Verwundbar

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5. „Ja, ich war so einer, keine Familie, jeder wusste, ich hab’ nichts, wenn ich rauskomme“ – Fallbeispiel zur Radikalisierung in Haft

5.1 Bindungserfahrungen in der Kindheit

Max, im Berliner Stadtteil Kreuzberg als Kind deutscher Eltern aufgewachsen, erlebte nach der Trennung seiner Eltern die stationäre Unterbringung seiner Mutter in der Psychiatrie. Im Rahmen der Sorgerechtsverhandlung musste er im Alter von fünf Jahren eigenständig entscheiden, bei welchem Elternteil er leben wollte, und erlebte die Folgezeit mit seiner psychisch kranken Mutter: „War alleine mit meiner Mutter, die am Rad gedreht ist. Natürlich hab´ ich alles mit in die Schule genommen. Ich saß hinten, habe Faxen gemacht. Ich bin in der ersten Klasse rausgeflogen, musste die Schule wechseln.“

Max' Schwester, bis zur Trennung seine engste Bezugsperson, verblieb beim Vater. Es folgte eine problematische Schulkarriere mit sechs Schulwechseln und dem Besuch eines lerntherapeutischen Internats sowie eines Projekts für schuldistanzierte Kinder und Jugendliche. Die Erinnerungen an seine Kindheit offenbaren Anzeichen einer unsicher-vermeidend-desorganisierten Bindung zur Mutter (Crittenden 1995; sowie im vorliegenden Band Thomas Müller: Familien zwischen Bindung, Verstrickung und Verrat). Bereits mit sieben Jahre wurde er nächtelang alleine gelassen („Ich hatte kaum Kontakt zu meiner Mutter, weil meine Mutter sich natürlich nur für ihren neuen Mann interessiert hat“) und seine Mutter wurde ihm gegenüber gewalttätig („Meine Mutter ist ausgeflippt und hat mich mit Brockhaus (sic!) den Kopf eingeschlagen“). In seiner Wahrnehmung gab es nach der Trennung seiner Eltern keine Liebe und Zuwendung mehr („Da gibts keine Liebe, also brauchte ich auch keine Liebe erwarten“). Er wurde bereits früh delinquent und erfuhr in der Reaktion darauf widersprüchliches Erziehungsverhalten:

„Ich war klein, vier bis fünf. Hab unten bei Reichelt geklaut, Schokolade, dann gabs Ärger, nen Arschvoll und danach leckere Spaghetti Bolognese mit einem Salat, und ich konnte nicht essen, weil ich nicht sitzen konnte.“

5.2 Straftat und Konversion in der Haft

Im Alter von 18 Jahren wurde Max wegen versuchten Totschlags unter Drogeneinfluss zu knapp drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte mit 17 Jahren dem neuen Freund seiner Freundin – mit der er ein Kind hatte und eine Familie gründen wollte – vor der Haustür aufgelauert und ihn krankenhausreif geprügelt. Im Gefängnis ist er auf der Suche nach Gemeinschaft, denn „das Schlimmste, das es in der Haft nämlich geben kann, ist alleine zu sein, ohne jeglichen Schutz“. Das Moment der kognitiven Öffnung war demnach die Suche nach Schutz in der Gruppe, deren Anziehungskraft er folgendermaßen beschreibt: „Wenn du reinkommst, scheint alles erst mal super zu sein. Hast direkt Freunde, hast jemanden, an den du dich wenden kannst und kannst reden. Das hast du dann alles und es wirkt erst mal schön. Alles wird dir schöngeredet. Dann gehörst du halt dazu.“

Ein Zellennachbar brachte ihm den Islam nahe. Von ihm lernte er religiöse Rituale kennen, er führte in der Folgezeit die kleine und große Waschung durch, betete, aß kein Schweinefleisch mehr, fastete während des Ramadans. Er besuchte den muslimischen Gottesdienst mit dem Imam der Haftanstalt. Auch seine Sprache passte er der Gruppe an und sagte einfache Sätze auf Türkisch oder Arabisch.

