... und dann geschah es

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MITTAG

Esther und Ida sahen gerade das zwanzigste Haus an.

Ida wünschte sich jetzt dringend ein Haus. Sie fand immer neue Gründe, warum ihr dieses oder jenes Haus wert schien, gekauft zu werden. Die Butzenscheiben in der Türe zum Hof. Der schöne Nussbaum vor dem Haus, der eingefriedete Gemüsegarten. Esther hatte das Praktische im Auge. Den nassen Keller, die Nähe zur Autobahn, den verwurmten Dachstuhl. Jetzt standen sie vor einem Anwesen, das „der Jaidhof“ hieß. Es war ein großes Anwesen und hatte seit Jahren zum Verkauf gestanden, zu einem Fixpreis. Dieser Fixpreis war vor Jahren teuer gewesen, jetzt war er normal.

Esther hatte neu gelernt, dass wenig finanzielle Einschränkungen zu beachten waren. Ida hatte ihr Zugang zu allen Konten übertragen, nur wusste sie nicht, welche Konten es gab. Während Esthers Engagement in ihrer alten Firma im Auslaufen war - sie hatte noch Resturlaub - hatte sie sich umfassend mit den Aufgaben eines Steuerprüfers auseinandergesetzt und sich in mühsamer Kleinarbeit über die Finanzlage klug gemacht.

Außer den Einkünften aus der Fabrik und einigen Tochtergesellschaften an entfernten Orten gab es Gelder, die sich unbeobachtet seit mehr als zwanzig Jahren durchs Finanzsystem geschlängelt hatten. Es waren immer neue Konten aufgetaucht. Eine Bankverbindung in die Schweiz, noch vom alten Aaron, und ein Konto in Lichtenstein, auch vom alten Aaron eingerichtet. Keine Kontobewegung seit über zwanzig Jahren. Dort schlummerten Riesensummen vor sich hin und mussten noch mit Idas Unterschriften umgelagert werden. Mehrere Bankschließfächer gab es. Esther war absolut unsicher, dass sie alle gefunden hatte. Manche enthielten gar nichts, manche Aktien. Eins hatte Zertifikate in großen Paketen, die auch mindestens zwanzig Jahre dort geschlummert hatten. Sie waren inzwischen völlig wertlos. Aber eines der Depots hatte eine große Schmuckschatulle enthalten, in der auch ihr Zauberring war. Sie musste Ida bitten, dass sie ihn haben durfte.

Jetzt standen sie vor einer Ansammlung sehr gerader Häuser. Es war so etwas wie ein alter Meyerhof. Mächtig, selbstbewusst, abweisend. Die Gebäude sahen nach dicken Wänden aus. Hinter der Eingangstüre stellte Esther fest, dass die Außenmauer einen Meter zwanzig tief war. Draußen war es warm, in der Sonne heiß. Drinnen fühlte es sich kalt an, frostig. Ida schlenderte hinter Esther her und betrachtete den steinernen Boden. Dann drehte sie sich um und ging wieder hinaus. Esther schaute kurz in die riesige Wohnküche und in eine mächtige Speisekammer. Dann ging sie auch wieder hinaus. Ida stand versunken vor dem Haus und betrachtete die Fenster im Oberstock.

„Was meinst du?“ fragte Esther.

„Schau einmal, die Fenster da oben.“ Die Fenster glitzerten seltsam, das alte Glas bildete farbige Muster. In der Sonne zeigten sich glänzende Schlieren. Ida hatte wieder etwas gefunden, warum sie dieses Haus kaufen wollte.

Esther drehte sich um und ging auf ihre Vernunfttour.

