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Melissa Silva

Flucht als Folge menschlicher Vulnerabilität – was Hannah Arendts „Flüchtlings-Begriff“ in aktuellen Migrationsdebatten zu sagen hat

Der aufmerksame Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die von bestimmten Parteien als originär, als Ausdruck der Meinungsfreiheit, des Enthüllens von Wahrheiten und des man-wird-doch-noch-sagen-dürfens bemühten Argumente alle schon gesagt sind. Immer schon wurde mit Rassismus, Kulturalismus und der Konstruktion von „minderwertigen Anderen“ Politik gemacht. Dabei sind nicht mal Wortwahl, Argumente oder der Umgang mit der „Zurückweisung an den Grenzen“ originelle, neue Lösungen. Denn wenn heute von „Asyltourismus“ (Joachim Herrmann & Markus Söder) und „Shuttle-Service“ (Stephan Mayer) gesprochen wird, wo Menschen unter menschenunwürdigsten Bedingungen fliehen, oder von „Menschenfleisch“ (Matteo Salvini), wo es um Väter, Söhne, Mütter, Töchter also schlicht Menschen geht, die um ihr Überleben kämpfen, dann stehen diese Politiker und Politikerinnen in einer langen Tradition der Instrumentalisierung des Sprechens über Flüchtlinge, für ihre Herrschaftsansprüche.

Im Folgenden werde ich den Begriff „Flüchtling“ verwenden, obgleich ich es sonst in Bezug auf bestimmte Personengruppen für geboten halte den, wenn auch gleichfalls nicht problemlosen Begriff, Geflüchtete zu verwenden. Hier soll aber mit der Figur „des Flüchtlings“ eben gerade nicht eine reale Person oder Personengruppe benannt werden. Es soll vielmehr um das soziale Konstrukt gehen, auf das der Begriff „Flüchtling“ verweist, sowie um den wirkmächtigen rechtlichen und gesellschaftlichen Diskurs, der sich an diesen Begriff knüpft. Die Differenz zwischen Diskurs und den von ihm benannten Personen verweist dabei auf die Macht, die vom Diskurs ausgeht: Er gibt den Rahmen vor, in und zu dem die Subjekte, die von ihm betroffen sind, sich verhalten müssen oder den es zu überwinden gilt.

Ich möchte also an dieser Stelle – als Mensch ohne eigene Fluchterfahrung – nicht im Sinne einer Anmaßung oder Essentialisierung, irgendetwas über den gemeinsamen Nenner der Fluchterfahrung, der die Gruppe der Flüchtlinge konstituiert, aussagen. Ich möchte nicht in aneignender Weise über die sprechen, die hier nicht anwesend sind, sondern über den Rahmen, der über den genannten Diskurs und die rechtliche Situation vorgegeben wird. Dafür beziehe ich mich auf den rechtlichen Status, der sich aus dem Flüchtling-sein ergibt, und auf das politische und mediale Reden über „Flüchtlinge“. Wo sich Politik und Gesellschaft handelnd auf den Begriff „Flüchtling“ in seiner gegenwärtigen Konnotation beziehen, wird er für die damit Bezeichneten wirksam.

Flucht als eine menschliche Praxis entspringt der Tatsache, dass wir als Menschen in Gesellschaft Situationen ausgesetzt sein können, denen wir uns entziehen wollen, um einem Schaden oder weiterem Schaden zu entgehen. Dieses Bedürfnis, sich an Orten aufzuhalten, die Sicherheit bieten und Partizipation an einer gesellschaftlichen Ordnung zulassen, scheint trivial, dennoch steht es heute grundsätzlich in Frage. Dagegen kann der völker- und europarechtlich sowie im Grundgesetzt verankerte Flüchtlingsschutz als Ausdruck der Anerkennung menschlicher Vulnerabilität im Angesicht konkreter gesellschaftlicher Missverhältnisse gelesen werden. Interessant scheint dabei der zeitgeschichtliche Kontext, in den diese Anerkennung fällt.

