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Migration und Flucht – im Spannungsfeld von Trauma, Kreativität und Resilienz

Wenn Menschen vor Krieg und Verfolgung, Hunger und Gewalt fliehen, sind sie bereits Verwundete. Doch ihre Vulnerabilität steigert sich nochmals erheblich durch die Gefahren, die auf ihren Fluchtwegen lauern. Die unzähligen Toten im Mittelmeer bezeugen dies. Welche Gefahr drohende Rechtlosigkeit birgt, beschreibt die Pädagogin Melissa Silva mit Rückgriff auf Hannah Arendt. Und der Moraltheologe Bernhard Kohl zeigt im Vergleich von Kanada und Deutschland, welche Bedeutung Narrative zur Migration in Staaten haben, die geflüchtete Menschen aufnehmen.

Bernhard Kohl

Migration und Flucht – philosophisch-theologische Perspektiven

1. Kanadische und deutsche Migrationserzählungen

21,9% der Kanadier und Kanadierinnen haben einen Migrationshintergrund. In großen Städten und Ballungsräumen wie Toronto liegt der prozentuale Anteil mit 51,1% nochmals wesentlich höher (Statista Research Department, Ethnien in Kanada 2014). Auf der anderen Seite nimmt das Land relativ wenig geflüchtete Menschen auf. Im Jahr 2016 war eine Zielvorgabe wegen des staatlichen Resettlement-Programms für syrische Flüchtlinge von 25.000 Personen gesetzt (was einem Anteil von 0,07% an der Gesamtbevölkerung entspricht), bereits im Folgejahr aber wieder auf 7.500 (0,02%) reduziert worden. Im Vergleich dazu nahm die Bundesrepublik Deutschland 2016 ca. 746.000 Asylsuchende auf (0,89%) und 2017 ca. 223.000 (0,27%) (Amnesty Report, Kanada 2018). Umgekehrt proportional zu den Zahlen verhalten sich die „Erzählungen“ beider Länder zu „ihren“ Migranten, Migrantinnen und geflüchteten Menschen.

Der Multikulturalismus ist seit 1971 das politische Begleitprogramm, welches 1988 im „Canadian Multiculturalism Act“ unter dem Slogan „Einheit in Verschiedenheit“ Gesetz wurde. Generell wird eine sehr positive Terminologie in Richtung eingewanderter und nach Kanada geflüchteter Menschen gepflegt: „Diversity is Canada‘s strength. (…) what’s made it work so well in Canada is the understanding that our diversity isn’t a challenge to be overcome or a difficulty to be tolerated. Rather, it’s a tremendous source of strength.”1 Gleichzeitig üben Medien, Politiker, Politikerinnen und Vertreter und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft mit einem gewissen Lustempfinden große Kritik an der Migrationspolitik der USA. Man hält sich selbst für den kleineren, aber feineren Bruder der USA: „Amerika, nur besser.“2

Kurzum: Man feiert sich für seine Offenheit und schreibt Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung einen stark positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu. Und diese Zuschreibung erweist sich als wirksam, wie Umfragen bestätigen. 60% der kanadischen Bevölkerung stehen einer weiteren Aufnahme von geflüchteten Menschen uneingeschränkt positiv gegenüber (s. „Oh wie schön ist Kanada“, Schwarte 2017), und 83% der muslimischen Kanadier und Kanadierinnen sind „sehr stolz“, kanadische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen zu sein (Clement 2016). Dabei zeigt die Realität, dass Kanada mit seinen Detention Centres, seinem Punktesystem für Einwanderer, der sozialen Schichtung der Bevölkerung etc. viel näher an den USA liegt, als den Kanadiern und ihrem Narrativ lieb sein kann.3

Ein umgekehrtes Bild ergibt sich für Deutschland, das im Vergleich zu anderen westlichen Ländern eine relativ hohe Zahl von geflüchteten Menschen aufnahm – obwohl sie natürlich im Vergleich immer noch verschwindend gering ist. Hier ist die Terminologie aber häufig negativ eingefärbt. Angela Merkels „Wir schaffen das“ wurde durch rechtspopulistische Terminologien wie Flüchtlingswelle, Flüchtlingskrise, Ansturm, oder auch Asyltourismus überdeckt. Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung wird ein eher negativer Einfluss auf die Gesellschaft zugeschrieben. Statistisch ergibt sich hierfür kein Anhaltspunkt, nicht einmal aus der Kriminalitätsstatistik, wie so gerne weisgemacht wird.