Im Gang legte sie die Hand auf die Wände. Sie waren nicht fühlbar nass. Keine weißlich pelzigen Gewächse wie letzter Schnee auf dem rauen Putz. Im ersten Stock waren ein großer Vorraum und sehr viele Türen zu Zimmern, die sie jetzt nicht anschauen musste. Eine wacklige Treppe führte aufs Dach. Sie öffnete eine löchrige, enge Türe und stand in einem Riesendachraum, gewaltig, drei Stockwerke hoch. An Schnüren sah sie noch einige Tabakblätter, die Reste der letzten Ernte vor vielen Jahren. Sie betrachtete die Balken genau. Keiner schaute verfault aus. Die breiten Holzbohlen unter ihren Füßen waren auch nicht verfärbt. Es schien keine Löcher im Dach zu geben, es würde keine große Renovierung zu erwarten sein. Riesige schwere Balken ohne Fehler.

Esther wanderte in den Keller.

Der war völlig leer und schien einfach aus Beton zu sein, besenrein. Keine nassen Wände, leer. Nur in einem der vielen Räume gab es eine mächtige Wasserzisterne. Groß und rund, wie ein Schwimmbecken. In etwa einem Meter Tiefe konnte man einen weißlichen Kalkbelag sehen. Das Becken war in den Boden eingelassen. Der Rand ragte nur etwa sechzig Zentimeter hoch.

Als sie wieder nach oben kam, war Ida nicht da.

Esther sah in der Nähe einen anderen Bauernhof. In der Hoffnung auf Information wanderte sie dorthin. Ida würde warten.

Sie öffnete das knirschende Hoftor und rief einen Gruß. Keine Antwort. Als sie hineinging, sah sie eine alte Frau, die sich die Füße in einem Plastikbecken wusch. Esther ging zu ihr. Die Frau sah von der Nähe gar nicht so alt aus. Aber sie blickte nicht auf.

Esther grüßte und bekam keine Antwort. Vielleicht hörte die nicht?

Aber Esther probierte es hartnäckig noch einmal: „Wir überlegen, das Anwesen neben ihnen dort drüben zu kaufen. Ich hätte gerne gewusst, mit welchen Problemen sie hier so täglich zu kämpfen haben?“

Da sah die Frau auf ihre Füße und sagte: „Während man gierig Dinge an sich nimmt, seine Macht vergrößert, kann man nicht zuhören, nicht wahrnehmen. Die Dinge, die man wissen sollte, erfährt man nicht.“

Esther hätte eigentlich gerne etwas über Probleme mit der Post oder dem Stromnetz gewusst. Wasser war nicht so wichtig, würde in dieser Region nicht wirklich ein Mangel sein. Sie blickte auf die Füße der Frau, die aussahen wie alte Wurzeln. Sie waren recht dunkel, und die Zehen krümmten sich schwarzblau übereinander. Erschreckend, wenn man damit gehen und arbeiten musste.

Es kam nichts weiter, kein Wort.

Als sie zurückkam, saß Ida auf einem Stein im Hof. „Wie geht’s dir mit dem Haus?“ fragte Esther.

„Ja“, sagte Ida still, „ich will es“. Das war ein Entschluss. Das war keine Frage. Die Würfel waren gefallen.

Esther kümmerte sich um den Ankauf. Man zog gleich ein, während noch die Badezimmer modernisiert wurden, und dann kam der Sommer. Man begann, sich häuslich einzurichten.

VORMITTAG, WOCHEN SPÄTER

Esther fragte sich gerade, ob sie wirklich in den Jahren alt geworden war. Vielleicht wurde sie tatsächlich eine frustrierte und eremitische alte Jungfrau? Die Vergangenheit kroch ihr gerade nach, zeigte sich wie ein schleimiges Gespenst auf Rachetour. Gottes Mühlen waren ganz langsam unterwegs, aber sie holten sie dennoch ein. Natürlich hatte sie immer das Beste gemeint, aber das sagen sie alle.

Vor ihr saß Gottes Strafe. Strafe für welche Vergehen? Für alle. Für jedes einzelne.