5.3 Radikalisierung der Gruppe

Die Gruppe, die zunächst auch durch den in der JVA tätigen Imam betreut wurde, radikalisierte sich zusehends. Vermehrt wurde der militärische Kampf gegen die Ungläubigen propagiert. Max gab an, dass zu diesem Zeitpunkt dschihadistische Verbrechen noch nicht so in den Medien präsent waren wie heute:

„Ja, die haben alle davon geredet, dass eines Tages erhebt sich der Islam und dann wirst du dein Schwert ziehen. Das steht auch richtig im Koran geschrieben. Dann wirst du dein Schwert ziehen und gegen alle Ungläubigen kämpfen. (…) Viele haben davon geredet, ich soll mich melden bei einem, wenn ich rauskomme. Ich muss an Allah glauben, mein Leben wird gut und so. Im Endeffekt wollen die nur einen dummen Deutschen finden, der sein Leben aufgegeben hat und der dann einfach in den Islamischen Staat geht. Die bezahlen dir den Flug und alles und dann musst du da kämpfen.“

Nach etwa einem halben Jahr der Zugehörigkeit meldeten sich aber bereits während der Haftzeit auch Zweifel, zunächst aufgrund von Spannungen mit einer anderen Häftlingsgruppe:

„War bestimmt ein halbes Jahr, in dem ich das sehr ernst genommen habe. Habe mich von allen anderen Gruppen sehr distanziert. Habe alle Bücher gelesen, die sie mir gegeben haben. Da hatte ich dann auch Stressmomente mit den Russen und so, weil die meinten, ich sei kein Deutscher mehr, ich verrate mein Land und so. Auf eine Art hatten die Recht und haben mich etwas wachgerüttelt.“

Als er mit dem Gedanken spielte wieder auszusteigen, bestärkte ihn ein älterer gläubiger Muslim in der Haftanstalt. In der Folgezeit empfand Max eine kognitive Dissonanz in Bezug auf die islamistische Weltsicht: Er nahm wahr, dass die Aussagen seiner islamistischen Mithäftlinge und das, was er selbst im Koran gelesen hatte, sich widersprachen und fühlte sich zunehmend von seinen Mitgefangenen unterdrückt.

„Da hab’ ich mich dann geknechtet gefühlt. Sie haben mir vorgeschrieben was ich machen soll: ‚Eines Tages, wir ziehen zusammen unser Schwert und köpfen die Ungläubigen. Wir werden alle Ungläubige töten’. Wo es mir dann auch klargeworden ist. O.k., auf eine Art sagt ihr im Koran, jeder Mensch soll leben, jeder Gott soll leben. () Aber irgendwann habich alles hinterfragt (). Also warum soll ich alle töten, die nicht dem Islam folgen?“

Der nach seiner Haftentlassung vollzogene Ausstieg gestaltete sich – ganz auf sich allein gestellt, ohne professionelle Beratung oder Begleitung – nicht unproblematisch: Nach der Entlassung erhielt Max ein Mobiltelefon, mit welchem er sich jeden Tag bei seinen Glaubensbrüdern melden sollte. Nach seinen Angaben fand er nur mit der Unterstützung eines Mitbewohners die Kraft, sich dieser Anweisung zu widersetzen. In der Folge thematisiert er die gewalttätige Antwort auf seinen Ausstieg von der Gruppe: „Zwei Jahre später, hab’ ich die auf der Straße getroffen, die waren zu viert und haben mies auf mich eingeprügelt.“ Er selbst fasst seinen Kontakt mit der islamistischen Gruppierung folgendermaßen zusammen:

„Ein halbes Jahr hab’ ich alles mitgemacht, dann hatte ich keinen Bock mehr. Ja, ich war ja so einer, keine Familie, jeder wusste, ich hab’ nichts, wenn ich rauskomme. Also er ist ganz, ganz alleine. Ohne Perspektive und Aussichten. Also lullen die einen ein und man glaubt alles, was die sagen. Und so einer geht dann in den IS. Und ich gehe davon aus, dass eine Menge, die in >JVA anonymisiert< waren, in den Krieg gezogen sind. Weil es war einfach. Du konntest dich schwer entziehen.“