Zusammengefasst kann man also festhalten, dass die Situation in Kanada gemessen an der Realität positiver dargestellt wird, als sie tatsächlich ist, und in Deutschland negativer. Am Beispiel der beiden Länder wird deutlich, dass Sprache und Erzählungen bzw. Narrative bedeutsam und existenziell sind: Sie prägen die Stimmung unter Menschen in einer Bevölkerung, lassen Dinge in einem positiven Licht erscheinen und haben gleichzeitig das Potenzial, Fakten und Realitäten zu verbergen oder unsichtbar zu machen.

Um noch einmal auf Kanada und Deutschland zurückzukommen: In beiden Fällen werden Menschen durch Sprache unsichtbar gemacht, man nimmt ihnen ihre eigene Wirkung, ihre eigene Handlungsfähigkeit, da sie für politische Zwecke eingespannt werden. Beispielsweise verschwinden sie hinter den Absichten, für oder gegen eine offene Gesellschaft zu argumentieren. Menschen werden durch solche vulneranten Erzähl- und Sprechweisen in gewissem Sinne aus Gesellschaften und gesellschaftlichen Diskursen ausgeschlossen, da sie hinter den Rollen verschwinden, die ihnen sprachlich zugeschrieben werden und auf die sie sprachlich festgelegt werden. Sei es als positive oder negative Kontrastfolie.

2. Souveränität und Gouvernementalität: Die Produktion nichtautorisierter Vorsubjekte

Für die US-amerikanische Philosophin Judith Butler ist die Voraussetzung für einen solchen Ausschluss von Menschen aus einer Gesellschaft das eigentümliche Zusammenspiel von Souveränität und Gouvernementalität, das eine moderne, sehr zeitgenössische Form der Macht ergibt.

Mit Michel Foucault versteht sie die Gouvernementalität als eine Ausprägung von Macht, „die mit der Erhaltung und Kontrolle von Körpern und Personen, der Produktion und Regulierung von Personen und Bevölkerungen sowie der Zirkulation von Gütern befasst ist“ und die „durch staatliche und nichtstaatliche Institutionen und Diskurse, die weder durch direkte Wahlen noch durch althergebrachte Autorität legitimiert sind“ (Butler 2005, 70f.), ausgeübt wird.

Im Unterschied dazu ist die Souveränität die Form von Macht, die herkömmlicherweise mit der Legitimität eines Staates und der Form der Rechtsstaatlichkeit verbunden war, indem sie für eine einheitliche Quelle der Macht und deren Symbol sorgte. Allerdings funktioniert die Souveränität nicht mehr in dieser herkömmlichen Weise. Vielmehr taucht Souveränität unter Ausnahmebedingungen, in denen die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft gesetzt ist, im Kontext der Gouvernementalität wieder auf, indem das Recht beispielsweise instrumentell als Taktik eingesetzt wird. So kann die Exekutive eines Staates sich judikative Gewalt anmaßen, exekutive und administrative Institutionen können sich Prärogativgewalt ohne Anspruch auf Legitimität vorbehalten.4