Der Autorin bell hooks zufolge lohnt sich der Blick in die Geschichte, wenn aus ihr ein Erinnern hervorgeht, das geeignet ist, „die Gegenwart zu erhellen und zu transformieren“ (hooks 1996, 148). Neben dem Anspruch, aus Geschichte heraus Gegenwart zu verstehen, stellt hooks damit auch die Forderung auf, dass auf dieses Verstehen Handeln folgt. Denn anders wird sich keine geschichtsbewusste Transformation der Gegenwart einstellen.

Hannah Arendt liefert nicht zuletzt in Bezug auf ihre eigenen Erfahrungen eine historische und gegenwärtige Analyse dessen, was einen zum „Flüchtling“ macht. Arendt bezieht sich auf jene Menschen, die im zweiten Weltkrieg zu Staatenlosen und/oder „Flüchtlingen“ geworden sind. Sie sind in einer anderen Situation, in der sich die „Flüchtlinge“ von heute befinden. Doch soll im Folgenden dafür argumentiert werden, dass Arendts Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen dennoch zu einer „Erhellung und Transformation der Gegenwart“ beizutragen vermag.

In ihrer Analyse verweist Arendt auf Veränderungen von dem seit der Antike gewährten Recht auf Asyl zum modernen „Flüchtling“. Wer flieht, verliert zunächst vor allem zwei Dinge: seine Heimat und den Schutz der Regierung des eigenen Landes. Beide Aspekte sind dabei keinesfalls neu, doch knüpfen an sie, in einer veränderten politischen Ordnung, neue Probleme an. So beschreibt Arendt: „Heimat verlieren, heißt die Umwelt verlieren, in die man hineingeboren ist und innerhalb derer man sich einen Platz in der Welt geschaffen hat, der einem sowohl Stand wie Raum gibt (…). Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, sondern die Unmöglichkeit, eine neue zu finden“ (Arendt 1951, 457).

Letzteres ergibt sich nach Arendt daraus, dass die Verwirklichung einer politischen Ordnung, die die Menschheit als Familie von Nationen begreift, zwangsläufig dazu führt, dass diese Ordnung Menschen hervorbringt, die aus dieser Familie der Nationen und damit aus der Menschheit selbst ausgeschlossen sind (ebd. 458). Neben der Heimat verlieren die modernen „Flüchtlinge“ den Schutz ihrer Regierungen und damit erhöht sich ihre Vulnerabilität symbolisch ebenso wie ganz konkret. Auch dies ist durchaus kein neues Phänomen, doch, so hält Arendt fest: „Die neuen Flüchtlinge aber sind nicht verfolgt, weil sie dieses oder jenes getan oder gedacht hätten, sondern auf Grund dessen, was sie unabänderlicherweise sind, hineingeboren in die falsche Rasse, die falsche Klasse oder von der unrichtigen Regierung zu den Waffen geholt.“ (ebd. 459)

Der Tatsache, dass „Flüchtlinge“ nicht auf Grund bestimmter Handlungen, sondern vielmehr aufgrund des Hineingeborenseins in eine globale Ordnung, die anknüpfend an bestimmte unabänderliche Merkmale Zugänge zu Ressourcen und Orten verwehrt oder gewährt, trägt heute die „Genfer Flüchtlingskonvention – GFK“ (1951/1967; 2019) Rechnung.

In Folge der offenkundig gewordenen Unfähigkeit der Nationalstaaten, die Aufnahme von Schutzbedürftigen aus zwei Weltkriegen zu bewältigen, beschloss man, den Schutz der „Flüchtlinge“ auf internationaler Ebene zu regeln. Errungenschaft dieser Bestrebung sind das 1950 geschaffene Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) sowie die Genfer Flüchtlingskonvention und ihre Erweiterung durch Zusatzprotokolle. Das Recht auf Schutz wurde in Deutschland zudem im Grundgesetz verankert, wo es heute nach den Änderungen im Asylkompromiss 1992/93 vor allem noch symbolische Wirkung entfaltet.1

Die gegenwärtige Verwendung des Begriffs „Flüchtling“ im medialen und gesamtgesellschaftlichen Diskurs ist diffus und verwischt dabei Grenzen verschiedener Phänomene und Disziplinen, die mit dem Begriff umgehen. Rechtlich gesehen ist nach der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention eine Person Flüchtling, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“ (Art. 1 GFK)

