Bubishi

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I









Einführung in die Untersuchung einer Reliquie: Vom chinesischen Shaolin quan zum japanischen Karatedô












Das „fehlende Bindeglied“



Es ist bekannt, daß alles, was Historiker über die Entwicklung der Kunst der „leeren Hand“

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 in der Zeit vor Beginn des 20. Jahrhunderts aussagen, mit Vorsicht interpretiert werden muß und mit dem bereits bestehenden Wissen sorgfältig verglichen werden sollte. Jede voreilige „Erkenntnis“, die dem Enthusiasmus entspringt, der gerade auf diesem Forschungsgebiet jede neue Entdeckung zu begleiten pflegt, kann zu falschen Schlußfolgerungen und den Forscher in die verkehrte Richtung führen. Da einige dieser Irrwege äußerst verlockend erscheinen, fällt die Rückkehr dann oftmals nicht leicht. Größte Vorsicht ist also geboten, wenn man sich mit der Geschichte des

Okinawa te

 oder des

Ryûkyû-Kempô

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 im 19. Jahrhundert befaßt.



Unter diesen Voraussetzungen betrachtet, können nur wenige Fakten als historisch gesichert angesehen werden, denn es gab zu jener Zeit keine zuverlässigen Aufzeichnungen; alles beruhte auf der Geheimhaltung der einzelnen Stile, auf Rivalität, und Wissen wurde grundsätzlich mündlich weitergegeben. Aus dem Geflecht überlieferter Geschichten und Legenden konnten lediglich wahrscheinliche Aussagen über die tatsächlichen Geschehnisse extrahiert werden.



Und an diesem Punkt kam es plötzlich zur Wiederentdeckung des Bubishi. Mit seinem Text und seinen Illustrationen schien es

das

 Dokument schlechthin zu sein über die traditionellen chinesischen Kampfkünste. Zugleich war es Inspiration für die ältesten Schulen des

Okinawa te

, deren Vertreter während der letzten Jahre das Bubishi in zunehmendem Maße offen als wertvolle Quelle ihres gegenwärtigen Wissens bezeichneten. Das fragliche Dokument war 100 bis 300 Jahre alt, und es war authentisch. Endlich zeichneten sich die Konturen der Brücke zwischen China und Okinawa deutlicher ab, über welche die Kampfkunst mit bloßer Hand, deren Wurzeln sich bis ins berühmte Shaolinkloster verfolgen lassen, auf die Ryûkyû-Inseln

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 gelangt war. Man hatte das „fehlende Bindeglied“ der Übertragungskette gefunden. Auch wenn im Bubishi nicht auf alle Fragen eine Antwort gefunden werden kann, so stellt es doch einen gewichtigen Beitrag zur Kenntnis der Herkunft und der Urbestandteile des

Karatedô

 dar. Es vermittelt uns auch eine Ahnung des Wunderbaren, das das Leben dieser alten Meister aus Okinawa durchdrang, die uns ein Erbe an Kampftechniken und Kultur hinterließen, dessen Fülle wir selbst heute noch nicht vollkommen erschlossen haben.



Für den

Karateka

, der wissen will, woraus das Karate, das er praktiziert, im Grunde besteht, ist dieses wieder und wieder mit größter Sorgfalt kopierte Manuskript

das

 historische Dokument schlechthin. Es sollte ihm jedoch klar sein, daß selbst diese Quelle, so unverzichtbar und unersetzlich sie auch sein möge, seinen Wissensdurst nicht völlig stillen wird. Dennoch, auch wenn das Bubishi nicht als Handbuch der Techniken, der Geschichte und der Philosophie des Karate begriffen werden kann, erhellen seine theoretischen und praktischen Ausführungen auf eine Weise die Wurzeln der Kampfkünste, daß dieses kleine Buch in seinem Rang mit dem berühmten Werk „Die Kunst des Krieges“ von Sun-Tsu oder auch mit Miyamoto Musashis „Buch der fünf Ringe“ vergleichbar ist.



Ich halte es für wichtig und für nur allzu gerecht, hervorzuheben, daß es zum großen Teil Ôtsuka Tadahiko

Sensei

 zu verdanken ist, wenn heute das lange Zeit unbekannte (oder zumindest in seinem Wert verkannte) Bubishi von Seiten der Spezialisten mit wachsendem Interesse bedacht wird.

