Verwundbar

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12 Vgl. dazu Schult, M. (2017). Zur Frage, ob es sich bei den Diskursen zu Verwundung und Resilienz wirklich um Gegenspieler handelt oder ob sich die Phänomene nicht auch konstruktiv zusammendenken lassen vgl. Keul 2017.

13 Der Unterschied im Zeitbezug ist aber nur das eine. Das andere ist, dass in der Geschichte der Traumaforschung sehr lange um die Einsicht gekämpft werden musste, dass nicht nur ‚schwache‘ Naturen Traumafolgestörungen ausprägen, weil sie eine wie auch immer geartete Prädisposition dafür bereits mitbringen, sondern dass Trauma jeden Menschen und auch jede ‚starke‘ Persönlichkeit unwiderruflich aus dem Lot bringen kann.

14 Die Diskursbegriffe Vulneranz und Vulnerabilität gehen zurück auf das lateinische „vulnus“ für „Wunde“ und das Verbum „vulneare“ („jemanden verwunden“) und zeigen damit sprachliche Nähe zum Trauma. Trauma bezeichnet aber eben auch Loch, Leck und Verlust und damit stärker das Nicht-Fassbare und Nicht-Sichtbare einer einschneidenden Verletzung.

15 Vgl. zu den Opfern und zu möglichen therapeutischen Behandlungsschritten den Beitrag von Eva Barnewitz in diesem Band.

16 Vgl. dazu den Abschnitt „Gibt es traumatisierte Täter?“ bei Seidler 2013, 162–164. Zum Phänomen „Tätertrauma“ vgl. Giesen, B. & Schneider, Ch. (2013).

17 Sie erweisen sich damit gerade als besonders ‚resilient‘, was im Resilienzdiskurs nicht immer gut bedacht wird. Dort ist Resilienz meist positiv konnotiert.

18 Aber auch Jesus verzeihe kein radikal Böses. Für den Täter einer solchen Untat sei es besser, mit Jesus zu sagen: „‚Es wäre ihm nützer, daß man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer‘“. Vgl. Arendt, H. (2010), 308.

19 Vgl. exemplarisch die Marburger Dissertation von Poser, R (2012).

20 So in Luther 1998 thematisiert, vgl. aber auch grundlegend die posthum erschienenen Aufsätze in: Luther, H. (1992).

21 So allgemeiner geäußert in der Dankesrede anlässlich der Verleihung der Ehrenpromotion an den Bundespräsidenten a. A. am 29. Oktober 2018 durch die Theologische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Vgl. dazu den abzurufenden Text unter https://www.theol.uni-kiel.de/de/die-fakultaet/retrospektive/ws-2018-19-1/rede-dr-h-c-j-gauck.

22 In diesem Sinne hatte schon H. Luther den Glauben selbst als das Beunruhigende entworfen (Luther 1998), der die Kraft verleihe, sich am Vorfindlichen zu stören und aus ihm aufzubrechen. Vgl. dazu Luther, H. (2008).

Eva Barne witz

Wunden der Seele – wie die Folgen von Folter, Kriegserfahrungen und sequenzieller Traumatisierung überwunden werden können1

„Immer wieder kommen die Alpträume. Dann höre ich, wie das Wasser gegen das Boot schlägt, ich höre die Schreie meiner Freunde. Davon wache ich schweißgebadet auf. Dann brauche ich oft drei Stunden, bis ich wieder einschlafen kann. Und dann geht der Traum wieder von vorne los.“