5.4 Primäre Bindungserfahrungen als Vulnerabilitätsfaktor bei Radikalisierung

An Max ’Fall lässt sich das multifaktorielle Zusammenspiel zwischen Bindungserfahrungen, Jugenddelinquenz und der Suche nach Religiosität, Schutz und Geborgenheit in der Haft als sich bedingende Radikalisierungsfaktoren nachzeichnen. Aufgrund der unsicheren Bindung zu seinen familiären Bezugspersonen fiel es Max schwer, Bindungen zu anderen einzugehen und Anschluss zu finden. Seine soziale Isolation und der Kontaktabbruch zu seiner Familie in der Haftzeit sowie die Sehnsucht nach einer (religiösen) Gemeinschaft machte aus ihm eine leichte Beute für die Islamisten. Politische, ideologische und religiöse Gesichtspunkte traten dagegen zurück. Er macht zwar eine Offenheit für religiöse Ideenwelten deutlich. Den Prozess der Konversion, den er unter den Bedingungen der Haft begann, setzte er in Freiheit aber nicht fort. In Max’ Fall wurden durch die unsichere/ desorganisierte Bindung zu seinen Eltern keine reifen Abwehrmechanismen und nur unzureichend psychosoziale Kompetenzen aufgebaut. Seine durch Vernachlässigung und traumatische Beziehungserfahrungen ausgelöste Affektregulationsstörung wurde in seiner Kindheit schlicht mit der Vergabe von Ritalin „gelöst“. Die von ihm begangene Straftat kann so auch als radikale Antwort auf das Nicht-Aushaltenkönnen eines erneuten Verlassenwerdens durch die Mutter seines Kindes betrachtet werden. In der Haft fand er zunächst Sicherheit und Wertschätzung in der sich radikalisierenden Gruppe und konnte sein Selbstwertgefühl vorübergehend stärken.

Heute hat Max eine abgeschlossene Ausbildung, einen geregelten Tagesablauf und einen festen Arbeitsplatz. Er arbeitet daran, nicht rückfällig zu werden, und hat alle Verbindungen zu alten Bekanntschaften abgebrochen. Er berichtet in seinem Interview aber nicht von helfenden Angeboten von Lehrenden oder JVA-Bediensteten. Wie bereits in seiner frühen Kindheit, begegnete er seinen Problemen auf sich allein gestellt, ihm zur Seite stand kein „aufmerksamer Dritter“ (Werner 2005, 12). Die lebensgeschichtliche Analyse seines Falls ist so auch eine Dokumentation des Versagens von Justizvollzugsanstalten Anfang der 2010er-Jahre und bestätigt die Notwendigkeit einer sorgfältigen Reflexion der institutionellen Schwachstellen bezüglich der Radikalisierungsprävention.

6. Was können Lehrende tun?

Wie könnte der Beitrag der Sonderpädagogik zur Präventionsarbeit im Feld der Reflexion dieser neuen gesellschaftlichen Risiken und Ängste, der Resilienzförderung und Vulnerabilitätsanalyse aussehen? Was kann man in der Lehrerbildung tun, um den Identitätsangeboten radikaler Akteure an vulnerable junge Menschen wie Max etwas entgegenzusetzen? Zur Beantwortung dieser Fragen gilt es zunächst, die Parameter schulischer Primärprävention abzustecken: Die Wichtigkeit der schulischen Prävention gilt unter Experten als unbestritten (Ceylan & Kiefer 2013, 151). Trotzdem haben Lehrende im schulischen Umfeld einen begrenzten Handlungsspielraum, ihre Möglichkeiten sind nicht mit therapeutischen Maßnahmen zu verwechseln, sondern beziehen sich primär auf den Unterricht und das Elterngespräch. Bekommen Lehrende in der Schule Kenntnis von Schülern und Schülerinnen, die sich radikalen Gruppen anschließen oder als „lone wolfs“ über das Internet radikalisiert werden, ist zu empfehlen, sich an Beratungsstellen zu wenden. Nur in weitreichender Kooperation mit dem Elternhaus, der Schule, Therapeuten sowie speziellen Einrichtungen zur Ausstiegsbegleitung kann diesen Jugendlichen geholfen werden. Die bedrohliche Dimension radikaler Weltsichten erschwert es aber Praktikern, Gefahrenlagen realistisch abzuschätzen oder sich mit den Problemen von Jugendlichen auseinanderzusetzen, die in Gefahr sind, sich zu radikalisieren. Lehrende fühlen sich provoziert und schrecken nicht selten vor einer direkten Konfrontation zurück.