Somit kann die Genfer Flüchtlingskonvention als völkerrechtlich festgeschriebene Wertung von Bedrohungen, die an kategoriale Zuschreibungen wie Rasse, Religion oder Nationalität geknüpft sind, verstanden werden: Diese werden als illegitime Übergriffe auf den Menschen verstanden, die die Flucht über Landesgrenzen hinweg rechtfertigen.2 Auf der anderen Seite trägt die Konvention dem von Arendt als einzigem wirklichen Menschenrecht benannten Recht Rechnung: Dem Recht, Rechte zu haben und einem politischen Gemeinwesen anzugehören, da ohne dies kein anderes Recht realisierbar ist (Arendt 1951, 462).

So wird bei Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention der fehlende Schutz des Heimatlandes durch einen rechtlichen Schutz in einem Aufnahmeland ersetzt. Dem zugrunde liegt ein neues Verständnis von einer nötigen Ent-naturalisierung gesellschaftlicher Ungleichverhältnisse. Demnach zeugt die Konvention von einer Anerkennung der Tatsache, dass Menschen schuldlos in eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung hineingeboren oder hineingeraten können, die sie der Verfolgung durch andere Akteure derselben Gesellschaft aussetzt. Diese Verfolgungssituation aus nicht selbstverschuldeten Gründen widerspricht grundsätzlich dem westlichen Selbstverständnis der Menschen als freien Subjekten. Freiheit ist gerade eine Distanzleistung des Menschen zu seiner Umwelt, der vorgefundenen gesellschaftlichen Ordnung und nicht zuletzt seinem Körper. Verfolgung auf Grund der Zuschreibung Rasse etwa legt den Menschen jedoch gerade auf seinen Körper fest. Der freie Mensch trägt Verantwortung für sein Handeln und kann auch nur deshalb für es verantwortlich gemacht werden. Die im Sinne der Genfer Konvention anerkannte Verfolgung des Flüchtlings jedoch ergibt sich daraus, dass er verantwortlich gemacht wird für etwas, für das er selbst keine Verantwortung trägt, etwa den Ort seiner Geburt oder die Farbe von Haut und Haaren. Kurz: „Er ist unschuldig selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte“ (Arendt 1949, 459). Diese auf der absoluten Unschuld gründende absolute Verantwortungslosigkeit ist dem modernen Subjekt unerträglich (ebd.). Im Angesicht begründeter, konkreter und individueller Verfolgung solcher Art, nimmt die Genfer Konvention Mobilität, als ein Sich-entziehen-Können, als wirksamen und legitimen Gegenmechanismus an. Mobilität, im Sinne von Fluchtbewegungen, wird damit zugleich als anthropologische Grundkonstante betont, der keineswegs eine spektakuläre, momentane Einzigartigkeit zukommt.

 

Und nun der Blick in die Gegenwart: Wie aus der bereits genannten Definition hervorgeht ist, um in den Schutzbereich der Genfer Konvention zu fallen, die Grenzverletzung meist unumgehbar. Nur wenigen gelingt die Ausreise mit eigenen Papieren und Visa. Erst wer die Grenzen zu einem der Staaten, der die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert hat, überquert, kann sich auf Flüchtlingsschutz berufen.

Im Jahr 2017 befanden sich 68,5 Millionen Menschen weltweit außerhalb oder als Binnenflüchtlinge innerhalb ihrer Länder auf der Flucht. Auf der Flucht befinden sie sich, da der Staat, dessen Staatsbürgerschaft sie haben, als Verfolger auftritt oder weil dem Staat, der diese Menschen vor Verfolgern schützen sollte, dies nicht gelingt, oder er nicht Willens ist dies zu tun. Nur ein Bruchteil dieser Menschen kann sich jedoch auf den internationalen Schutz berufen. Dies ist nicht zuletzt Folge einer Politik, die dazu führt, dass „Flüchtlinge“ in Transitländern wie der Türkei oder Libyen feststecken und den nötigen Grenzübertritt in ein Land, in dem die Genfer Konvention und ihr Zusatzprotokoll ratifiziert wurden, gar nicht erst verwirklichen können (Amnesty International 2018).