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 Ôtsuka

Sensei

, Gründer und Leiter des

Gôjûkensha

 in Tokio, ist einer der zeitgenössischen japanischen Meister, die all ihr Streben darauf richten, nach den Wurzeln des

Karatedô

 zu suchen und es in seiner ursprünglichen Form zu rekonstruieren. Dank der Unterstützung durch Yang Ming-shi

Shifu

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 und die okinawanischen Meister Iken Tokashiki

Sensei

 und Mie Shimizu

Sensei

 gelang Meister Ôtsuka die erste Übertragung des Bubishi ins moderne Japanisch. Bereits Mitte der 70er Jahre erzählte er mir von diesem Dokument, dessen Wert ich damals noch nicht in vollem Umfang zu erkennen vermochte, und er hielt mich in der Folge über seine Forschungen und Veröffentlichungen zu diesem Thema auf dem Laufenden. In meinen Augen stellt er die unangefochtene Autorität für das Bubishi in Japan dar. Gewiß existieren weitere Kopien des Originalmanuskripts in den von den alten Meistern Okinawas, Chinas und Japans hinterlassenen Archiven, aber es war niemand anders als Meister Ôtsuka, der seine Arbeiten zum Bubishi der Öffentlichkeit zugänglich machte. Wir verdanken ihm außerdem eine bemerkenswerte Studie über die Übertragung der chinesischen

Dao

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 auf die

Koshiki kata

 aus Okinawa. Die Studie beruht auf der Wiederentdeckung einer sehr alten chinesischen

Kata

 aus der Provinz Fujian (Fukien), die im Bubishi erwähnt wird und die den gemeinsamen Stamm der stark auf Atemtechniken orientierten modernen

Kata

 des

Gôjû ryû

 darzustellen scheint: der

Happoren no kata

. Mit seiner Erlaubnis und auf seine Anregung hin habe ich damit begonnen, diese Entdeckungen durch meine eigenen Bücher zu verbreiten. Dem Meister und auch Freund, der er mir geworden ist, sei hiermit für seine außerordentlichen Beiträge zum Wissen über die Tradition gedankt.




Ein geheimes Dokument



Das Bubishi stellt aus heutiger Sicht die gemeinsame Wurzel zumindest der wichtigsten Stile des

Ryûkyû Kempô Karate Jutsu

 dar. Dieses historische Dokument, dessen Authentizität unangefochten ist, wurde lange Zeit von den alten Meistern Okinawas, in deren Hände es anscheinend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangte, geheimgehalten. Es ist bekannt, daß sowohl Higashionna Kanryô (1853 - 1915) als auch Itosu Ankô (1832 - 1916) ein Exemplar besaßen. Es scheint, daß Miyagi Chojûn (1888 - 1953) durch ein Kapitel des Bubishi inspiriert wurde, als er im Jahre 1929 seinen eigenen Kampfkunststil

Gôjû ryû

 nannte. Darauf deutet die Verwendung der Begriffe

 (Härte; das Ausatmen) und

 (Weichheit; das Einatmen; aber auch: die Geschicklichkeit, sich aus einer mißlichen Lage zu befreien) hin. Andere, wie sich noch zeigen wird, wußten um die Existenz des Buches, ohne jedoch in jedem Fall die Möglichkeit zu einem intensiveren Studium der Schrift gehabt zu haben. Der erste, der das Dokument teilweise der Öffentlichkeit zugänglich machte, war Mabuni Kenwa (1889 - 1952), der Begründer des

Shitô ryû

. In seinem Buch „Studie der Seipa“, das 1934 in Tokio erschien, gab er einige Auszüge aus dem Bubishi wieder.

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Worum geht es nun im einzelnen auf diesen seit vielen Generationen von den Meistern an ihre Schüler weitergegebenen und immer wieder sorgfältig kopierten Seiten? In 32 Abschnitten werden die Techniken des Shaolin-Stils

Quan-fa

 (

Chuan-fa

), die Techniken des

Kranichs

 (auch

Weißer Reiher

) aus der chinesischen Provinz Fujian, die Übungen des

Qigong

 (Beherrschung der inneren Energie), die geheimen Prinzipien des

Tuidi

 (

Dianxue

, auf japanisch

Atemi

) und alle Formen des Angriffs auf die Vitalpunkte des menschlichen Körpers abgehandelt. Des weiteren werden das

Bunkai

 (Anwendungsmöglichkeiten) der

Kata Happoren

, das Wissen über Heilkräuter und die Art ihrer Verwendung bei Kampfverletzungen beschrieben, und es werden moralische Richtlinien dargelegt, die durch jene, die in all diese Geheimnisse eingeweiht sind, zu befolgen sind.