 

Was können Lehrende aber betroffenen Eltern raten, und wie können sie Jugendliche aus hoch belasteten Familien unterstützen? Zu diesem Zweck wird im Projekt der fachliche Austausch zwischen angehenden Lehrenden und Experten der Radikalisierungsprävention angeregt. Lehrenden empfiehlt beispielsweise der im Seminarverlauf interviewte pädagogische Mitarbeiter der Beratungsstelle Al-Manara, die religiöse Praxis junger Muslime nicht frühzeitig als Anzeichen von Radikalisierung fehl zu interpretieren. Betroffenen Familien rät er zunächst den alltäglichen Umgang miteinander zu entlasten, dazu sei es auch nötig, Streit zu religiösen Themen zunächst zu vermeiden. Er bestärkt aber auch Eltern, die sich aus Sorge um einen Beziehungsabbruch nicht trauen, ihrem Kind Grenzen zu setzen. ‚Haltlose‘ Bindungserfahrungen können unter Umständen auch durch Lehrende korrigiert werden. Eine sonderpädagogische Resilienzförderung für vulnerable Jugendliche, bei der die Beziehungsebene eine besondere Bedeutung erfährt, stellt deshalb aus der Perspektive der Resilienzforschung einen wichtigen Schritt dar: Der Lehrende als „aufmerksamer Dritter“ kann den Aufbau tragfähiger sozialer Strukturen und die Stärkung der Identitätsbildung des Jugendlichen unterstützen und so auch die Arbeit an der Lösung innerpsychischer Konflikte möglich machen.

Im Seminar erwerben die Teilnehmer und Teilnehmerinnen demzufolge Kenntnisse über wichtige psychosoziale Vulnerabilitätsfaktoren für eine Radikalisierung im Jugendalter, sie lernen, ihre unterrichtlichen Angebote konsequenter an der Lebenswelt der Jugendlichen auszurichten und eignen sich selbstreflexive Techniken zur Gestaltung einer tragfähigen Lehrer-Schüler-Beziehung an. Ziel ist es, Lehrende dazu zu befähigen, in der Schule eine Atmosphäre zu erzeugen, die den schulischen Austausch über Vulnerabilitäten bedingt durch Terrorangst, Radikalisierung und Diskriminierung befördert und somit einen Grundstein für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Schülern / Schülerinnen und Lehrenden legt. Mit einem derartigen inklusiven Zugang zu diesen Themen können Lehrende im pädagogischen Setting einen wichtigen Vorreiterbeitrag auch für einen gesamtgesellschaftlichen Umgang mit der drängenden Herausforderung Radikalisierung leisten.

1 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Müller zu Thomas Müller „Familien zwischen Bindung, Verstrickung und Verrat“ in diesem Buch.

2 Die Präventionsforschung unterscheidet verschiedene Formen der Prävention: Die primäre oder universelle Prävention setzt auf die Reduzierung struktureller Risikofaktoren. Diese Art der Prävention erfolgt indirekt, ist langfristig ausgerichtet und arbeitet ressourcenorientiert (Glaser, Greul, Johansson & Münch, 2011, 16). Die sekundäre oder selektive Prävention richtet ihre Angebote an selektive Zielgruppen. Die Präventionsmaßnahmen zielen darauf ab, bereits vorhandene, problematische Erscheinungsformen nicht zu verfestigen. Die tertiäre oder indizierte Prävention hält Angebote für Menschen in manifesten Problemlagen bereit. Die Zielgruppe hat bereits die unerwünschten Entwicklungen durchlaufen (Johansson, 2012, 2).

Hildegund Keul

Vulnerabilität und Vulneranz in Unsicherheit und Terrorangst – eine theologische Perspektive1

Paris ist die Stadt der Liebe, viel besungen und leidenschaftlich umschwärmt. „Paris, ein Fest fürs Leben“, so nannte sie Ernest Hemingway (1965). Aber die Anschläge der letzten Jahre haben unsere Wahrnehmung verändert. Nun ist Paris vor allem eines: eine verwundete Stadt, von Gewalt und Terror gezeichnet. Ich erinnere mich noch genau an jenen Moment, als ich im Radio vom Anschlag auf Charlie Hebdo, und dann wenige Monate später auf das Bataclan-Theater und die Pariser Cafés hörte. Es war ein Schock. Wenn ich heute die Marseillaise höre, denke ich daran, wie dem Dirigenten der New Yorker Metropolitan Opera die Tränen übers Gesicht laufen, als sein Chor aus Solidarität die französische Nationalhymne singt.2

Terroranschläge, aber auch Amokläufe an Schulen setzen das Thema „Vulnerabilität“ unausweichlich auf die Agenda. Wie gehen wir damit um, dass wir selbst, unsere Familien, unsere Religion, unsere Gesellschaft verwundbar sind? Wie reagieren wir, wenn wir verwundet werden? Der französische Philosoph Georges Bataille (1897-1962) sagte im Blick auf die Opfer des Nationalsozialismus: „Das Schlimmste an diesen Leiden der Deportierten ist nicht der ertragene Schmerz, sondern der von anderen in ihrer Raserei gewollte Schmerz. Der Schmerz, der von Krankheiten oder Unfällen herrührt, erscheint nicht so schrecklich: das zutiefst Erschreckende liegt im Entschluss derer, die ihn fordern“ (Bataille 2008, 16).

