Farben. Und in den Türen gab es jeweils ein Bild, das aber nicht richtig zu erkennen war, denn der Kasten war von braunen, krustigen Flecken überzogen. Ezra und Esther schauten ganz genau, dann kratzten sie vorsichtig an der Oberfläche. Schließlich holte Esther einen Kübel und Lauge und eine weiche Bürste. „Wo ist denn ein bisschen ein härterer Schwamm?“ Beide schrubbten einträchtig, jeder ein Bild. Wortlos hatte man sich geeinigt, dass man wissen wollte, was der verzauberte Kasten barg. Wie war er geboren worden, wie zum Leben erwacht, wofür hatte man ihn gemacht? Wenige Linien waren zu erkennen. Ein grünes Blatt tauchte aus der braunen Kruste, ein menschlicher Kopf, ein Bein. Irgendetwas wie eine Waffe. Manche Flecken lösten sich, andere hafteten unerbittlich.

Im ersten Stock war es in der Zeit ziemlich laut.

Wolfgang hatte sich erboten, das Zimmer neben Tante Tina auszuräumen, ein sehr großer Raum mit drei großen Fenstern. Dieses Zimmer schien wirklich lange unbenützt zu sein. Ida stand in der Türe, staunend, interessiert. Wolfgang schob gerade ein Bett mit Baldachin durch den Raum. Der Baldachin staubte. Die Farbe des Stoffes war kaum zu erkennen, irgendetwas, wie Gold und rötlich. Es flogen kleine Stücke des altehrwürdigen Belages ins Licht. Schnaufend setzte er ab und rieb seine Handflächen.

„Sag mal Ida, Ezra sagt, sie haben in der Wohnung die Mumie eines Hundes in einem Glaskasten gefunden? Was war denn das?“.

Ida hatte immer Zeit für Antworten. Es dauerte. „Ich denke, das war Schneewittchen.“ meinte sie nach einer Weile. Wolfgang konnte das nicht wirklich als Erklärung annehmen. Seine Bewegung machte Pause. Er hörte wahrscheinlich sogar kurz zu schwitzen auf. „Schneewittchen?“, wiederholte er langsam.

„Eigentlich hieß sie Bienchen, wahrscheinlich, weil sie ständig am Bellen war. Stell dir einen Hund vor, der aus einer Handtasche schaut und dauernd bellt. Sie hat natürlich auch gebissen. Mutter hat immer gesagt, sie ist emsig wie ein Bienchen.“ Noch immer keine Erklärung für den Glaskasten. Wolfgang wartete.

„Irgendwer hat sie vergiftet. Der Glassarg stand lange im Wohnzimmer. Es war einige Jahre so ein Mausoleum.“ Ida blieb in der Erinnerung stehen. Sie schnupperte. Auch in diesem Zimmer roch es nach Mausoleum, genau wie damals, verlassen, gemieden, vergessen wie müde Blumen. „Sollten wir hier auch einen Glassarg mit einem toten Hund reinstellen?“ fragte sie. „Oder vielleicht kann man die Fenster aufmachen?“

Wolfgang machte die Fenster auf. Von rechts nach links. Zwei gingen auf, eines nicht. „Das ist das mit Robert“, meinte Ida zu dem Fenster, das sich weigerte. „Robert will nicht aufgemacht werden.“

Da kam Ezra.

„Braucht ihr Hilfe?“

„Robert lässt sein Fenster nicht aufmachen“, meinte Wolfgang.

„Sag, wolltest du das Zimmer herrichten wegen Robert?“, fragte Ida.

„Ja, natürlich sind wir doch froh, dass wir Robert haben.“

Bei Wolfgang lief ein Film von Möglichkeiten, technischer Natur.

„Robert ist einer von uns, wir müssen nett zu ihm sein“, meinte Ida.

„Woher willst du wissen, dass er nicht auf Seiten von Tante Tina ist“, fragte Ezra.

„Ich hab das Gefühl, dass Robert auf gar keiner Seite ist. Wenn man eine Weile tot ist, wird man egoistisch, denke ich. Man kümmert sich nur mehr um sich selbst.“

„Hast du ihn heute schon gesehen?“, fragte Ezra.

„Ich war noch nicht draußen schauen.“

„Komisch“, meinte Wolfgang plötzlich, „Hier an der Wand entlang ist eine Spur im Staub, die wir nicht gemacht haben.

„Wieso meinst du?“

„Naja, hast du solche Schuhe an? Ich nicht.“ Im Staub zeichnete sich ein Schuhabdruck nach dem anderen, erstaunlich deutlich und klar. Ziemlich groß, große Füße. Sie trugen Stöckelschuhe mit breiten Absätzen. Die Abdrücke waren farbig getönt, wirkten bläulich-lila, ein wenig. Ezra fuhr mit dem Finger darüber, aber der Abdruck blieb. Wolfgang kam mit einem feuchten Fetzen. Der Abdruck ließ sich nur schlecht entfernen. Das Tuch war nachher bläulich staubig.