Der Verlust der Menschenrechte, den Arendt von der Verletzung der Menschenrechte unterscheidet, tritt nicht ein, wenn ein einzelnes Menschenrecht verletzt wird, „sondern erst, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind“ (Arendt 1951, 461f.). Die daran anschließende und bereits genannte Forderung Arendts, jedem Menschen das Recht, Rechte zu haben und die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen zu gewähren, ist gegenwärtig damit nicht verwirklicht.

Vielmehr leben weltweit mehrere Millionen Menschen aus den genannten Gründen in den Hauptaufnahme- und Transitländern überwiegend in prekärem Status ohne rechtliche Aufenthaltstitel. Dies ist Ergebnis einer Politik, die auf Grenzschutz zielt, da der vollzogene Grenzübertritt dazu führt, dass Menschen sich auf bestimmte Rechte berufen können. Im Folgenden nehme ich nun vor allem die Staaten der EU in den Blick, obwohl sich ähnliche Phänomene auch in anderen Teilen, vor allem der westlichen Welt ausmachen lassen. In Bezug auf Arendts Analyse, die den neuen „Flüchtling“ aus seiner Unschuld heraus begreift, vertrete ich die These, dass dieser Aspekt Aufschluss gibt über die wirksame Verknüpfung des Begriffs „Flüchtling“ mit Diskursen um innere Sicherheit und die Unvereinbarkeit von Wertesystemen, die eine Abschottungspolitik begründbar machen. Es geht dabei um ein breites Verständnis von dem, was „der Flüchtling“ ist, eine „Analyse der gewöhnlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Extreme tragen“ (Castro Varela & Mecheril 2016, 15). Interessant scheint hier die Auseinandersetzung mit „Flüchtlingen“, die straffällig werden. In der öffentlichen Debatte wird beinahe überwiegend die Rede vom verwirkten Gastrecht laut, wo „Flüchtlinge“ gegen die Regeln des Rechtssystems des Aufnahmestaates verstoßen. Die Nichtschuld an der Verfolgung, die anknüpft an das, was er ist oder von wo er kommt, wird durch die Tatsache der Straffälligkeit überlagert. Wird ein „Flüchtling“ straffällig, wird nicht das rechtstaatliche Verfahren vor einem Gericht, mit gegebenenfalls anwaltschaftlicher Verteidigung und Verhängung einer Strafe, eingefordert, sondern es wird der Entzug des Rechts, vor drohender Gefahr flüchten zu dürfen, gefordert.

Recht schöpft sich auch aus dem gesellschaftlichen Wertesysteme. Die Unterstellung eines abweichenden Wertesystems, die häufig pauschal gegenüber Musliminnen und Muslimen vorgebracht wird, kann diskursiv in die Nähe des Rechtsbruchs gerückt werden. Zugleich sind Ängste vor „Islamisierung“ auch Ausdruck dieser Nähe zum Rechtssystem, denn kommt es zur Verschiebung des Wertesystems, besteht die Furcht, das Recht könnte dem folgen. Die von Arendt analysierte enge Verwobenheit des Flüchtlings mit der Unschuld macht den Diskurs um den „Flüchtling“ als potentielle Gefahr für innere Sicherheit und das gesellschaftliche Wertesystem deshalb so wirkmächtig. Er ist geeignet, die Gesamtheit der „Flüchtlinge“ in Frage zu stellen, da sie ein Misstrauen gegenüber der Unschuld an den Fluchtgründen schafft. Auch für die gegenwärtige Gesellschaft ist die absolute Unschuld, auf deren Grundlage Menschen Opfer von Entrechtung werden, nur schwer erträglich. Der Sicherheitsdiskurs liefert ein entlastendes Misstrauen, mit dem es sich dieser sonst einzig irritierenden, kaum durchdringbaren Unschuld entgegentreten lässt. Dieses Misstrauen pervertiert sich dort zur Zuschreibung einer Kollektivschuld, wo kulturalistische und rassistische Argumentationen versuchen, die Schutzwürdigkeit bestimmter Gruppen grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit ist die gegenwärtige Lage von „Flüchtlingen“ Resultat des in Handlung übersetzten Diskurses, der auf breite gesellschaftliche Zustimmung stößt. Die bereits zitierte hooks entlarvt aus dem, was sie als Afro-Amerikanerin als radikale Perspektive bezeichnet, den Diskurs über „das Andere“ wie folgt: „Oft ist dieses Sprechen über „das Andere“ auch eine Maske, ein tyrannisches Sprechen, das Lücken und Abwesenheiten verdeckt, den Raum, in dem unsere Worte wären, wenn wir sprechen würden, wenn es still wäre, wenn wir dort wären (…)“ (hooks 1996, 157).