Beim Terror haben wir es mit einem solchen Schmerz zu tun, der davon potenziert wird, dass andere Menschen ihn erzwingen. Diesen potenzierten Schmerz will man vermeiden und versucht alles Mögliche, um die Verwundung zu verhindern. Die Angst davor, verwundet zu werden, übt daher in politischen Kontexten eine unerhörte Macht aus. Unsicherheit macht sich breit angesichts einer Gewalt, die den Anschein erweckt, unbezwingbar zu sein. Sie attackiert die westlichen Demokratien und stellt sie zugleich in Frage.

Für die Theologie hat diese Problematik große Relevanz. Denn religionspolitischer Terror gehört zu jenen Zeichen unserer Zeit, die die Theologie verändern, sie herausfordern und auf die Probe stellen. Kann die Theologie im Blick auf Terrorangst und wachsende Unsicherheit Perspektiven freilegen, die in gesellschaftlichen Konflikten weiterführen? Auf diese Frage zielen die folgenden Überlegungen und Analysen. Zunächst werden destruktive, dann konstruktive Machtwirkungen der Vulnerabilität dargestellt. Anschließend geht es um den Beitrag einer Theologie, die diese Machtwirkungen im Blick hat und auf sie antwortet.

1. Die destruktive Macht der Vulnerabilität: Vulneranz aus Verwundbarkeit

Aus guten Gründen wollen Menschen nicht verwundet werden. Wunden bereiten Schmerzen, rauben Lebenskraft und können tödlich enden. Daher träumen Menschen davon, unverwundbar zu sein. Dies bezeugen Achill und Siegfried in der Mythologie. Dabei ist es kein Zufall, dass beide Männer kampferprobte Helden sind. Wer unverwundbar ist, kann im Kampf mehr riskieren und härter zuschlagen. Die Utopie der Unverwundbarkeit leistet der Gewalt Vorschub. Auch heute versuchen Staaten, möglichst unverwundbar zu sein, indem sie Mauern verstärken, Grenzen dicht machen und zu den Waffen greifen. Angriff gilt als die beste Verteidigung. So agiert man mit dem, was ich „Herodes-Strategie“ nenne (nach Matthäus 2, 16ff.): Andere verwunden, um selbst nicht verwundet zu werden. Weil es tatsächlich sein kann, dass mit vielen Notleidenden auch Kriminelle nach Europa kommen, sollen Menschen auf der Flucht lieber ganz aus dem Land herausgehalten werden. Das aber bedeutet, sie ihrer hohen Verwundbarkeit auszusetzen oder sogar Waffen in Anschlag zu bringen. Hier zeigt sich die unerhörte Macht der Vulnerabilität. Weil man das Eigene schützen will, wird man gewaltbereit gegenüber Menschen in Bedrängnis. Aus Vulnerabilität entsteht Vulneranz, d.h. die Bereitschaft, Andere zu verwunden.

An dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig die Unterscheidung (wenn auch nicht Trennung) zwischen Wunde und Verwundbarkeit ist. Vulnerabilität ist eine Zukunftskategorie. Sie beschreibt die Möglichkeit, in Zukunft verwundet zu werden. Die befürchtete Wunde ist noch nicht zugefügt, es passiert vielleicht sowieso nicht, aber man wird aggressiv, weil man die Verletzung verhindern will. Die Angst vor Verwundung kann das Verhalten in der Gegenwart bestimmen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit der Verwundung sehr gering ist.

Die deutsche Sprache suggeriert, dass hoch verwundbare Menschen schwach seien und schnell Opfer von Gewalt werden. Oft ist jedoch das Gegenteil der Fall: wer sich verwundbar fühlt, greift zur Gewalt und erlangt damit Macht. So schüren rechtspopulistische Parteien die Angst vor Verwundung in der Hoffnung, dass die Menschen umso aggressiver werden, je verwundbarer sie sich fühlen. Diese Machtstrategie kam im August 2018 zur Anwendung, nachdem ein junger Mann am Rand eines Stadtfestes in Chemnitz getötet worden war. Bei den rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Demonstrationen, zu denen nach der Tötung aufgerufen wurde, gingen nicht die Verwundeten auf die Straße. Vielmehr wurden jene laut und handgreiflich, die sich selbst, ihre Familien oder ‚das christliche Abendland‘ vor einer angeblichen Gefahr beschützen wollten. Auch gefühlte Verwundbarkeit kann zum Anlass genommen werden, um Gewalt auszuüben.