Traumatisierung – dieser Begriff ist für viele Menschen untrennbar mit Krieg, Folter und Flucht verbunden, und häufig mit Unsicherheit, Angst und Tabus behaftet. Zugleich wurden Begriffe wie „traumatisiert“, „Trauma“ und „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) in den vergangenen Jahren immer häufiger in deutschen Medien und Publikationen verwendet – oft „unscharf bis inflationär“ (Busch & Hermann 2019). Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff Trauma genau? Und warum steigt mit der Anzahl der verschiedenartigen erlebten traumatschen Ereignisse die Vulnerabilität für eine Posttraumatische Belastungsstörung? Auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Neurobiologie und Psychologie sowie traumatherapeutischer Arbeit mit Geflüchteten wird im Folgenden ein Einblick gegeben in die klinische Definition von „Trauma“, in die Genese der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), und in die Narrative Expositionstherapie, einem evidenzbasierten und kulturübergreifend wirksamen Kurzzeitverfahren zur Behandlung multipel und sequenziell traumatisierter Personen (Schauer et al. 2005). Am Kompetenzzentrum Psychotraumatologie der Universität Konstanz habe ich mehrere Jahre Geflüchtete mit dem Ansatz der Narrativen Expositionstherapie behandelt; für vivo international e.V. und andere NGOs im internationalen Kontext bilde ich Therapeuten und Therapeutinnen darin aus, mehrfach und sequenziell traumatisierte Personen zu behandeln. Traumatische Ereignisse sind nicht nur weltweit präsent; sie sind so alt wie die Menschheit. Es ist an der Zeit, die Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Definition sowie ihrer Auswirkungen auf das Individuum, und Berührungsängste hinsichtlich des Umgangs mit belastenden Folgen aufzulösen.

1. Leidvolle Ereignisse

„Und dann sagte mein Vater mir, dass er sich von meiner Mutter trennen würde. Für mich brach eine Welt zusammen. Für einen Moment hielt die Zeit an. Wie sollte es jetzt weitergehen?!Ich würde mich entscheiden müssen zwischen ihnen.“

Umgangssprachlich wird „traumatisch“ häufig synonym mit „leidvoll“ verwendet – Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung (Schröder 2011; Spiewak 2014) und ähnliche Ereignisse werden als traumatisch betitelt. Obgleich solche Ereignisse als hoch belastend erlebt werden können und die Vulnerabilität für verschiedene psychische Erkrankungen steigern können, sind sie im klinischen Sinne nicht als „traumatisch“ zu bezeichnen. Bereits im 19. Jahrhundert beschäftigte sich die Forschung mit Möglichkeiten der Benennung, Differenzierung und den Auswirkungen traumatischer Ereignisse; „Kriegsneurose“, „Hysterie“ und „Dissoziation“ sind hier beispielhaft zu benennen (vgl. van der Kolk & van der Hart 1989). 1991 prägten van der Kolk & van der Hart den Begriff des „Sprachlosen Schreckens“ als Zustand, in den Menschen nach traumatischen Ereignissen geraten können. Worte können nicht beschreiben, was passiert ist, während die Erinnerung an das traumatische Geschehen mit all ihrem Entsetzen allgegenwärtig bleibt. Doch es bleibt die Frage: „Was ist ein traumatisches Ereignis?“

2. Traumatische Ereignisse

„Der Himmel war plötzlich ganz dunkel. Ich dachte: ‚Hoffentlich schaffen wir es.‘ Ich spürte, wie der Wind an meiner dünnen Jacke zerrte. Mir war kalt. Im Gesicht spürte ich das kalte Wasser. Ich schmeckte es auch. Mein Herz schlug schnell. Wir waren mitten im Meer und im Sturm, und es war keiner da, der uns helfen konnte. Wir haben oft geschrien ‚ Was sollen wir tun?‘“