Einerseits stellt das Bubishi einen äußerst bemerkenswerten Versuch dar, das Wissen über die Künste der „leeren Hand“, wie es in der Zeit der Entstehung des Buches bestand, als ein Ganzes zu begreifen. Andererseits sind die Informationen, die im Bubishi gegeben werden, nicht immer zusammenhängend dargestellt, und es ist auch nicht immer möglich, ihren praktischen Aspekt klar zu erkennen. Eine weitere Schwierigkeit der Textinterpretation ergibt sich daraus, daß es ursprünglich in dem chinesischen Dialekt, wie er in Fujian gesprochen wurde, verfaßt wurde und die heute existierenden Kopien auf Abschriften und auf Übersetzungen in andere Dialekte oder gar Sprachen beruhen. Dadurch haben sich zwangsläufig Irrtümer grammatikalischer und lexikalischer Natur eingeschlichen. Auf diese Weise bleibt das Bubishi gewissermaßen ein Text voller Geheimnisse, geschützt durch eine Art „Code“. Ähnlich wie bei einer alten

Kata

, die auch nicht durch bloße Übung all ihre

Bunkai

-Möglichkeiten enthüllt, werden, je nachdem, welchen Grad der Vollkommenheit (vielleicht auch der „Reinheit“) der Suchende erreicht hat, verschiedene Aspekte auf unterschiedliche Weise begriffen.








Foto 2: Die ersten Anfänge entwickelten sich höchstwahrscheinlich im alten Indien. Die riesigen Steinwächter am Eingang zur großen Höhle der Longmen-Grotten in der Nähe von Lo-Yang (China) nehmen verschiedene Haltungen aus der

Vajramukti

-Kampfkunst ein, die einst durch die Kriegerkaste des alten Indiens praktiziert wurde. Diese Positionenfinden sich gleichermaßen in japanischen Götterstatuen (

Devas

) und in Figuren der Tempelwächter im mittelalterlichen Japan (

Kongo-Rikishi

) wieder. Auch in der alten Kampkunst der Mönche des berühmten Shaolin-Tempels lassen sich diese Körperhaltungenwiederfinden. Dieser Tempel liegt an einer von Indien nach China führenden Pilgerstraße, über die im übrigen auch der

Chan

-Buddhismus nach China gelangt ist.

 








Das alte chinesische Symbol des Tai Ji repräsentiert das Universum im vollendeten Gleichgewicht gemäß den Prinzipien des Yin und des Yang, von denen jedes ein Teil des anderen enthält. Die Außenlinien der Begrenzungen fügen sich harmonisch in den Kreis, der das Dao symbolisiert. Alle aus China stammenden Kampfkünste, sowohl in ursprünglicher Gestalt als auch solche, die eine Synthese verschiedener Stilrichtungen darstellen, sind zutiefst von dieser taoistischen Sichtweise durchdrungen, die den philosophischen und religiösen Hintergrund für die Techniken bildet. Natürlich findet dies auch im Bubishi seinen Widerhall.








Foto 3: Um das Jahr 520 n. Chr. kam ein aus der Gegend von Madras stammender Mönch von Indien in die chinesische Provinz Henan und brachte das Chan (Zen) zum „Kloster des kleinen Waldes“ (Shaolin). Es ist denkbar, daß er das Vajramukti kannte. Fest steht, daß er dort eine bestimmte Kampftechnik lehrte und sich schließlich neun Jahre lang in eine Höhle zurückzog, um dort zu meditieren (das Foto zeigt den Eingang zu dieser Höhle). Auf diese Weise begann die Legende der unbesiegbaren Shaolin-Mönche.








Foto 4: Bodhidharma (auf chinesisch Da-mo, auf japanisch Daruma) überquert den Jangtse-Fluß auf einen Schilfrohr. Eine von zahlreichen modernen Darstellungen dieser Episode, wie man sie in den Tempeln Südchinas finden kann.