Die Erläuterungen von Katharina Obens im vorliegenden Band zeigen, wie sehr Emotionen wie Terrorangst über das rational Begründbare hinausschießen, bei Erwachsenen wie bei Kindern. Die Gefahr besteht darin, dass die Terrorangst Spiralen der Gewalt in Gang setzen, die nur schwer zu stoppen sind. Allein schon die Verwundung trifft nicht nur die direkten Opfer und ihre Angehörigen, Freunde und Freundinnen. Vielmehr greift sie mit unerhörter Macht auf die Öffentlichkeit zu. Die Stadt, die Gesellschaft, der Staat werden durch die Verwundung in ihrer Verwundbarkeit bloßgestellt. Dies ist mit Scham verbunden, die Wut freisetzt; mit Ohnmacht, die nach Rache ruft; mit Schmerz, der nach Unverwundbarkeit verlangt. Mehr noch als die Wunde selbst birgt die in ihr steckende Vulnerabilität politische Sprengkraft.

Aus der Verwundbarkeit heraus potenziert sich die Gewalt. Diese Gefahr besteht auch bei Menschen, die fliehen müssen, aber keine neue Heimat finden, in der sie sich akzeptiert fühlen. Auch sie wollen leben und erhoffen für sich und ihre Kinder ein gutes Leben. Wenn die Integration geflüchteter Menschen jedoch misslingt, so ist dieses Misslingen mit alltäglichen tiefen Verletzungen verbunden. Diese wiederum erhöhen die Verwundbarkeit und können auch auf Seiten derer, die sich ausgeschlossen fühlen, Aggressivität hervorrufen. Das Misslingen von Integration birgt daher ein doppeltes Gewaltpotential.

Wegen der Gewaltsamkeit, die aus Vulnerabilität hervorgehen kann, kreierten die Politikwissenschaftler Herfried Münkler und Felix Wassermann 2012 einen Neologismus: „Vulneranz“. Sie definierten sie leider nur sehr knapp mit „Verletzungsfähigkeit“ (Münkler & Wassermann 2012, 82). Ich plädiere dafür, diesen eher beiläufig eingeführten Begriff als Grundlagenbegriff der Vulnerabilitätsforschung zu etablieren. Dort hat sich das Wort noch nicht durchgesetzt, auch wenn die Kölner Forschungsgruppe Vulnerabilität es bereits aufgegriffen hat (Burghardt 2017). „Vulneranz“, Gewaltbereitschaft und Verwundungsmacht, wird mit ihren vielfältigen, oft verborgenen Verbindungen zur Vulnerabilität bislang zu wenig erforscht.

2. Die konstruktive Macht aus Vulnerabilität – auf der Suche nach Alternativen zum Ruf nach Krieg

Verwundbarkeit wirkt häufig destruktiv. Aber kann sie auch Machtwirkungen freisetzen, die der Destruktion entgegenwirken? Bereits nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York 2001, als die USA um etwa dreitausend Tote trauerten, stellte die US-amerikanische Philosophin Judith Butler eine entscheidende Frage unserer Zeit: „was politisch gesehen aus der Trauer anderes entstehen könnte als der Ruf nach Krieg“ (Butler 2005, 7). Zunächst sieht man nur die Alternative, entweder Wunden zu erleiden oder Wunden zuzufügen. Wenn Menschen aber Gewaltspiralen stoppen und human miteinander leben wollen, so braucht es zu dieser Alternative ein Drittes.

Auf der Suche nach diesem Dritten hat sich als Problempunkt herausgestellt, dass die menschliche Verwundbarkeit meistens ausschließlich negativ verstanden wird. Mit ihr wird Schwäche, Ohnmacht, Schutzlosigkeit, Passivität verbunden. Die Ethikerin Erinn C. Gilson (Gilson 2014) betont demgegenüber, dass Offenheit für Freude und Leid anderer Menschen zugleich bedeutet, dass man sich mit dieser Öffnung verwundbar macht. Vulnerabilität und Berührbarkeit hängen zusammen.3 Fürsorge für Andere ist nur möglich, wo Menschen berührbar sind, sich öffnen und damit zugleich verwundbar werden. Wenn wir Fürsorge positiv bestimmen, müssen wir damit zugleich Vulnerabilität anders verstehen.