Da sprach ihr Gegenüber mit einschmeichelnder Stimme: „Nun ja, ein bisschen überreif bist du schließlich schon, es war schon wichtig, dass du dich hierher flüchtest in ein ruhiges Leben. Du warst immer der reife Typ. Es wäre vielleicht auch wichtig, dass du dich um einen Mann umsiehst.“

„……und sei er noch so schäbig“ vollendete Esther tapfer und voll Widerstand. Nein! Sie lief jetzt nicht zum nächsten Spiegel. Heute früh war es noch nicht so schlimm. Nur ein ganz kleines Viertelstündchen Pause mit einem Spiegel und einer Antifaltencreme. Und alles wäre wieder im Lot. Ihr fiel der schwarze Schnurrbart ein, den sie immer wieder harzen musste, und der kleine braune Fleck, der nach einem Sonnenbrand geblieben war.

Gerade da vernahm sie laut und deutlich die Worte „Warum du diese scheußlichen Vorhänge da hingehängt hast, ist mir ein Rätsel“. Die Stimme war in dem Moment nicht schmeichelnd. Eher scharf ging es weiter. „Gottseidank habe ich Zeit, ich werde mich um das hier kümmern“, meinte Tante Tina - Christina - entschlossen. „So ein großes Haus muss richtig geführt werden“, sagte sie abschließend und endgültig. Esther war starr vor Schreck. Sie hatte angenommen, das wäre ein Tagesbesuch. Die Panik krallte sich in ihr Herz. Was sollte sie tun??

Vielleicht hatte der kürzlich überstandene Schock, die Begegnung mit dem Tod sie mehr mitgenommen, als sie dachte. Ihre praktischen Fähigkeiten waren lahm gelegt, hatten sie verlassen, waren einfach weg. Sie verharrte im peinlichen Moment und war absolut hilflos. Ihr Körper war zugeschnürt, nicht das kleinste Wörtchen konnte über ihre Lippen piepsen und sie spürte, wie Abschiedsschmerz auf ihren Rücken kroch. Denn gestern noch hatte sie mit Ida glücklich festgestellt, dass es in ihrer Wiese hinter dem Haus Heuschrecken gab. Eine glückliche Wiese, zwei glückliche Kinder – aus der Traum?

Die Stimme neben ihr plante weiter. „Natürlich muss ich gutes Personal einstellen und den überflüssigen Mist hinauswerfen. Der Garten schaut schrecklich aus“, stellte Tante Tina fest, die dritte Schwester. Esthers Mutter war die älteste gewesen und Tante Ida war die Jüngste, und sie, die da vor Esther saß, war die Mittlere. Und sie wollte einziehen, sie wollte sich einfach einnisten und das Glück kaputt machen.

SPÄTER VORMITTAG

Esther hatte es geschafft, Tante Tina mit rauer Stimme ein Getränk anzubieten, und eilte in den Garten, Ida suchen. Sie konnte nicht rufen, das hätte vielleicht den Feind aus dem Haus geholt. Nicht, dass Ida eine Entscheidung treffen würde. Ida hatte Wünsche, aber Entscheidungen waren ihr fern. Sie war immer bereit, Esther alles zu überlassen. Aber sie, Esther, konnte nicht Tante Tina aus Idas Haus entfernen. Sie war hier Sekretärin und brauchte Berechtigungen. Es war zu erwarten, dass bei dem Gespräch mit Ida gar nichts herauskam, dass die so schnell wie möglich davonwollte, aber dann hatte sie es ihr immerhin mitgeteilt. Hatte Ida einbezogen, auch wenn sie den Drachen alleine bekämpfen musste.

„Ida!“, zischte sie ins Gebüsch, wo Ida gestern geschlafen hatte. Nein, leer. Im alten Stadel gab es einen Haufen Heu, den Ida so liebte. Sie ging außen um den Hof, damit sie nicht vom Zimmer gesehen wurde, und hörte, dass Tante Tina die Fenster öffnete. Die machten ein eigenes Geräusch.

 

Ida saß am alten Heuboden schaute über die Wiese und ließ die Beine baumeln. Sie lächelte, als sie Esther sah. „Das hier ist ein Zauberhaus. Hier gibt es Geister die lieben“, meinte sie von oben herab.