Noch machtvoller als der Diskurs, der trotz Anwesenheit zum Schweigen zwingt, ist der, der die Menschen gar nicht erst dort hinlässt, wo öffentliches Sprechen möglich ist. Dabei weitet sich die gegenwärtige Abschottungspolitik in zwei Richtungen immer weiter aus: Europäische Politik schafft zunehmend geschlossene Grenzen auch außerhalb des eigenen Kontinents, wo es früher keine gab, und steht damit in postkolonialer Tradition. Gleichzeitig wandert die Politik der Abschottung bis in das deutsche Staatsgebiet hinein, wenn mit Begriffen wie der „Fiktion der Nichteinreise“3 Nicht-Anwesenheit fingiert wird, um dem faktisch körperlich Anwesenden Rechte zu entziehen. Denn nur ihre faktische oder fiktive Abwesenheit von Menschen ist es, die es uns ermöglicht, ihr Leid nicht wahrzunehmen.

Im Jahr 2018 ist mehr als 2100 Mal ein Menschenleben auf dem Mittelmeer zu Ende gegangen4 – ungezählt bleiben die vielen mehr, die auf dem Weg nach Europa zu Tode kommen. Wir müssen uns befragen, was diese Menschen, wenn wir in unserem Diskurs und an den Plätzen öffentlichen Sprechens Raum für sie ließen, uns über unsere Werte zu sagen hätten.

1 Regelmäßig liegt die Quote derer, die nach Art. 16 a GG Asyl erhalten, unter 2 % (vgl. BAMF 2019, 11). Im Zuge des 1993 in Kraft getretene „Asylkompromiss“ wurde das Grundgesetz so geändert, dass sich nicht auf Art. 16 a berufen kann, wer über einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Als sichere Drittstaaten zählen unter anderem alle an Deutschland angrenzenden Länder, womit also die Einreise auf dem Landweg Ausschlusskriterium für die Berufung auf Art. 16 a ist. Gleichzeitig gilt, dass in beinahe allen Fällen, in denen dennoch Schutz nach Art. 16 a GG gewährt wird, ebenfalls die in den Rechtsfolgen gleichwertige Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird.

2 Auf die weiterführende Problematik, die sich aus der Beschränkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Menschen, die eine „begründete Angst vor Verfolgung“ darlegen, und dem damit verbundenen Problem, dass allgemeine, willkürliche Gewalt, desolate wirtschaftliche Bedingungen oder die zunehmende Bedrohung durch Klimaschäden nicht von der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gedeckt sind, kann hier nicht näher eingegangen werden. Jedenfalls wäre eine umfassende Gewährung der Verpflichtungen aus der GFK bereits ein bedeutender Schritt zugunsten des Schutzes geflüchteter Menschen.

3 Dieser Begriff wurde 2018 im Rahmen der vom damaligen Bundesminister des Inneren, Horst Seehofer, geforderten „Zurückweisung an der Grenze“, die sich nach herrschender Meinung jedoch nicht mit EU und völkerrechtlichen Vorgaben vereinen lässt, eingeführt (s.o. den Beitrag von Bernhard Kohl sowie Schmalz 2018).

4 Stand 11. Dezember 2018; UNHCR (2018): Operational Portal. Mediterranean Situation: https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean.

Vulnerabilität in Terrorangst und Radikalisierungsprävention

Bei einem Terroranschlag spüren Menschen besonders schmerzlich, wie sehr sie selbst und ihre Gemeinschaften (Familie, Gesellschaft, Religion, …) verwundbar sind. Die Vulneranz anderer Menschen und anderer Gruppen schlägt zu. Welche destruktiven, aber auch kreativen Auswirkungen hat ein solcher Machtzugriff auf eine Gesellschaft? Und was können Schulen tun, um eine Radikalisierung junger Menschen zu verhindern? Darüber denken die Psychologin Katharina Obens und die Fundamentaltheologin Hildegund Keul gemeinsam nach.