Das DSM-V (Diagnostischer und Statistischer Leitfaden psychischer Störungen, 5. Auflage, American Psychological Association APA 2013), bietet eine klare Definition traumatischer Ereignisse: Es bezeichnet solche Erfahrungen oder Ereignisse als traumatisch, bei denen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit einer Person bedroht oder verletzt wird; diese Ereignisse können (a) selbst erlebt werden, (b) direkt bezeugt werden (sehen/hören), (c) indirekt bezeugt werden (eine Person erfährt, dass das traumatische Ereignis einer/einem Familienangehörigen oder anderen nahestehenden Person widerfahren ist) oder (d) die Person wird wiederholt oder extrem aversiven Details traumatischer Ereignisse ausgesetzt (beispielsweise Mitglieder der Staatsanwaltschaft, die wiederholt gewaltvolles Material sichten) (APA 2013). Nach dieser Definition wird die subjektive Reaktion der Person auf das Ereignis sowohl in der Situation wie auch später ausgeklammert. Aussagen wie „Das war damals gar nicht so schlimm“ oder „Am Ende ist es ja doch gut ausgegangen“ sind für die therapeutische Arbeit zwar interessant, doch irrelevant für die Beurteilung, ob ein Ereignis im klinischen Sinne als „traumatisch“ anzusehen ist. Auch begleitende Umstände wie Vulnerabilität durch belastende Kindheitserfahrungen, genetische Faktoren, Dauer des erlebten Ereignisses, oder protektive Faktoren wie psychosoziale Unterstützung werden in der klinischen Definition nicht berücksichtigt. Das Vorliegen eines solchen traumatischen Ereignisses ist die Voraussetzung für die klinische Diagnose einer post-traumatischen Belastungsstörung, deren Symptome im Folgenden erläutert werden.

3. Posttraumatische Belastungsstörung

„Ich glaube manchmal, ich bin verrückt geworden. Wenn jemand mich nach meiner Fluchtgeschichte fragt, will ich gar nicht darüber reden. Ich sage dann einfach, es sei gar nicht so schlimm gewesen. Aber mein Herz schlägt ganz schnell. Ich glaube, ich werde niemals ruhig daran denken können.“

Entsteht durch ein traumatisches Ereignis ein Bruch in der Lebensgeschichte, kann die betroffene Person eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln, die laut DSM-V folgende Symptombereiche umfasst: Intrusionen (plötzlich und ungewollt auftretende Erinnerungen, Alpträume, Flashbacks, starke emotionale oder körperliche Reaktionen auf Erinnerungsreize); Vermeidung (externale und internale Hinweisreize auf das Erlebte werden soweit als möglich umgangen, z.B. Gespräche über das Erlebte, Kontakt zu bestimmten Personen oder Tätigkeiten); Negative Veränderungen in Kognition und Stimmung (die Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden, andauernde emotionale Taubheit und Isolation, Vertrauensverlust); und Übererregung (Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Wutausbrüche, massiv erhöhte Schreckreaktionen). Um im klinischen Sinne von einer PTBS sprechen zu können, müssen aus allen Symptombereichen mindestens ein oder mehrere Symptome über eine Zeitspanne von mindestens vier Wochen vorliegen; des Weiteren muss eine Einschränkung der Funktionalität in relevanten Lebensbereichen (soziale/familiäre Beziehungen, schulische/berufliche Leistungen) vorliegen (APA 2013). Zeigt eine Person die oben genannten Symptome innerhalb der ersten vier Wochen nach einem traumatischen Ereignis, wird dies als „Akute Belastungsreaktion“ bezeichnet (DSM-5, APA). Hausmann (2016, 51) schreibt hierzu: „Sie wird als normale Reaktion auf ein extrem bedrohliches oder schreckliches Ereignis angesehen, die nach einigen Tagen wieder abklingt, sofern das Ereignis vorbei ist.“

 