Esther bereitete es fast körperliche Schmerzen, Ida aus dem Zustand herauszuholen. Es war eine Gemeinheit, so etwas war verboten, aber was sollte sie tun.

„Ida, es ist ein Malheur passiert“, fing sie vorsichtig an.

„Will dich dein Chef zurück?“, fragte Ida entsetzt.

„Nein, viel schlimmer.“ Ida hatte sichtlich keine Idee, was schlimmer sein konnte.

„Tante Tina ist da.“

Ida dachte kurz nach. „Du könntest sagen, ich musste Vorhänge einkaufen und dann übernachte ich in Wien. Ja?“

„Das löst das Problem nicht. Sie will bleiben.“ Grabesstille. Ida schien das Ganze nicht gleich zu erfassen. Sie sah Esther mit schreckgeweiteten Augen an. Dann sagte sie ganz leise: „Das geht nicht.“

„Wir können aber nicht gut sagen, dass kein Platz ist.“

„Wieso weiß sie von dem Haus?“

„Hat wahrscheinlich in der Wohnung gefragt, und Ezra kennt sie ja nicht gut. Ich denke, man muss schon irgendetwas sagen. Man kann doch eine alte Dame nicht einfach stehen lassen oder rausschmeißen – ohne Erklärung.“

Ida sah wirklich beunruhigt aus. Sie begann, schusselig Sachen hin und her zu legen. Panische Blicke. Esther kannte das bei ihr. Sie hatte das früher oft bei ihr gesehen. Esther brach es fast das Herz. Das absolute Notlaufprogramm. „Ich werde versuchen, das für dich zu regeln. Aber ich muss das mit dir besprechen. Es ist dein Haus.“

Ida richtete sich auf. Sie kletterte vom Dachboden. Mit fest zusammengepressten Zähnen sagte sie: „Wo ist sie?“

„Im Zimmer. Ich habe sie ja nicht in die Küche setzen können“, meinte Esther verteidigend.

Die alte Dame saß ganz gemütlich im großen Sessel, hatte sich einen Schemel geholt und die Beine hochgelegt. Als die Türe aufging, meinte sie: „Habt ihr denn da kein wirklich kaltes Wasser, ich vertrage die Hitze so schlecht.“ Es fühlte sich tatsächlich erstaunlich warm im Zimmer an. Sonst war das Haus immer eisig. Im Ort nannten sie es das Eishaus. Aber heute war es in dem Raum wirklich sehr warm.

Da sah sie ihre andere Nichte. „Ah Ida, mein armes Kind.“ Sie wollte sie in die Arme schließen, aber die Eine schwitzte, die Andere war unwillig, und so gelang die Umarmung nicht.

„Warum, Tante Tina, möchtest du hier wohnen?“ Esther spürte, wie sich Idas Magen wölbte, als sie dem Stier an die Hörner ging.

„Nun, es ist doch selbstverständlich, dass ich mich um euch kümmere“, meinte der unerwünschte Besuch.

„Aber du hast doch deine schöne Wohnung.“

Ida schien sie in die Enge zu treiben. Esther war verblüfft.

„Ich versteh dich nicht, natürlich komme ich hierher.“

„Wieso natürlich?“ Idas Widerstand war jetzt deutlich, und Tante Tina konnte beim besten Willen nicht mehr so tun, als ob sie nichts bemerkt hätte.

„Nun, schließlich ist das auch mein Haus.“ Esther fand die Diskussion zermürbend. Wieso ihr Haus?

„Es ist kein Familiensitz. Wir sind keine Grafen“, meinte Ida still.

Da richtete sich die alte Dame auf. Sie war sehr böse. „Dieses Haus ist eigentlich mein Haus. Es gehört rechtmäßig mir. Ich war Aarons Verlobte, ich sollte ihn heiraten, als meine Schwester Ida kam und ihn mir wegnahm. Dank einer Gemeinheit und Dank eines Diebstahls sitzt ihr jetzt hier im Schloss und ich soll draußen an der Türe demütig pochen!“ Sie rauchte vor Zorn. Die Bilder der Vergangenheit schienen wie Doping zu wirken. Ida drehte sich wortlos am Absatz um und ging hinaus. Esther folgte.