Katharina Obens

Vulnerabel für Radikalisierung? Sonderpädagogische Zugänge zur Radikalisierungsprävention

Wie wirken sich Terrorangst, die Furcht vor religiöser oder politischer Radikalisierung und „Homegrown Terrorists“ auf Intergruppenkonflikte aus? Wie kann sich aus Vulnerabilität Vulneranz (die Bereitschaft, andere zu verletzen) entwickeln? Und welche Vulnerabilitätsfaktoren auf psychosozialer Ebene sind für Radikalisierungsprozesse bedeutsam? Diesen Fragen geht das Forschungsprojekt „Radikalisierungsprävention in der sonderpädagogischen Lehrerbildung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin nach. Im Rahmen des Projekts werden Studierende zum Thema Radikalisierung im Jugendalter ausgebildet. Zur Vorstellung des Projekts werden im Folgenden erstens Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Ängsten und Intergruppenkonflikten erläutert, die auf der Makroebene die Bedingungen für Radikalisierung darstellen. Zweitens werden individuelle Vulnerabilitätsfaktoren und psychosoziale Bedingungen von Radikalisierungsprozessen am Fall des heute 29-jährigen Max diskutiert, der sich in der Haft einer islamistischen Gruppe anschloss. Drittens wird die Frage diskutiert, was Lehrende in der Beratung von Eltern und im Unterricht tun können, um gegen eine Radikalisierung Heranwachsender vorzugehen.

1. Radikale Gruppen und die Vulnerabilität der Demokratie

Die Radikalisierung junger Menschen, die mit der Aneignung radikaler Ansichten wie der Ablehnung von Pluralismus, demokratischen Prinzipien und humanistischen Werten und Normen einhergeht, erfährt gegenwärtig viel Aufmerksamkeit. Diese Entwicklung kann vor dem Hintergrund gestiegener Anhängerzahlen islamistischer sowie rechtsextremistischer Gruppierungen nicht überraschen: Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes zählen die islamistisch-dschihadistische Szene auf der einen sowie neue Bewegungen der extremen Rechten auf der anderen Seite zu den am stärksten wachsenden radikalen Gruppierungen in Deutschland (Verfassungsschutzbericht 2017, 23). Radikale Gruppen versuchen, an gesellschaftliche Ängste anzuknüpfen, negative Emotionen zu mobilisieren und ethnische, religiöse oder nationale Zugehörigkeiten festzuschreiben sowie Hass gegen Andere zu schüren. Sie setzen dabei bewusst auf die Mobilmachung vulnerabler junger Menschen und suchen gezielt – auch über das Internet – nach deprivierten Jugendlichen, denen sie einen vermeintlichen Ausweg aus ihren Problemlagen anbieten.

Radikalisierungsprozesse entstehen so im Zusammenwirken von spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen (wie dem aktuellen Erstarken des Rechtspopulismus oder dem damaligen Ausruf des „Islamischen Staats“ im Juni 2014), Erfahrungen in der eigenen Biografie (u.a. Gelegenheitsstrukturen und Erfahrungen mit Peers), spezifischen Gruppenfaktoren und individuellen Auslösern (wie beispielsweise der eigenen unaufgearbeiteten familiären Vergangenheit: Köttig 2004). Vor diesem Hintergrund wird Vulnerabilität definiert als eine potentiell erhöhte Anfälligkeit, sich in Adoleszenzkrisen oder belasteten Familiensituationen sowie einem spezifischen makro-sozialen Kontext, radikalen Gruppen zuzuwenden. Vulnerabilitätssensible Pädagogik thematisiert demzufolge potentielle Verletzbarkeiten (Gefährdungen, die von radikalisierten Schülern und Schülerinnen ausgehen), will institutionelle Schwachstellen und Versäumnisse in der Radikalisierungsprävention reflektieren und entwickelt pädagogische Maßnahmen für betroffene Jugendliche/junge Erwachsene, die die Ausbildung einer manifesten radikalen Weltsicht verhindern sollen.