Foto 5: Klassische Darstellung derselben Begebenheit. Die Zeichnung (Tinte auf Papier, Museum von Stockholm) aus dem Jahre 1655 stammt von Shih Tsu (bekannter unter seinem Kaiser-Namen Shun Chih, 1638 - 1661).



Der Name

Bu Bi Shi

 (

Wu Bei Chi

 oder

Wu Bei Zhi

 auf Mandarin) bezieht sich auf die Kenntnis der Kriegskunst.

Bu

 steht für Krieger,

Bi

 für Wissen und Versorgen und

Shi

 für Geist und Ehrgeiz. Die genaue Entstehungszeit und der Entstehungsort des Werkes werden wohl für immer im Dunkeln bleiben. Wenig ist über seine Autoren bekannt. Es könnte sich um die Arbeit mehrerer Meister handeln, die ein und dieselbe chinesische Quelle studiert haben und der Nachwelt eine Art Vermächtnis hinterlassen wollten. In den folgenden Abschnitten sollen einige Hypothesen über die Herkunft des Buches und seinen Weg auf die Insel Okinawa erörtert werden.




Die Ursprünge: Vom ersten zum zweiten Bubishi



Tatsächlich existieren zwei Werke, die den Titel

Bubishi

 tragen. Beide stammen aus Fujian, aber hinsichtlich ihrer Entstehungszeit und ihres Umfangs unterscheiden sie sich beträchtlich voneinander. Uns interessiert hier vor allem das später entstandene, kleinere Buch, das jedoch viel von seinem Inhalt dem älteren Bubishi verdankt.



Das erste Bubishi ist ein monumentales Werk, das im Jahre 1621 durch Mao Yuan Yi (ca. 1594 - 1844) veröffentlicht wurde.

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 Der Autor hatte 15 Jahre seines Lebens damit verbracht, alles, was zu seiner Zeit über die Kunst des Krieges bekannt war, zusammenzufassen: Strategie und Taktik, Landkarten sowie Techniken des Einzelkampfes mit und ohne Waffen. Das Buch, von dem heute noch einige Kopien existieren, umfaßt 240 Kapitel. Die darin behandelten Nahkampftechniken mit und ohne Waffe wurden anhand von 32 Kampfpositionen – 16 Abbildungen mit jeweils zwei Personen – illustriert. Diese Kampfhaltungen ähneln stark den bereits 1561 durch den chinesischen General Qi Jiguang (1528 - 1588) in seinem Buch „Ji Xiao Xin Shu“ (auf japanisch „Kiko Shin Shô“) beschriebenen und auch denen des zweiten Bubishi. Allerdings werden in letzterem bedeutend mehr Positionen beschrieben. Mao Yuan Yis Bubishi wird in China bis zum heutigen Tag unter Verschluß gehalten, und lediglich hochrangige Militärs und Regierungsmitglieder haben ein Recht auf Einsichtnahme. Während der Qing-Dynastie (1644 - 1911) stand es sogar auf dem Index, weil es den Gegnern der Herrschenden als Anregung zum Widerstand hätte dienen können.



Der Kern des zweiten, bedeutend weniger umfangreichen Bubishi besteht aus dem Kampfstil, der „Weißer Kranich“ (

Baihequan

 oder auch

Hork Yang

; auf japanisch

Hakutsuru ken

) genannt wird. Dieser Kampfstil stammt aus dem in der Provinz Fujian gelegenen Dorf Yongchun. Das Buch wirkt wie ein „regionales Produkt“, dessen Gehalt durch Kenntnisse, die aus unterschiedlichen, weiter entfernt liegenden Quellen stammten, erweitert und vertieft wurde. Die zum Teil ungenau und grob ausgeführten Zeichnungen wie auch verschiedene zweifelhafte Übertragungen alter chinesischer Schriftzeichen setzen beim Leser umfangreiche Kenntnisse der Techniken, auf die im Text angespielt wird, voraus. Beispielsweise wird in dem Abschnitt, der den Heilkräutern und ihrer praktischen Anwendung bei Verletzungen gewidmet ist, offenkundig davon ausgegangen, daß derjenige, der den Text liest, bereits mit einer Vielzahl von Kräuterarten und Kräuterabsuden vertraut ist. Es ist klar, wie gefährlich es unter diesen Umständen sein kann, das entsprechende Kapitel falsch oder unzureichend zu erläutern. Das gleiche gilt natürlich für die Erklärungen zu Angriffen auf die Vitalpunkte. Die Ausführungen im Bubishi, die sich auf den „tödlichen Stoß“ oder auf die „vergiftete Hand“ (