„Was tun wir?“ fragte Esther. „Weiß nicht.“ Ida war wieder in der alten Rolle.

„Ich kann sie in deinem Namen rausschmeißen?“

„Das mit Vater stimmt. Ich weiß, dass es stimmt.“

„Ist das ein Argument, sich einzuladen?“

„Nicht wirklich, nein. Vielleicht hilft uns der aus dem ersten Stock?“

„Wer?“

„Wir wohnen hier ja nicht allein“, meinte Ida. Aber mehr wollte sie nicht erklären. Ida hatte, so schien es, Kontakt mit mystischen Wesen, die ihr Haus bevölkerten.

AM NÄCHSTEN TAG

Tante Tina hielt Einzug. Sie war da und vorbei war es mit dem Frieden. Was vorher ein angenehmes Miteinander war, wo jeder tat und ließ, was ihm passte, wurde zum Hindernisrennen. Ausweichen, vermeiden, höflich ablehnen. Was in ihre eifrigen Finger kam, nahm Tante Tina in die Hand. Sie korrigierte und verbesserte, wahrscheinlich mit bestem Willen und trotzdem unerträglich. Ida verschwand zunehmend in der Landschaft. Und Esther war hilflos, sie war Sekretärin, konnte nichts durchsetzen. Keine Lösung in Sicht.

Esther überlegte laut, als sie mit Ida in der warmen Wiese saß, die Tante Tina noch nicht erobert hatte. „Wenn wir Ezra und die ganze Studentenpartie einladen,… Ein Fest, sagen wir zum Abschluss der Arbeiten in der Wohnung, ein richtiges Fest, mit möglichst vielen und so als Urlaub einige Wochen. Laut, mit Musik bis spät in die Nacht. Vielleicht geht sie dann von allein.“

„Ezra soll Wolfgang mitbringen.“

„Wolfgang?“

„Er hat so schöne schwarze Haare am Rücken.“

Schwarze Haare am Rücken? Was für eine Beziehung hatte Ida zu Wolfgang? Esther hatte Wolfgang zwar sympathisch gefunden, aber seine kleinen Eigenheiten machten bei Freunden Probleme. Wo Wolfgang war, kamen Sachen abhanden. Nur in diesem Fall konnte man das vielleicht als Segen einsetzen. Wenn einmal da und dort etwas wegkam, war das doch für Tina vielleicht ein Grund, wieder zu fahren, oder? Auf jeden Fall fiel Esther im Moment keine bessere Lösung ein.

Sie sah besorgt auf Ida. Esther hatte gehofft, dass Ida in dem Haus wachsen würde, Wurzeln schlagen, sich ausbreiten. Das war auch tatsächlich der Fall gewesen, in der Heuschreckenwiese – bis Tante Tina kam. Jetzt aber spürte sie bei Ida einen Schrumpfprozess. Im ständigen Versuch, Tante Tina zu entkommen, machte die nicht mehr die Dinge, die sie machen wollte, probierte nicht mehr aus, was sie probieren wollte. Ein Rückschritt! Ein absoluter Rückschritt. Genau das, was Esther seit Monaten beunruhigt hatte, war wieder da. Sie hatte wahrgenommen, dass Ida immer weniger lebte. Ein langsames Sterben der Seele hatte sie zutiefst erschreckt. Bei lebendem Leibe gestorben, dachte Esther und spürte in den Worten die ganze Gefahr. Ida war in Gefahr, jetzt wieder, nach einer kurzen Phase des Aufblühens.