 

Gilsons Beobachtung trifft auch auf den Vulnerabilitätsdiskurs zu. In weiten Teilen bedeutet Verwundbarkeit hier Störung, Verlust, Versagen, Gefahr, Schädigung, Bedrohung. Ziel ist es, Verwundbarkeit zu reduzieren. Die wissenschaftlichen Debatten leiden daran, dass man Verwundbarkeit in Gegensatz stellt zu Stärke, Kreativität und Resilienz (d.h. Belastbarkeit in Krisen). Aber Verwundbarkeit entsteht immer auch dort, wo man solidarisch mit Menschen in Not handelt, wo man Zuneigung zeigt, Liebe praktiziert und bereit ist, Opfer zu bringen. „Liebe bedeutet nämlich, sich bis zum Leiden verletzlich zu machen, sich um andere zu kümmern, so dass man sich in einer realen, wechselseitigen Relation befindet – alle Risiken eingeschlossen.“ (Placher 1998, 240) Verwundbarkeit ist die Kehrseite der Liebe. Und wer wollte diese vermissen?

Daher stellt sich die Frage, ob und unter welchen Umständen aus Verwundbarkeit Stärke, Kreativität und Resilienz wachsen können. Aus Sicht der Theologie stellt sich hiermit das Thema der freiwilligen Verwundbarkeit‘. Man kann die eigene Verwundbarkeit bewusst und freiwillig riskieren, wenn man davon überzeugt ist, dass dieses Risiko Leben eröffnet, fördert und schützt. Man möchte keineswegs verwundet werden. Aber man ist bereit, dies zu riskieren und notfalls Opfer zu bringen. Denn es geht um etwas, von dem man sich trotz allem einen Lebensgewinn erhofft, für sich selbst oder für andere, und im besten Fall für beide Seiten.

Produktive Machtwirkungen, die aus dem Wagnis der Vulnerabilität entstehen, kann man jedoch nur dann erfassen, wenn man den Gegensatz von Verwundbarkeit, Schwäche, Unsicherheit, Passivität auf der einen Seite und Sicherheit, Verlässlichkeit, Resilienz, Stärke auf der anderen Seite überwindet. Üblicherweise denkt man, dass es hier zwei Seiten gibt, die sich wie eine Waage verhalten: je verwundbarer, desto unsicher; je abgesicherter, desto weniger verwundbar. So zu denken ist jedoch unterkomplex. Tatsache ist vielmehr, dass viele Sicherungsmaßnahmen selbst neue Verwundbarkeiten schaffen und das Leben bedrohen. Ein Beispiel: Bei dem Germanwings-Absturz im März 2015 versperrte die verschlossene Hochsicherheitstür zum Cockpit dem Piloten den Weg, so dass er den Absturz des Flugzeugs nicht verhindern konnte. Umgekehrt ist es nicht immer so, dass Verwundbarkeit Menschen und Gemeinschaften schwächt. Ein Beispiel: Wo Menschen sich öffnen und das Risiko der Integration gelingt, gewinnen Gesellschaften Stärke.

Das große Credo rechtspopulistischer Politik lautet: Wer sich in Sachen Migration verwundbar macht, hat schon verloren. Dieses Credo bestreite ich. Menschen werden nicht zwangsläufig schwach, wenn sie sich verwundbar machen. Vielmehr können sie unter Umständen große Stärke gewinnen. Beste Beispiele hierfür sind Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer, Malala Yousafzai. Ihr riskantes Engagement hat sie nicht zu schwachen Persönlichkeiten gemacht. Um Ungerechtigkeit oder gar einer Diktatur zu widerstehen, braucht es große Stärke. Das bedeutet: Vulnerabilität und Vulneranz, Sicherheit und Resilienz haben kein einliniges Verhältnis zueinander. Vielmehr bilden sie miteinander ‚in actu‘, also in der jeweils konkreten Situation, eine hoch komplexe, mehrdimensionale Gemengelage. Sie ist von pluralen Machtwirkungen durchzogen, die einander kreuzen oder widersprechend, abschwächen oder verstärken.