 

Ida hatte sich eine Weile auf den Geist konzentriert, hatte über ihn nachgedacht und schlug vor: „Wir müssen ihn fragen, ob er vielleicht hinaus möchte, denn wenn er immer in dem Zimmer auf und ab geht ist das ja nicht erfüllend für so ein langes Leben nach dem Tod. Vielleicht schläft er hier und kann nie hinaus. Auch wenn man nicht essen muss, will man aus seinem Zimmer.“

„Sollen wir ihm die Türe offen lassen?“, fragte Ezra. „Ich bin mir nie sicher, wie das mit Geistern und Türen ist.“ Ezra legte Wert darauf, möglichst normal zu sprechen, aber das mit der Fußspur war schon seltsam. Nicht Schrecken, nicht Gänsehaut, schon gar nicht Panik, aber seltsam war die Fußspur schon.

„Geister schweben doch im Allgemeinen durch Wände.“ Wolfgang schob gerade eine Kommode an die andere Wand.

„Nicht immer“, meinte Ida, „Ich weiß, dass sie gelegentlich knarrend Türen öffnen.“

„Eingemauerte weiße Frauen findet man aber vorwiegend in Gängen und Treppenhäusern. Also irgendwie können sie aus der Mauer.“ Geisterkunde von Ezra.

Wolfgang steckte mit dem Kopf im unteren Fach der Kommode, und es klang hohl als er sagte: „Ich denke, sie machen vor allem seltsame Geräusche.“

„Naja irgendwie müssen sie ja `guten Tag´ sagen“, meinte Ida, „Vielleicht wollen sie wahrgenommen werden, auch wenn sie nicht mehr richtig leben. Wir fühlen uns ja alle nur bedeutend, weil uns jemand wahrnimmt.“

Wolfgang war inzwischen mit praktischen Überlegungen beschäftigt. Er hatte nicht so viel Gefühl für Geister „Wie machen wir denn das mit der weiteren Einrichtung?“, wollte Wolfgang wissen. Ida drehte sich um und ging. Ezra nahm an, sie wollte schauen, ob Robert da war, aber vor allem wollte sie keine praktischen Probleme lösen.

„Fragen wir Esther.“ So ging er Esther suchen. Ezra hatte einen Moment das Bedürfnis, die Türe offen zu lassen, damit der Geist freie Bahn hatte, entschied sich aber schließlich dagegen. Wahrscheinlich konnte er durch die Wand und die Besorgnis war überflüssig.

Ezra war auf dem Weg hinunter in die Küche. Aus dem Unterstock drang eine weinerliche Stimme hoch. Röschen stand in der Küchentüre und erklärte Esther gerade, dass das, was hier gekocht wurde, für sie nicht essbar war. „Ich habe immer schon einen empfindlichen Magen, diese fette Kost hier bekommt mir nicht. Tinchen hat gesagt, ich soll das in der Küche besprechen.“ Ein tiefer kummervoller Seufzer folgte dem gerade vergangenen. „Nur weißes Fleisch, Kalb oder Huhn, Spargel vertrage ich gut, sonst bin ich aber sehr heikel.“

Ezra fragte sich, wie Esther das bewältigen würde. Er sah über das Treppengeländer auf die kleine weinerliche Gestalt mit dem gekrümmten Rücken. Eine lebenslang dienende, die sich ihren Platz erjammert hat, immer Raum für Mitleid schaffte, das nie stattfand. Sie hatte nichts zu geben außer Forderung. Keine gute Ausgangsbasis für Mitleid. Eher ein Storchenteich für die Kinder des schlechten Gewissens - auf der Flucht. Ezra wusste, dass Esther aus den Ohren rauchte vor Zorn, auch wenn man keine Flammen sah. Schließlich hatte sie die ganze Arbeit, und dann diese weinerliche Beschwerde. Esther hatte ihre Stimme aber im Griff und sagte ganz freundlich, sie werde sich um den kranken Magen kümmern und etwas ganz Diätes bereiten.

Da steckte Ida den Kopf zur Eingangstüre herein. „Robert ist heute komisch.“, meinte sie nur und bedeutete Ezra, zu kommen. Ida ging hinaus an die Stelle, wo die Begegnungen mit Robert stattfanden. Dort war der nächste Platz, um gut das ganze Fenster zu sehen, in dem er immer auftauchte.