Dianxue

 oder

Tien hsueh

 auf Mandarin,

Dim mak

 im kantonesischen Dialekt) beziehen, sind relativ undeutlich. Auch in diesem Fall läßt sich mit den Elementen, die durch das Bubishi gegeben werden, nicht viel beginnen, wenn die Techniken nicht korrekt und zusammenhängend durch einen Experten entschlüsselt werden. Dem „Uneingeweihten“ bleibt die praktische Anwendung somit verwehrt. All dies legt den Schluß nahe, das Bubishi sei eine Art „Notizbuch“, denn nichts darin wird tatsächlich ausdrücklich benannt, und nur jene, die „bereit“ für dieses Wissen sind, können die Botschaft empfangen. Ihnen erlaubt es, das zu überprüfen, was sie bereits vermuteten, es weist ihnen die Richtung für weitere Forschungen und hilft ihnen, neue Fragen zu stellen. Die anderen, die nicht „bereit“ sind, können hingegen mit dem zusammenhanglos wirkenden Informationsgeflecht keinen Mißbrauch treiben. Ihnen wird das Buch letztendlich überhaupt nichts „sagen“. So gesehen, hat das Bubishi aus Fujian etwas Hermetisches an sich. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde der Versuch unternommen, gefährliches „Kriegerwissen“ schriftlich weiterzugeben, und dies wurde verständlicherweise von entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen begleitet.




Die Verbreitung: Die Verbindung zwischen China und Okinawa



Wie oben dargelegt, ist der Eckstein des jüngeren Bubishi der „Weiße Kranich“, ein Wushu-Stil. In dem 1983 von Liu Yinshan

Shifu

 veröffentlichten Werk über diesen Kampfstil

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 stellt der Autor die These auf, daß unter den Mönchen, welche die Zerstörung des Shaolinklosters im Jahre 1674 überlebt hatten,

19

 ein Mann namens Fang Houshu war. Dieser gelangte schließlich in die Provinz Fujian, wo er sich in dem Dorf Fuzhou niederließ. Verschiedene Quellen behaupten, daß Fang Houshu der Vater Fang Jin Jangs war, die in dem Nachbardorf Yongchun aufwuchs und den Stil des Weißen Kranichs begründete. Dies würde bedeuten, daß der Stil im 18. Jahrhundert entstand. Weiterhin behauptet Liu Yinshan, daß diese Technik im Jahre 1922 durch Lin Deshun, einen Schüler der fünften Generation der von Fang Jin Jang begründeten Schule nach Taiwan gebracht wurde. Er soll ebenfalls eine Kopie des Bubishi mit sich geführt haben. Nach Okinawa gelangte das Bubishi hingegen bedeutend früher, doch solch präzise Angaben wie über seinen Weg nach Taiwan können nicht gemacht werden.



In seinem 1934 erschienenen Werk über das

Karatedô

 behauptet Miyagi Chojûn, daß 1828 ein Stil des chinesischen Boxens von Fuzhou nach Okinawa gelangte, der zur Grundlage für das von ihm entwickelte

Gôjû ryû Kempô Karate

 wurde. Über die Umstände, wie dieser Stil nach Okinawa gelangte, trifft er jedoch keine Aussage. Wurden die Grundlagen dieser Technik, wie allgemein angenommen wird, durch chinesische Meister (

Shifu

) eingeführt,

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 oder wurden sie von Okinawanern, die aus verschiedenen Gründen nach China gereist sein mochten, von dort in ihre Heimat mitgebracht? Falls letzteres der Fall war, stellt sich auch die Frage, ob diesen „Pilgern“ Einblick in das Bubishi gewährt wurde und ob sie die Möglichkeit hatten, sich Kopien für den persönlichen Gebrauch anzufertigen. Es gibt guten Grund, zu vermuten, daß tatsächlich Okinawaner, die China bereisten, um ihren Kampfkunsthorizont zu erweitern, das Buch nach Okinawa brachten. Möglicherweise versahen sie den Text an verschiedenen Stellen sogar mit Ergänzungen, denn diese Meister, die ins Reich der Mitte reisten, waren bereits zuvor Experten der Kampfkünste. Letzte Aufklärung über all diese Fragen wird es wohl nie geben.