Lange wurde die PTBS als Angststörung klassifiziert (APA 2000); sie kann aber ebenso als Störung des Erinnerungsvermögens angesehen werden, denn das Geschehen des „Damals“ und „Dort“ kann nicht mehr adäquat vom Erleben im „Hier“ und „Jetzt“ getrennt werden (Elzinga & Bremner 2002). Der Schrecken der Vergangenheit erhält – über Intrusionen, Schreckreaktionen und Alpträume – Einzug in die Gegenwart. Dieser erlebte Bruch spiegelt sich auch auf neurobiologischer Ebene wider: Erinnerungselemente, die normalerweise verknüpft sind, werden fragmentiert abgespeichert. Nach Squire & Zola-Morgan (1991) können Gedächtnisinhalte unterteilt werden in „explizites“ (verbalisierbares), und „implizites“ (nicht verbalisierbares) Gedächtnis. Das explizite Gedächtnis enthält sowohl Faktenwissen als auch autobiographische Informationen; diese umfassen neben allgemeinen Informationen über Lebensabschnitte auch ereignisspezifische, faktenbezogene Informationen zum Kontext dieses Erlebnisses („Was ist passiert? Wo ist es passiert? Wann ist es passiert?“). Diese „kalten Informationen“ sind bei emotional relevanten Ereignissen eng verknüpft mit den sogenannten „heißen Erinnerungen“ (Metcalfe & Jacobs 1996; Elbert & Schauer 2002), die als Netzwerk aus sensorischer Wahrnehmung, Emotionen, Kognitionen und Körperempfindungen gespeichert werden (siehe Abb. 1). Dabei sind zwei Strukturen des Gehirns von besonderer Relevanz: Amygdala und Hippocampus. Die Amygdala, die bei der emotionalen Bewertung und Wiedererkennung von Reizen wie auch bei der Furchtkonditionierung eine wichtige Rolle spielt, ist vorwiegend für die Konsolidierung des heißen Gedächtnisses zuständig (Correll, Rosenkranz & Grace 2005). Das kalte Gedächtnis wird vorwiegend über den Hippocampus gebildet, der für die Informationsweitergabe vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis und für die Erfassung und Konsolidierung von Kontextinformationen zuständig ist (Elbert et al. 2015). So erklärt sich, dass wir beim Hören eines bestimmten Liedes an spezifische Situationen erinnert werden oder ein bestimmter Geruch unmittelbar die Erinnerung an bestimmte Menschen wach werden lässt; im Beispiel der Abbildung exemplarisch der Anblick des Schulhofs, der die Erinnerung an den Tag der positiv erlebten Einschulung weckt.


Abb 1: Sensorisch-Perzeptuelles Netzwerk eines positiv erlebten Ereignisses, in Anlehnung an Elbert et al., 2015

Unter Einwirkung von massivem Stress steigt die Aktivität der Amygdala, während die Aktivität des Hippocampus signifikant beeinträchtigt wird. So werden bei traumatischen Ereignissen die „heißen“ Erinnerungsinhalte intensiv und gut verknüpft „ins Gedächtnis gebrannt“, während die „kalten“ und Kontext herstellenden Elemente deutlich weniger gut abgespeichert werden (Pitman et al. 2000; Neuner et al. 2013).

Werden mehrere verschiedenartige traumatische Ereignisse erlebt, überschneiden sich in der Regel die Elemente der einzelnen Ereignisse (Angst, Hilflosigkeit, Anspannung, etc.), wodurch ein sogenanntes „Furchtnetzwerk“ entsteht (siehe Abbildung 2) (Elbert et al. 2015). Wird ein Element dieses Netzwerks aktiviert (z.B. durch Anblick eines Bootes), wird das gesamte Netzwerk aktiviert. Dabei können zeitgleich alle Teile der „heißen“ Erinnerung aktiv sein; im Hippocampus kann zugleich jedoch immer nur eine Orts- und Zeitzuordnung erfolgen. So werden – der Hebb’schen Lern-Regel (1949) „What fires together wires together“ folgend – die Verknüpfungen zwischen den heißen Elementen verschiedener Ereignisse immer stabiler, während die Verknüpfungen zu den kalten Elementen vergleichsweise schwächer werden. Betroffene erleben die Intrusionen als „plötzlich auftretend“ – die Auslöser sind dabei oft unbewusst, was das Gefühl der Hilflosigkeit weiter verstärkt.