 

2. Unsicherheit, Terrorangst und ihre Auswirkungen auf Intergruppenkonflikte und gesellschaftliche Radikalisierung

Welche Gruppen können als besonders vulnerabel für gesellschaftliche Ängste und damit häufig verbundene Einstellungsveränderungen – wie der Zunahme von sozialer Intoleranz – identifiziert werden? Die Jugendstudie „Generation what?“ zeigt auf, dass Kinder und Jugendliche nach Terroranschlägen umso schneller ihre Meinung zur Befürwortung kultureller Vielfalt ändern, je jünger und weniger gebildet sie sind (Schwartz et al. 2016, 19, 33). Die R+V-Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“ stellt dar, dass Erwachsene in Deutschland vermehrt Terrorangst und Angstgefühle in Zusammenhang mit der instabilen Weltlage empfinden: Im Herbst 2016 fürchteten sich 73 % der Deutschen vor einem Terroranschlag, ein Jahr später 71 %. Erst im Jahr 2018 sank der Terrorangst-Wert wieder auf 58 %, dicht gefolgt von der Angst vor politischem Extremismus mit 57 % („Die Ängste der Deutschen im Langzeitvergleich“). Wie die aktuelle World Vision Kinderstudie demonstriert, macht die Terrorangst aber auch nicht vor den Kleinsten halt: 58 % der befragten Sechs- bis Elfjährigen gaben die Angst vor Terror als ihre stärkste Angst an (4. World Vision Kinderstudie 2017, 11). Etwas weniger sind es in der Jugendstudie: Dort steht die Angst vor Terror mit 31 % auf dem zweiten Platz. Den ersten Platz nahm mit 35 % die Angst vor gesellschaftlichen Unruhen ein. Terrorangst und Ängste vor sozialen Unruhen können – so schlussfolgerten die Autoren – zum Motor der Angst vor Zuwanderung werden (Schwartz et al. 2016, 19, 33).

Internationale Forschungen zu langanhaltenden Intergruppenkonflikten machen auf die ernstzunehmenden Folgen dieser Ängste aufmerksam: Empfinden Kinder schon früh eine Bedrohung durch Terrorismus oder gewalttätige Intergruppenkonflikte, hat dies eine erhebliche Auswirkung auf die Ausbildung von Stereotypen, die ohne Intervention langfristig bestehen bleiben können (Bar-Tal et al. 2017, 421f). So werden israelische Schüler und Schülerinnen (die häufigerem Raketenbeschuss und terroristischen Anschlägen ausgesetzt sind und in deren Folge Traumafolgestörungen aufweisen) im Rahmen eines Resilienztrainings neben Übungen zur Reduktion traumatischer Symptome auch in Übungen zur Reduzierung sozialer Intoleranz unterwiesen (Berger et al. 2016). Denn nach sozialpsychologischen Studien kann Terrorangst zu einer Zunahme von ethnozentrischen, xenophoben und antidemokratischen Einstellungen führen: Verschiedene Studien wiesen unter Terrorbedrohung vermehrt Vorurteile von Nicht-Muslimen gegen Muslime nach (Fritsche et al. 2006) sowie eine erhöhte Zustimmung gegenüber rechtsgerichtetem Autoritarismus (Jugert & Hiemisch 2005, 157). Terrorangst wird so zum Movens für die Entwicklung sozialer Intoleranz.

3. Vulnerabilitätsfaktoren für Radikalisierung im Jugendalter

Aber wer sind diese Menschen, vor denen sich die Gesellschaft fürchtet? Internationale Studien gehen von einem länderübergreifenden Einstiegsalter in radikalen Gruppen bei männlichen Jugendlichen von 14 bis 35 Jahren aus (Bouhana & Wikström 2011, 24; nach Friedmann & Plha 2017, 222). Die Jugend als „Zeitalter der Radikalität“ wirkt hier wie ein Katalysator für bereits in der Gesellschaft vorhandene Konflikte. Für die Sonderpädagogik erweisen sich aktuelle Ergebnisse der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Radikalisierungsforschung als relevant, die vermehrt Radikalisierungsfaktoren diskutieren, die eine heterogene Gruppe betreffen: Jugendliche und junge Erwachsene in Krisen (Venhaus 2010), mit psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen (Friedmann, Phla 2017) und Diskriminierungserfahrungen (Kruglanski et al. 2014, 381). Hinzu kommen Jugendliche, die aus hoch belasteten Familien stammen oder delinquente Jugendliche, die sich unter den Bedingungen der Haft radikalisieren. Diese jungen Menschen stammen häufig aus autoritären oder vernachlässigenden Familien und haben früh traumatische Erfahrungen erlitten (Friedmann & Plha 2017, 229).