NACHMITTAG, ZWEI TAGE SPÄTER

Ezra fand es gut, seinen Studienkollegen und Helfern etwas anbieten zu können. Urlaub in einer der schönsten Gegenden Österreichs, nach einem wirklich gut bezahlten Job. Wolfgang lenkte den Kleinbus, es herrschte angenehme Stimmung. Sogar Edmund hatte sich kurz von den Sorgen der Welt lösen können. Er war zwar tieftraurig, wie immer, aber nicht hoffnungslos. Hubert und Jörg waren voll Erwartung, obwohl Hubert in letzter Zeit ein wenig unruhig gewirkt hatte. Hille schlief wahrscheinlich den Alkoholkonsum vom Vorabend aus. Sie fuhren in einer mutigen Kurve in den Jaidhof ein. Die Katze nahm den kurzen Weg übers Dach, Tante Tina blieb stehen.

Die Herren entstiegen dem Wagen, heiß und ein wenig zerknittert. In gemeinsamer Bewegung setzten sie die Trinkflaschen an.

„Meine Herrn! Was suchen sie hier?“ Tante Tina klang scharf und laut.

Ezra war von Esther mit heiserer, hektischer Stimme vor drei Tagen informiert worden. Die Panik hatte sie noch fest umschlungen und klang durchs Telefon. Sie stellte Ezra alle Seitenaspekte und alle Nebenwahrscheinlichkeiten vor, im heftigen Bemühen, einen Verbündeten zu rekrutieren. „Bitte, bitte kommt alle und bleibt hier, Wolfgang auch, und wir feiern viele Feste. Laute Feste. Und ihr benehmt euch daneben. Seid unmöglich, rücksichtslos, laut, lasst alle Hemmungen fallen! Unterlasst nichts, was euch einfällt und Freude macht.“

Er trat daher höflich, devot auf Tante Tina zu, zog im Geiste seinen Hut. „Liebe gnädige Frau, wir haben es geschafft, wir sind fertig. Wir haben tatsächlich die ungeheure Wohnung ausgeräumt, alles, bis aufs letzte Stückchen Papier. Und jetzt machen wir Urlaub hier, wie ja besprochen war. Wir freuen uns sehr. Hier ist es wirklich schön.“

Wolfgang war voll eingeweiht. Er räumte gerade sehr sichtbar zwei riesige Lautsprecher aus dem Bus. Sie hatten sie bei einem Studienfreund entliehen, der Tontechnik beim Festival in Wiesen machte. Das Ding war für Freiluftkonzerte mit etlichen tausend Besuchern geeignet und man sah es ihm an. Dann nahm Wolfgang Haltung an und fragte Ezra: „Glaubst du, sollen wir sie für heute Abend gleich draußen lassen oder soll ich sie inzwischen hineinstellen?“

Ezra dachte sichtbar nach. „Ich denke, es ist jetzt 14 Uhr. Wir fangen um 18 Uhr an und du musst das Ganze noch einrichten. Entschuldigen Sie, liebe gnädige Frau, das wird ein bisschen Lärm machen, aber wir brauchen zum Feiern Musik.“ Er wendete sich zu seinem Freund: „Lass die Anlage dort drüben, dort stört sie nicht.“ `Dort drüben´ war genau unter Tante Tinas Zimmer. „Dort kann die Anlage bleiben, das Wetter schaut gut aus.“

Da kam Esther mit strahlendem Lächeln auf ihn zu. Er mochte Esther, eine Liebe seit Kindertagen. Sie umarmten sich zärtlich. „Habt ihr es tatsächlich geschafft, die Wohnung auszuräumen. Ihr seid großartig. Eine echte Leistung. Tante Tina, ich glaube, du kennst Ezra. Ihr habt euch vielleicht in der Wohnung gesehen, als du dort warst.“, meinte sie hintergründig. „Die alle haben die Arbeit des Herkules vollbracht. Das muss gefeiert werden.“

Scharf und zornig kam die Antwort. „Ich weiß, dass meine Schwester einen Dreckstall beinander hatte, aber ich weiß nicht, was daran gefeiert werden muss, einen anderen Menschen von der Welt zu löschen.“ Sie drehte sich um und ging ins Haus.