Ich habe in meinem Buch „Koshiki Kata – die klassischen Kata des Karatedô“ ausführlich die Geschichte der Kunst der „leeren Hand“ erörtert, ausgehend vom antiken China bis hin zum modernen Japan. Ich habe gezeigt, wie wesentlich für diese Entwicklung Okinawa als Schmelztiegel war. Ich werde daher an dieser Stelle zu dieser Thematik nur das erwähnen, was unbedingt notwendig ist, um das Phänomen Bubishi begreifen zu können. Jene, die mit dieser historischen Entwicklung vertraut sind, werden allerdings bemerken, daß ich einige neue und wichtige Präzisierungen, neue Teilchen des Puzzles, aus dem heute immer klarer und glaubwürdiger ein Bild entsteht, hinzugefügt habe.








Foto 6: Bodhidharma lehrt im Shaolinkloster die „18 Hände des Lo Han“, Techniken, die als Grundlage aller chinesischen Kampfkünste angesehen werden. Auf den Mauern der

Baiyi

-Halle des heutigen Klosters kann man noch immer ein eindrucksvolles Fresko bewundern, das Mönche beim Training zeigt (siehe auch S.

48

 ff.)








Foto 7: Shurei-no-Mon, das aus dem 15. Jahrhundert stammende Portal zum alten Palast von Naha auf Okinawa. Durch die in der Nachbarschaft von Naha gelegene chinesische Kolonie Kumemura erhielten Mitglieder der okinawanischen Kriegerelite Kenntnis von verschiedenen Shaolin-Kampfkunsttechniken.








Foto 8: Statuen in Menschengröße, die die einst im Shaolinkloster praktizierten Kampfkünste repräsentieren. Von ihnen existieren einige Dutzend in einem der Höfe des heutigen Klosters. Bereits ein oberflächlicher Vergleich genügt, um die enge Verbindung zwischen den im Bubishi beschriebenen und den Shaolin-Techniken zu erkennen.




Kumemura: Die Eingangspforte



Die Bewohner Okinawas (die

Uchinanku

) entwickelten bis zum 19. Jahrhundert selbständig die Techniken des

Okinawa te

 (der „Hand Okinawas“) aus lokalen, chinesischen und japanischen Kampfkunststilen. Der japanische Einfluß wird für gewöhnlich selten berücksichtigt. Es ist jedoch so gut wie sicher, daß die Inselbewohner bereits seit der

Heian

-Epoche (794 - 1192) Einblicke in die japanischen Militärwissenschaften gewinnen konnten. Aus den „Geschichten des

Hogen

-Krieges“ (

Hogen Monogatari

) erfahren wir, daß nach der Niederlage, die Minamoto Tameyoshi im Kampf gegen Taira Kiyomori 1156 erlitten hatte, zahlreiche Anführer und Samurai des Minamoto-Klans ins Exil auf die bergige Halbinsel Izu und auf die Insel Oshima gingen. Zu ihnen zählte auch Minamoto Tametomo (1139 - 1170), der Sohn des Besiegten. Er, wie andere seiner Gefährten im Unglück, war ein Kundiger auf dem Gebiet der Kriegskünste, vor allem auf den Gebieten des Bogenschießens, des Schwertkampfes und des Kampfes mit bloßer Hand. Nachdem er sich die südlichste Insel Japans, Kyûshû, unterworfen hatte, begab er sich nach Okinawa, wo er den einheimischen Stammesführer, Ozato, in seiner Burg Urazoe besuchte. Er heiratete dessen Tochter, von der er einen Sohn bekam, Shunten. Dieser wurde im Jahre 1186 der erste König der Insel, und er begründete die Shunten-Dynastie (1186 - 1253). Shunten war zweifelsohne Erbe verschiedener Kampftechniken und kriegerischer Traditionen, die die Kämpfer (

Bushi

) seines Vaters auf die Insel gebracht hatten.