Ein problematischer Punkt ist in diesem komplexen Feld der Macht das Opfer, zu dem man gezwungen wird oder das man freiwillig bringt. Leider kennt die deutsche Sprache nur ein Wort, wo das Englische sachlich treffender unterscheidet:

• Opfer im Sinne von Victim bedeutet, verletzt zu werden, Schaden zu erleiden und Gewalt zu erfahren. Es passiert etwas, auf das man keinen Einfluss hat, geschweige denn Kontrolle – man wird verletzt durch einen Unfall, eine Naturkatastrophe, eine Terrorattacke, häusliche Gewalt. Victims sind zunächst passiv, schwach, ohnmächtig, stumm.

• Opfer im Sinn von Sacrifice meint hingegen, dass etwas um eines höheren Zieles willen hergegeben wird, obwohl man damit Verwundung riskiert. Man ist bereit, eigene oder fremde Ressourcen zu verbrauchen (Geld, Zeit, Karriere, soziale Beziehungen…). In beiden Fällen zeigt man Aktivität, Stärke, Macht: man ist fähig, etwas oder jemanden zu opfern. In jedem Sacrifice steckt ein potentieller Lebensgewinn, aber auch ein Gewaltpotential, das sich gegen sich selbst oder gegen Andere richten kann.

Das Verhältnis von Victim und Sacrifice zueinander ist sehr beweglich, denn jedes Sacrifice kann eine Victimisierung zur Folge haben, in eine (Selbst-)Victimisierung umschlagen oder sogar darauf abzielen. Andererseits: wenn man weiß, warum man die eigene Verwundung riskiert hat, und dann tatsächlich verletzt wird, so kann man mit der Verwundung wahrscheinlich besser umgehen. Das zeigen die unzähligen Frauen, die unter größten Schmerzen Kinder zur Welt bringen, ohne es später diesen Kindern so zu verübeln, wie man das angesichts der Schmerzen eigentlich erwarten könnte.

3. Die Andersmacht aus Verwundbarkeit – eine österliche Perspektive

Berührbar bleiben und sich öffnen, obwohl man weiß, dass man verletzlich ist – hierin liegt eine humane Herausforderung. Sie stellt sich überall dort, wo Menschen vor Grenzen stehen und sich entweder für Rückzug und Grenzsicherung oder für Öffnung und Wagnis entscheiden. Hierin liegt auch eine Herausforderung interkultureller und interreligiöser Arbeit. Gerade in einer Gesellschaft, wo sich migrationsfeindliche Tendenzen verstärken und der Ruf nach Ausgrenzung, Gewalt und Krieg lauter wird, machen sich Menschen verwundbar, die für Öffnung, Kommunikation und Überschreitung stehen. Interkulturelle und interreligiöse Arbeit ist kein Glasperlenspiel. Wie riskant sie ist und dass sie sogar das Leben kosten kann, hat die Ermordung des Politikers Walter Lübcke im Juni 2019 durch einen rechtsextremen Gewalttäter gezeigt.

Die gesellschaftliche Situation fordert auch die christliche Theologie heraus, ihre eigenen Traditionen auf den Prüfstand zu stellen und Perspektiven zu erforschen, die sie in diese Problemlage von Vulnerabilität und Vulneranz einzubringen vermag. Zu diesen Traditionen gehören die Geburtsgeschichten Jesu im Neuen Testament, die davon erzählen, wie unterschiedlich Menschen mit Verwundbarkeit umgehen (Keul 2013). Vulnerabilität ist von Beginn ein Kernthema christlicher Theologie, seit Gott in Jesus Christus zur Welt kam als neugeborenes, äußerst verletzliches und von einem Diktator bedrohtes Kind. Aber im Folgenden soll eine andere Tradition im Mittelpunkt stehen.

3.1 Die Feier der Eucharistie – ein anderer Umgang mit Verwundbarkeit

Was kann aus der Trauer um zerstörtes Leben Anderes entstehen als der Ruf nach Krieg? Diese Frage ist theologisch spannend, denn sie eröffnet einen neuen Blick auf die frühe Kirche. Sie offenbart, dass auch die Jüngerinnen und Jünger Jesu Verwundete waren, die um eine Alternative zum Ruf nach Gewalt ringen mussten. Denn dass Jesus am Kreuz getötet wurde, verwundet auch seine Gemeinschaft. Was muss geschehen, damit sich die gefährliche, weil gewaltpotenzierende Verwundbarkeit wandelt, tragfähige Zeichen der Hoffnung setzt und zu humanem Handeln befähigt?

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