Abb 2: Furchtnetzwerk, in Anlehnung an Elbert et al., 2015

Doch nicht jede Person, die ein traumatisches Ereignis erlebt, entwickelt in der Folge eines traumatischen Ereignisses eine Posttraumatische Belastungsstörung. In einer repräsentativen Umfrage in Deutschland gaben 24,2% der untersuchten Personen in der Altersgruppe der 14-93jährigen an, ein oder mehrere traumatische Ereignisse im Verlauf ihres Lebens erlebt zu haben; die Prävalenz einer PTBS lag jedoch bei nur 2,3% (Maercker et al. 2008). In den USA gaben bei einer 2016 veröffentlichten repräsentativen Studie 68,6% der Teilnehmenden an, mindestens ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben – lediglich 4,7% erfüllten hier die diagnostischen Kriterien der PTBS (Goldstein et al. 2016). Und auch bei Geflüchteten zeigt sich ein ähnliches Muster: In einer in Leipzig durchgeführten Studie gaben 85,5% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an, mindestens ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben; bei 35,6% lag eine PTBS vor (Nesterko et al. 2019).

Verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle: In zahlreichen Studien konnte der Building Block Effekt (Schauer et al. 2003) festgestellt werden. Dieser Effekt beschreibt, dass die Vulnerabilität für die Entwicklung einer PTBS mit der Anzahl verschiedenartiger traumatischer Ereignisse ansteigt (Mollica et al. 1998; Schauer et al. 2003; Catani et al. 2008; Kolassa et al. 2010). Darüber hinaus haben „man made“ traumatische Ereignisse (interpersonelle Gewalt, Folter, Missbrauch) eine stärkere Prädiktionskraft einer PTBS als Unfälle oder Naturkatastrophen (Bromet et al. 2017). Ein weiterer Forschungsbereich befasst sich mit der Frage nach Resilienz, die auch in diesem Kontext eine bedeutsame Rolle innehat (siehe hierzu beispielsweise Werner 2004). Auch die psychosoziale Versorgung in den ersten Tagen und Wochen nach einem erlebten traumatischen Ereignis kann protektiv wirken (Hobfoll et al. 2007). Doch nicht alle Menschen bringen genügend Ressourcen mit, kommen in den Genuss einer guten Erstversorgung oder erleben eine so geringe Anzahl an traumatischen Ereignissen, dass die eigenen Kräfte zur Integration in die eigene Biographie ausreichen. Dann kann es hilfreich sein, seelsorgerische oder therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

4. Narrative Expositionstherapie

„Eigentlich wollte ich das nie jemandem erzählen. Ich dachte auch, ich kann das nicht.“

In der Narrativen Expositionstherapie (NET) verhelfen Therapeuten und Therapeutinnen PTBS-Patientinnen und -patienten dazu, die Sprachlosigkeit zu überwinden und das Geschehene in ihrer eigenen Biographie zu verorten und zu vergeschichtlichen (Schauer et al. 2011). Dabei folgt die NET einem manualisierten Ablauf, der 8 bis 12 Therapiesitzungen à 90 Minuten vorsieht. Anhand einer ‚lifeline‘ wird zunächst ein visuell-haptischer Überblick über das gesamte Leben des Patienten/der Patientin erstellt. Ein auf den Boden gelegtes Seil symbolisiert das Leben; der Anfang bildet die Geburt ab, das aufgerollte Ende die Zukunft. In biographischchronologischer Reihenfolge werden bedeutsame Lebensereignisse von dem Patienten/der Patientin benannt und anhand von Gegenständen repräsentiert. Zur Verfügung stehen als Symbole Blumen für positive Ereignisse, Steine für angstbesetzte Ereignisse und Kerzen für Verlust. Dabei liegt der Fokus auf der kalten Seite des Gedächtnisses, also auf den Fragen „Was ist passiert?“, „Wann ist es passiert?“ und „Wo ist es passiert?“. Dabei soll der Patient/die Patientin explizit nicht jedes Ereignis ausführlich schildern, sondern nur in wenigen Sätzen darlegen, wofür das jeweilige Symbol steht.