 



Zwei Jahrhunderte später gelang es nach etlichen Kriegen zwischen rivalisierenden Klanen einem mächtigen Anführer, Shô Hashi (1422 - 1439), die drei unabhängigen Königreiche auf der Insel unter seiner Herrschaft zu vereinigen und im Jahre 1429 eine Zentralregierung zu installieren. Er (oder einer seiner Nachfolger, Shô Shin) verbot den Besitz von Waffen aller Art. Es ist bekannt, daß dieses Verbot zu einem wiedererweckten Interesse an Methoden der Selbstverteidigung mit bloßer Hand führte und daß das königliche Edikt unbeabsichtigterweise zur Entwicklung des

Okinawa te

 geführt hat. Zweihundert Jahre später erhielt diese Entwicklung einen weiteren Auftrieb, als im Jahre 1609 Scharen von Samurai aus dem Satsuma-Klan auf die Insel kamen. Diesen Kämpfern war der Weg zum

Shôgunat

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 in Edo (dem heutigen Tokio) durch den überlegenen Tokugawa-Klan versperrt worden. Somit richtete sich die Angriffslust der Satsuma-Krieger gegen Okinawa. Sie eroberten die Insel und beherrschten sie bis 1879, als König Shô Tai abdanken mußte und Okinawa dem japanischen Kaiserreich einverleibt wurde. Von großer Bedeutung ist die Tatsache, daß Iehiza Shimazu, der Herrscher des Satsuma-Klans zur Zeit der Invasion, das Verbot für die einheimische Bevölkerung, Waffen zu tragen, erneuerte. Man konfiszierte selbst kleinste Eisenwerkzeuge und zerstörte die Schmieden. Shimazu belebte auf diese Weise ungewollt den Widerstandsgeist der Einheimischen. Eine neue Blütezeit der Nahkampftechniken, unbewaffnet oder mit landwirtschaftlichen Geräten

22

, war die Folge des Hasses auf die japanischen Okkupanten. Das

Okinawa te

 wurde somit weiter vervollkommnet. Techniken, die offensichtlich von den Besatzern kopiert wurden, flossen ein, und damit wieder einmal

japanische

 Kampfkünste (

Jûjutsu, Jigen-ryû-Kenjutsu

).



Zumindest teilweise wurden diese Techniken offiziell durch Abgesandte des ehemaligen Königreichs von Okinawa (die

Uchinan no Peichin

) auf der Insel eingeführt, die in den Süden von Kyûshû und vor allem direkt in die Stadt Satsuma (das heutige Kagoshima) kamen. Es heißt beispielsweise, daß die

Kobudô

-Techniken des

Rokushaku-Bôjutsu

 (Stock mit einer Länge von 6 Fuß) erst nach dem Aufenthalt des berühmten

Chikudon Peichin

23

 „Tôde“ Sakugawa

24

 und des

Chikudon Peichin

 Tsuken Koura in der Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aufkamen.



Eine weitere berühmte Persönlichkeit, die als einer der Gründerväter des Karate auf Okinawa angesehen wird, war der

Chikudon Peichin

 Matsumura Sôkon (1792 - 1896), besser bekannt als „Bushi“ Matsumura. Er begab sich gleichfalls nach Satsuma, wo er als Leiter der königlichen Leibwache diente. Später erhielt Matsumura das Recht, die Techniken des

Jigen ryû Kenjutsu

 in Satsuma zu lehren. – Soweit zum unleugbaren japanischen Einfluß auf das lange Reifen dessen, was heute unter dem Gattungsbegriff

Okinawa te

 bekannt ist, der Urform des Karate.



Von größerer Bedeutung für die Kampftechniken, die zu jener Zeit auf Okinawa existierten, sind jedoch die Techniken des

Tô-De

 (

Tôde

, auch

Tô-Di

, „chinesische Hand“). Diese heute gut bekannte Entwicklungsgeschichte, an die hier nur in groben Zügen erinnert werden soll, begann im 14. Jahrhundert und liegt somit zwischen den beiden Perioden des japanischen Einflusses.