Alle standen wortlos im Kreis. Ezra streichelte Esther fürsorglich über die Hand. Sie wirkte erschrocken, hilflos und vom schlechten Gewissen gewürgt. „Gibt’s was zum Essen?“, fragte er zärtlich. Sie schreckte aus ihren dunklen Wolken. „Ja gleich. Alles bereit.“ Keine Frage, man konnte sich darauf freuen.

Da kamen seltsame Töne aus den Riesenlautsprechern, quietschende surrende Versprechen für den Abend. Im Augenblick war es für alle Ohren eher unerfreulich. Der Ton nahm an Fülle zu, flaute dann wieder ab, fuhr Achterbahn. Rhythmisches Klopfen und dann Gabel auf Teller hundertfach verstärkt. Wolfgang drehte die Höllengeräusche herunter und kam mit einem Mikro an. „Kommt, singt mir ein Liedchen für den Pegel.“ Edmund, der Dichter, sah das Mikrofon tieftraurig an. So tieftraurig wie am Ende der Welt. „Nein“, meinte er mit Grabesstimme, „Absolut nein, ich singe kein Liedchen.“

„Dann sag halt etwas, irgendwas, sag wie du heißt und ihr auch. Ich brauch das.“

Sie sagten alle brav ihren Namen ins Mikrofon, Ezra, Esther, Edmund, Hille, Hubert und Jörg. Ida kam angelaufen und rief „Ich will auch was sagen, ja, meinen Namen.“

Sie sagten alles noch einmal, bis Wolfgang zufrieden war, und er ging und schaltete an den Geräten herum. Da klang es laut und deutlich, wenn auch ein bisschen unrein, über den großen Hof: „Ich bin Robert.“

„Was hast denn du da drauf gehabt? Von wann ist denn das?“, fragte Ezra und merkte, dass Wolfgang erstarrt dort saß. „Ich hatte nichts drauf, ich hab das grad erst neu eingelegt. Aus der Packung – neuer Chip“

Wolfgang war verwirrt. Er schaltete um. Es dauerte ein bisschen, dann sagte Edmund: „Ich heiße Edmund….“ Es klang vertraut, deutlich und klar über den Hof. Die Tonqualität war sehr gut, ausgezeichnet. Nach Ida war die Sache zu Ende und Wolfgang schaltete. Da erklang wieder das etwas undeutliche „Ich bin Robert.“

„Das ist vielleicht der aus dem Fenster“, meinte Ida.

„Wer aus dem Fenster?“ Sie standen alle beisammen.

„Da oben im Fenster ist immer wieder einmal ein Mann mit Hut. Ich habe ihn schon am ersten Tag gesehen, als wir hier waren, das Haus anschauen. Da stand er oben und schaute auf uns herunter. Ein ziemlich prächtiger Hut.“

Ezra spürte ein leises Prickeln. Wie ist das Leben mit einem Gespenst? Hatte das nur Belastungen oder konnte das auch Vorteile bieten? Schließlich hatte er hier einen Job zu machen. Tante Tina sollte sozusagen sanft entfernt werden. Esther hatte ihm die Sache erklärt. Einfach rausschmeißen kam nicht in Frage. Ideal wäre es, würde sie selbst beschließen zu gehen. Da konnte eine Geistererscheinung doch Möglichkeiten eröffnen. Das Problem war, man konnte mit einem Geist nicht vernünftig reden. In Sachen Tante Tina konnte er, richtig eingesetzt, eine große Hilfe sein. Aber wie ihm das klar machen?

 

Alle wanderten auf die Wiese, um das Fenster mit dem Geist zu betrachten. Das Fenster hatte ein seltsames Farbenspiel. Offensichtlich sehr alte Scheiben, die Schlieren in Rosa, Lilablau, Weiß und ein wenig Gelb zeigten, aber Ezra konnte beim besten Willen keinen Mann mit Hut erkennen. Da sagte Ida neben ihm: „Er ist gerade nicht da. Er ist immer mal nicht da und kommt dann wieder.“ Ida hatte wohl seit längerem ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Hausgeist. Vielleicht konnte sie vernünftig mit ihm reden?

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