In den folgenden Sitzungen werden in chronologischer Reihenfolge die belastendsten Ereignisse per narrativer (erzählender) Exposition bearbeitet. Dabei leitet der Therapeut die Erzählung durch strukturierende Fragen, die alle Ebenen der heißen und kalten Erinnerung (Wahrnehmungen, Gedanken, Emotionen, Körperempfindungen und den räumlichen & zeitlichen Kontext) aktivieren. Der Patient wird also innerhalb eines sicheren äußeren Rahmens durch seine eigene Erzählung in das Wiedererleben geführt; das beinhaltet auch ein Wiedererleben der Angst, der Körperreaktionen und der Gedanken, teilweise sogar der sensorischen Wahrnehmungen, die beim damaligen Ereignis präsent waren. Gleichzeitig wird das ‚Damals‘ und ‚Dort‘ Erlebte ständig mit dem Erleben im ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘ kontrastiert (z.B. „Du hast gesagt, dass Du damals den Wind auf der Haut gespürt hast. Was spürst Du jetzt, in diesem Moment, auf Deiner Haut?“). Durch die gleichzeitige Aktivierung des heißen und kalten Gedächtnisses (geleitet von den Fragen des Therapeuten/der Therapeutin nach einzelnen Elementen) können vormals fragmentierte Gedächtnisinhalte wieder miteinander in Verbindung gebracht werden. Das Ereignis wird in der Sitzung von Anfang bis Ende durchgesprochen; dabei wird besonders viel Zeit mit dem Moment verbracht, in dem die Angstreaktion am größten war. So gelingt es – wie auch bei anderen Expositionen, beispielsweise bei Phobien – bereits während der ersten Exposition, eine Abnahme der Angstreaktion hervorzurufen. Eine dieser Logik folgenden und in Therapie entstandene Narration könnte wie folgt lauten:

5. Traumatisches Ereignis, erlebt von Amer2

„Ich war 17 Jahre alt. Es war drei Wochen vor Ostern. Seit sechs Monaten war ich schon unterwegs. Es war noch kalt in der Türkei. Wir sind nachts zu einem Strand gefahren; erst mit einem Bus, dann ging es weiter zu Fuß. Dort am Strand hat man das Geräusch vom Wasser gehört. Wir waren insgesamt dreizehn Leute. Die anderen waren auch aus Syrien. Jeder hatte eine Weste an. Als ich die orange Weste angezogen habe, hatte ich die Sorge ‚Wie werden wir das Wasser überqueren?‘ (…) Wir haben das Boot aufgepumpt und sind los. Bis 3.00 Uhr nachts sind wir einfach gerudert. Zuerst war alles ok. Aber dann kam Wind. Die Wellen waren immer stärker. Bei manchen Wellen ist auch Wasser ins Boot gekommen. Ich hatte große Angst. (…) Wir hatten vorher ordentlich im Takt gerudert, aber als die Wellen kamen, war alles ganz durcheinander. Am Anfang von dem Sturm haben wir noch gesagt; Wir müssen schneller rudern, dass wir schneller ankommen.‘ Einer von den anderen hat erbrochen. Von dem säuerlichen Geruch wurde mir schlecht. (…) Ich spürte, wie der Wind an meiner dünnen Jacke zerrte. Mir war kalt. Im Gesicht spürte ich das kalte Wasser. Mein Herz schlug schnell. Wir waren mitten im Meer und im Sturm, und es war keiner da, der uns helfen konnte. Wir haben oft geschrien ‚Was sollen wir tun?‘ Ich habe gedacht: ‚Jetzt ist alles vorbei.‘ Ich hatte Angst zu sterben. Die Angst habe ich im ganzen Körper gespürt. (…) In dem Sturm habe ich vor allem das Wasser gehört, aber auch die Stimmen der anderen. Jeder schrie vor Angst. Als die große Welle kam, ist meine Seite vom Boot hochgegangen. Es gab nichts, an dem ich mich festhalten konnte. Ich habe noch gedacht: ‚Jetzt werde ich ertrinken.‘ Dann war ich unter Wasser. Durch die Rettungsweste bin ich wieder hochgekommen, aber dann gleich wieder unter das Wasser gekommen. Ich habe viel Wasser geschluckt, und musste auch viel husten. Im Mund hatte ich den bitter-salzigen Geschmack vom Wasser. Ich habe gedacht: ‚Jetzt sterbe ich.‘ Ich hatte keine Kraft mehr und konnte mich nicht mehr bewegen. Meine Beine und meine Hände waren eiskalt. (…) Von den Wellen und der Strömung wurde ich in Richtung Land getrieben. Da standen Leute, und irgendwann haben sie mich gesehen. Sie haben geschrien, und als ich das gehört habe, war ich erleichtert. Ich habe gedacht: ‚Ich werde gerettet.‘ (…) Sie brachten mich an Land, und haben dort Feuer gemacht. Das Feuer war ganz nah an mir dran, das war ein gutes Gefühl. Allmählich konnte ich die Wärme spüren. Ganz langsam konnte ich auch meinen Körper wieder bewegen. Ich musste viel husten. Ich habe den Geruch von dem Holzfeuer gerochen. Die Angst war immer noch da in meinem Körper, aber weniger. Zwei bis drei Stunden war ich dort an dem Feuer. Allmählich konnte ich meine Hände und Beine wieder bewegen. Es wurden noch drei andere gerettet und auch zu mir ans Feuer gebracht. Als wir uns mit der Zeit wieder bewegen und sprechen konnten, haben wir gefragt: ‚Wo sind die anderen?‘ Keiner wusste es. (…) Dann wurden wir vom Roten Kreuz versorgt. “

 

Die so entstandene Narration, eine Topographie des eigenen Lebens, wird von der Therapeutin/dem Therapeuten verschriftlicht und in der folgenden Sitzung vorgelesen. Das nochmalige Vorlesen dient vor allem der Habituation, einer in der Expositionstherapie regelmäßig genutzten Gewöhnungsreaktion an einen aversiven Stimulus: Bei der ersten Exposition hat der Patient/die Patientin bereits einmal erlebt, dass er/sie es schaffen kann, das traumatische Ereignis vollständig zu berichten, und dabei die Angst zwar zu spüren und wieder zu erleben, aber ihr nicht hilflos ausgeliefert sein und in ihr verhaftet zu bleiben. Darum ist es unabdingbar, eine Geschichte bis zu ihrem Ende, dem relativ sicheren Moment, erzählen zu lassen. Beim nochmaligen Vorlesen kommt es zur erneuten Habituation, d.h. die Angstreaktion auf den aversiven Stimulus, auf die eigene Geschichte, steigt nicht mehr so stark an wie beim ersten Mal. Anschließend an das Vorlesen wird das nächste traumatische Ereignis in gleicher Weise bearbeitet. So wird die Therapie fortgeführt, bis ein komplettes Dokument über die Biographie des Patienten/der Patientin entstanden ist. Die Erinnerung an die traumatischen Ereignisse wird also nicht gelöscht oder verdrängt – wie es von Patienten und Patientinnen oft gewünscht wird – sondern in den eigenen autobiographischen Kontext integriert. Die eigene Verwundbarkeit bleibt präsent, und die Erinnerungen bleiben – doch nun nicht mehr als schmerzende und eiternde Wunden, sondern als Narben, die bezeugen, was geschehen ist.