Rüssmann et al. wiesen zudem nach, dass eine Vulnerabilität für radikale Einstellungen mit einem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil1 einhergeht (Rüssmann et al. 2010, 295f). Persönliche Krisen (beispielsweise ausgelöst durch den Tod von Angehörigen) können dann als Momente der kognitiven Öffnung wirken, in der Angebote radikaler Gruppen als neue Identitätsangebote genutzt werden (Kruglanski et al., 2014, 385). Hinzu kommen Identitätsprobleme, wie die Empfindung einer „doppelte[n] Nichtzugehörigkeit“ (El-Mafaalani & Toprak 2011, 18). In der neo-salafistischen oder rechtsradikalen Gemeinschaft erfahren jene Jugendlichen dann Aufwertung und Anerkennung und fühlen sich als Teil einer Avantgarde (Kiefer 2015, 42). Nach dem französischer Politikwissenschaftler Olivier Roy haben in vielen Radikalisierungsprozessen ideologische Aspekte eher sekundären Charakter. Er spricht – im Hinblick auf „Homegrown Terrorists“ – vielmehr von einer „Islamisierung der Radikalität“. Individuelles Verhalten und psychologische Aspekte (bspw. Gewaltfantasien) spielen demzufolge eventuell eine stärkere Rolle als Religion bzw. Ideologie in Radikalisierungsprozessen (Roy 2017, 20). Zur Darstellung der Bedingungsfaktoren für Radikalisierungen fehlt aber noch weitere empirische Forschung, u.a. Analysen der Radikalisierungsverläufe von Kadern.

4. Radikalisierungsprävention in der sonderpädagogischen Lehrerbildung

Was können wir in der Lehrerbildung tun, um pädagogisch gegen die Identitätsangebote radikaler Akteure vorzugehen? Vor dem geschilderten Hintergrund widmet sich das Berliner Forschungsprojekt der Entwicklung und Evaluation von Projekten der phänomenübergreifenden Primärprävention2 für Schüler und Schülerinnen in psychosozialen Problemlagen. Es sollen Konzepte und Praxiswissen aus der Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen/ Pädagogik bei Verhaltensstörungen für diese heterogene Gruppe von Schülerinnen und Schülern nutzbar gemacht werden, die spezifische Vulnerabilitätsfaktoren analysieren und Bindungsverhalten oder psychische Störungen mitberücksichtigen. Dazu werden Seminare angeboten, die angehende Lehrende für diese Thematik sensibilisieren sollen. In diesen Seminaren nehmen die Studierenden eigene Praxisforschung vor und interviewen beispielsweise Experten aus Beratungsstellen oder ehemalige Salafisten/ Mitglieder der radikalen Rechten. Ziel ist die wissensbasierte Entwicklung schulischer Radikalisierungsprävention.

Das im Folgenden vorgestellte Fallbeispiel von Eileen Wachholz, Sebastian Knoll und Jantje Mundt entstand so auf Basis eines Interviews mit einem ehemaligen Häftling einer Berliner Justizvollzugsanstalt.

Delinquentes, dissoziales und aggressives Verhalten von Kindern und Jugendlichen sind Problemkonstellationen, die in das Arbeitsfeld der Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen fallen. Die Erziehung im Jugendstrafvollzug gestaltet sich folglich als sonderpädagogische Herausforderung (Tulke 2018, 51). Mittels eines biografisch-narrativen Interviews (Rosenthal 2002) wurde versucht, Bedingungs- und Vulnerabilitätsfaktoren für eine islamistische Radikalisierung des heute 29-jährigen Max (Name geändert) in der Haft nachzugehen. Die an die strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) angelehnte Interviewauswertung der Studierenden wurde im Folgenden von der Autorin zusammenfassend reformuliert und ergänzt.

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