Im Jahre 1372 sandte der chinesische Kaiser Ming Zhu Yuanzhang erstmals Emissäre nach Chuzan, einem der drei miteinander rivalisierenden Königreiche auf Okinawa. Er verlangte Tribute. Der in Chuzan herrschende König Sattô (1350 - 1395) hatte keine andere Wahl, als sich dem Verlangen des mächtigen Nachbarn zu beugen. 20 Jahre später begann schließlich die berühmte Geschichte der „36 Familien“. Diese 36 Familien stellten die ersten offiziellen chinesischen Abgesandten dar, und sie ließen sich auf Okinawa in dem unweit der Stadt Naha gelegenen Kumemura („das Dorf Kume“ oder „das Dorf Kuninda“) nieder. Diese wichtige chinesische Abordnung setzte sich aus Diplomaten, Händlern und Experten aller Art zusammen, deren Auftrag darin bestand, die chinesische Kultur mit all ihren Facetten auf Okinawa einzuführen. Kumemura wurde somit zur Eingangspforte für die Sprache, die Kunst und die Sitten Chinas. In der Folge gelangten auf gleichem Wege auch militärische Kenntnisse aus dem Reich der Mitte nach Okinawa, darunter die Techniken des chinesischen Boxens (

Quanfa

). Im 19. Jahrhundert spielte Kumemura schließlich die Rolle einer Schaltstelle, von der aus diese Techniken sich weiterverbreiteten. Verschiedene Okinawaner erlangten hier Zugang zur chinesischen Quelle dieser Techniken oder konnten von hier aus gar ins Innere Chinas reisen.



Unter den ersten Kampfkunstlehrern, die von China nach Kumemura gekommen waren, gibt es einige Persönlichkeiten, deren Namen im Zusammenhang mit den Ursprüngen der modernen Karatestile immer wieder genannt werden, auch wenn zumeist über die genaueren Lebensumstände dieser Männer kaum etwas bekannt ist:



Ason unterrichtete seine Schüler Sakiyama, Nagahama, Gushi und Tomoyori aus Naha in den Techniken des

Shaolin Kempô

 (

Shaolin ryû

, auch

Shôrinji Kempô

 oder

Shôrei ryû

, auf chinesisch

Zhao Ling Liu

), aber diese erste Linie des

Naha te

 endete mit Tomigusuku.



Ko Sho Kun (auch Ku Shan Ku, auf chinesisch Kwang Shang-Fu) kam im Jahre 1756 als Mitglied einer Delegation chinesischer Abgesandter nach Okinawa. Die

Kata Kûshankû

, aus der im

Shôtôkan

 die

Kata Kankû

 wurde, verdankt ihm seinen Namen. Über ihn ist lediglich bekannt, daß er fähig war, sich gegen einen Angreifer, der größer und schwerer war als er, zu verteidigen, indem er ihn mit Hilfe einer Technik, die heute als „Beinschere“ bekannt ist, zu Boden warf. Man findet diese Technik gleichermaßen im

Jûjutsu

 wie auch im später entstandenen

Jûdô

.



Ryû Ruko (Ru Ruku, Do Ryûko oder Ryû Ryûko, auf chinesisch Liu Lugong oder Liu Lu Kung oder Liu Lianguo genannt) soll von 1852 bis 1930 gelebt haben. Im Jahre 1874 nahm er Higaonna Kanryô als Schüler an, der aus Okinawa nach China gereist war, um sich in der Technik des

Tôde

 zu vervollkommnen (er hatte diese Kampfkunst zuvor bei Aragaki Seisho, der von 1840 bis 1920 lebte, gelernt). Ryû Ruko wurde auf diese Weise zum Begründer eines Karate-Stils, den Miyagi Chojûn, der Nachfolger von Higaonna

Sensei

,

Gôjû ryû

 taufte. Welche Techniken lehrte dieser Mann? Tokashi Iken, Leiter des „Okinawanischen

Gôjû Tomari te Karatedô Kyokai

“, schrieb in seinem 1993 erschienenen Werk „Gohaku“, Frucht ausführlicher Forschungen über den aus der Provinz Fujian stammenden

Quanfa-Stil

, daß Ryû Ruko (den er Xie Ruru nannte) am Anfang „eines der Stile“ des Weißen Kranichs stand. Ryû Ruko besuchte Okinawa im Jahre 1914. Es besteht die Möglichkeit, daß er das Bubishi mitbrachte. Ebenso möglich ist es jedoch, daß er seinem Schüler Higaonna (1853 - 1916), der mehr als zehn Jahre bei ihm in China verbrachte, eine Kopie des Buches anvertraute.

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Wai Xinxian (Waishinzan oder Woo Lu-chin) ist eine geheimnisumwitterte Persönlichkeit. Es ist nicht einmal bekannt, ob Waishinzan und Woo Lu-chin tatsächlich ein und dieselbe Person gewesen sind. War er ein älterer Schüler Ryû Rukos oder gar Ryû Ru

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