Zum Abschluss der Therapie wird die Lebenslinie erneut gelegt; anschließend wird die Narration von allen Anwesenden (Patient/Patientin, Therapeut/Therapeutin, ggf. Dolmetscher/Dolmetscherin) unterschrieben und – wenn gewünscht – übergeben.

6. Wirksamkeit der Narrativen Expositionstherapie

Randomisiert kontrolliert durchgeführte Studien haben von Beginn an die Anwendung und (Weiter-) Entwicklung der NET begleitet. Inzwischen liegen Daten für die Behandlung verschiedener Personengruppen mit NET vor, u.a. Opfer häuslicher Gewalt, Folterüberlebende, Geflüchtete, Überlebende des zweiten Weltkriegs, und ehemaligen Kindersoldaten. Für die Reduktion der Symptome einer PTBS zeigen sich durchgängig im Vergleich zu anderen Therapieverfahren und Wartegruppenbedingungen hohe Effektstärken (Robjant & Fazel 2010; Jacob et al. 2017; Lely et al. 2019). Neben der Reduktion der PTBS-Symptomatik wurden in manchen Studien auch Reduktionen komorbider Störungsbilder (Depression, Suizidalität, somatische Beschwerden) festgestellt (Jacob et al. 2017; Kaltenbach et al. 2018; Lely et al. 2019).

7. Zusammenfassung und Ausblick

„Trauma“ beschreibt im klinischen Sinne Ereignisse, in denen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit einer Person unmittelbar bedroht oder verletzt wurde; sie können selbst erlebt werden, direkt oder indirekt bezeugt werden, oder im beruflichen Kontext durch wiederholte und extreme Auseinandersetzung mit belastenden Details traumatischer Ereignisse auftreten. Die Genese und die Symptome einer PTBS sind vor dem Hintergrund des Building Block Effekts, des Furchtnetzwerks, und der Neurobiologie des autobiographischen Gedächtnisses erklärbar. Die Narrative Expositionstherapie ist ein interkulturell valides und evidenzbasiertes Kurzzeitverfahren für die Behandlung von Menschen, die multipel und sequenziell traumatisiert sind. Durch Expositionssitzungen und Habituationsreaktionen gelingt die Verarbeitung und Integration der traumatischen Ereignisse, sodass die eigene Lebensgeschichte wieder erzählt werden kann und der sprachlose Schrecken überwunden wird.

Seit Menschengedenken erleben wir traumatische Ereignisse. Auch der Verlust der Heimat wurde bereits in den ältesten Schriften beschrieben. Immer wieder werden wir mit traumatischen Ereignissen und ihren Folgen konfrontiert – sei es als Opfer, als Zeuge/Zeugin, oder als Täter/Täterin. Und doch bemühen sich zahlreiche Menschen, die Konfrontation mit traumatisierten Menschen zu vermeiden. Durch Schweigen, durch Wegsehen, durch fragwürdige Praktiken im Grenzschutz… und durch Verfahren, die den Grundsatz der Seenotrettung in Frage stellen. Wenn die Wellen hochschlagen – wer wünscht sich nicht, und wem sei es nicht vergönnt, einen guten Ausgang des Sturmes zu erleben?

„Und siehe, es erhob sich auf dem See ein gewaltiger Sturm, sodass das Boot von den Wellen überflutet wurde. Jesus aber schlief. Da traten die Jünger zu ihm und weckten ihn; sie riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde!“ (Matthäus 8, 24-25).

1 Der vorliegende Beitrag ist in ähnlicher Form erschienen: Trauma, PTBS und Narrative Expositionstherapie – den sprachlosen Schrecken überwinden. Blickpunkt EFL-Beratung, 41 (modern times – Beziehung und Bindung heute), S. 58-67.

2 Name geändert, Geflüchteter aus Syrien, erarbeitet in einer NET-Sitzung.

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