„Da, schau“, meinte sie, „seine Füße baumeln heute im unteren Fenster.“

Ezra war zuerst sehr verwirrt. Im ersten Stock war der Kavalier mit Hut oder die Zirkusreiterin oder was immer es war, deutlich zu sehen und im Fenster darunter zeigte die Spiegelung etwas wie zwei hängende Streifen in Blaulila. Die gleiche Farbe wie der Hut, und ganz unten fast beim Blumenkasten hatten diese Streifen rote Spitzen, wie die Schuhe auf einer Kinderzeichnung. Das ganze bewegte sich leicht.

„Schaut aus, als ob er gehen würde.“ Ida war fasziniert. Ja, es sah tatsächlich aus, als ob er Schritte machte. Das Fenster neben Robert war offen. Es war der Raum, wo sie gerade Möbel verschoben hatten.

Ezra fragte sich, wo Wolfgang war. Der musste doch in diesem Zimmer auf und ab laufen. Durch die beiden offenen Fenster hätte er Wolfgang sehen müssen, wenn der arbeitete. Er sah und hörte aber keinen Wolfgang.

„Warum, glaubst du, ist Robert da?“, fragte Ida leise im Gedanken.

„Normaler Weise geistern Geister, weil sie irgendwas psychisch nicht bewältigt haben und deshalb nicht zur inneren Ruhe finden.“

„Das heißt sie brauchen Therapie?“

„In unseren Breiten brauchen sie Beichte, Anerkennung von Schuld, Weihrauch, Priester. Die letzten paar Jahrhunderte sprach die Kirche nie von Therapie und sieht das vielleicht auch jetzt als Konkurrenzunternehmen. Aber du hast wohl recht, Geister brauchen Therapie. “

„Das heißt Robert muss beten oder braucht Therapie“, überlegte Ida.

„Ja, beten soll helfen, und ein Kreuz lässt ihn verschwinden oder lähmt ihn. Meistens muss er nicht nur beten, auch beichten, gestehen, was halt die Kirche an Therapiemöglichkeiten bietet. Den Mord an der Geliebten aus Eifersucht, oder am Vater aus Wut oder Geldgier.“

„Ja du meinst einen Mord, der nicht wirklich legitim ist“, meinte Ida nachdenklich.

„Welcher Mord kann schon legitim sein?“

Ida schaute gebannt auf Roberts Füße. „Ich denke, ein Mord, der anderen das Leben ermöglicht. Ich denke, jeder hat das Recht, zu leben, und wenn einer das anderen unmöglich macht, und wenn es auch keine Lösung gibt, so ist vielleicht richtig, den aus dem Weg zu schaffen. Eben damit andere leben können.“

Ezra überlegte und versuchte, guten und schlechten Mord einzuordnen, aber seine Beunruhigung wegen Wolfgang war inzwischen angestiegen. Er hätte etwas hören müssen. Er hätte ihn sehen müssen an den beiden offenen Fenstern. Vielleicht war er nur einmal hinausgegangen. Konnte man Wolfgang wirklich so einfach mit Robert allein lassen? Einem psychisch belasteten Geist?

Ezra rannte ins Haus und hektisch in den ersten Stock mit der Vision, ein hysterischer Idiot zu sein und Wolfgang zu finden, wie er sehr sorgsam an einer Steckdose herum schraubte. Er riss die Türe auf. Hatte schon den letzten Teil der Treppe angespannt gehorcht, ob er Wolfgang hören würde, aber es war nichts zu hören. Hinter der Tür fand er ihn am Boden liegend in einer riesen Blutlacke.

Ezra warf sich neben ihn auf den Boden und sah in den schwarzen Haaren eine große Platzwunde fast bei der Stirne. Ezras Brust krampfte sich zusammen, er suchte nach Zeichen von Leben. Auf der Stelle wurde ihm übel. Wieso Wolfgang?

Aber Wolfgang lebte, denn er grunzte und bewegte sich vorsichtig. Ezra berührte ihn. „Was ist mit dir?“, fragte er, um irgendetwas zu sagen. Kontakt aufzunehmen, festzustellen wie schlimm es war. Die Hautfarbe war nicht allzu blass, schon gar nicht bläulich. Wolfgang verschmierte das etwas geronnene Blut über den Boden mit einer Hand, die ins Leere griff.

Warum hatte Robert ihn niedergeschlagen? Was hatte er Robert getan – sein Zimmer aufgeräumt, entweiht? Die Frage kam Ezra gleichzeitig ziemlich unvernünftig vor. Sie war aber so naheliegend. Da sagte Wolfgang noch ziemlich undeutlich: „Das Ding ist plötzlich auf mich drauf gefallen.“

Robert ist von der Decke auf Wolfgang gesprungen? In Ezras Kopf lief ein oft gesehenes Bild aus Vampirfilmen. Der Untote lässt sich von einer Mauer oder einem Vorsprung, einem gotischen Ungeheuer, das aus der Mauer schaut, auf sein Opfer fallen und umschließt es wehrlos mit tödlichem Biss. Gab das Platzwunden an der Stirne?

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