Kurz: „Die Gouvernementalität bezeichnet eine Funktionsweise der administrativen Gewalt, die außergesetzlich ist, selbst wenn sie zum Recht als einem Feld taktischer Operationen zurückkehren kann. (…) Das Recht selbst ist entweder ausgesetzt oder wird als ein Instrument betrachtet, das der Staat verwenden kann, um eine gegebene Bevölkerung im Zaum zu halten und zu überwachen“ (Butler 2005, S.74). In der Gouvernementalität entsteht eine Verbindung von Souveränität und Recht, die es erlaubt, Menschen der extremen Verletzbarkeit und der Traumatisierung auszusetzen; eine Verbindung, die Lebensformen an der einen Stelle produziert und gestaltet und an der anderen Lebensweisen verhindert und zerstört, über deren Verfügbarkeit und Vergänglichkeit gebietet (Butler & Athanasiou 2014, 37 & 51f.). Konkret verdeutlichen lässt sich diese Theorie an Transitzentren, Registrierungslagern und Abschiebegefängnissen für geflüchtete Menschen. Diese Lager sind in zweierlei Hinsicht Stätten der Gouvernementalität. Sie sind in zweierlei Hinsicht inexistente Stätten oder unsichtbare Orte: einmal als den Augen der Öffentlichkeit entzogene Stätten und zum anderen als exterritoriale Orte (Foucault 2005).

Der Staat – als gesetzliche und institutionelle Struktur zur Begrenzung eines Territoriums – hält die Bindemittel staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten bereit, unter denen Menschen juristisch gebunden sind. Wenn ein Staat aber bindet, dann kann er auch Bindungen aufheben, indem er bspw. die Bindung an Grundrechte mit einer bestimmten Form von Nationalität verknüpft. Geschieht dies mit Macht oder sogar Gewalt, werden Menschen aus dieser Bindung entlassen, verstoßen oder gebannt. Sie werden durch eine bestimmte Machtoperation des Staates in den Status von Enteigneten versetzt und dort auch gehalten. Somit gehören Geflüchtete dem Set von juristischen Rechten und Pflichten, das die Staatsbürgerschaft konstituiert, nicht an, können also auch ihre Persönlichkeit unter den durch einen Staat rechtlich geschützten Bedingungen nicht mehr entfalten bzw. ihre Rechte wahrnehmen. Dadurch entstehen „gespensterhafte Menschen“, die ihrer juristischen Zugehörigkeitsweisen und ihres „ontologischen Gewichts“ beraubt sind und „durch das Raster der für jede noch so kleine Anerkennung erforderlichen sozialen Wahrnehmung fallen“ (Butler & Spivak 2011, 8ff.).

Psychologisch resultiert aus diesem Verhältnis eine beinahe paradoxe Situation: die fast vollkommene Anonymität der Geflüchteten, die auch als Unkontrollierbarkeit begriffen bzw. dargestellt wird, erweckt bei den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft Angst vor den unsichtbaren Fremden. Auch hier zeigt die aktuelle Debatte ein konkretes Beispiel: „In den Zentren kann sich jeder frei bewegen, raus darf aber niemand.“5

Wo Menschen sich nämlich grenzüberschreitend auf Wanderschaft begeben, wo sie fliehen, werden sie als Gefahr für die Mitglieder der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen, da sie ein grundlegendes Prinzip der Nationalstaatlichkeit der Moderne in Frage stellen: die Dreieinigkeit, den Zusammenhang von Geburt, Territorium und Staat. Durch ihre Deterritorialisierung unterbrechen Flüchtlinge die Verbindung zwischen Abstammung und Nationalität, Mensch und Bürger (Agamben 2002, 140). Durch die nie dagewesene Zahl an Flüchtlingen weltweit gibt es nun allerdings immer mehr Menschen, die nicht länger in einer Nation repräsentiert sind und die somit die Prinzipien des Nationalstaates auf eine nie da gewesene Weise in Frage stellen. Angesichts dieser Bedrohung versuchen die territorial umgrenzten Staaten durch permanente Kontrolle der räumlichen Bewegung der Flüchtlinge den Souverän und seine Repräsentation, d.h. sich selbst zu retten.

 

Judith Butler geht in ihrer Interpretation noch einen Schritt weiter: Ihrer Auffassung nach stellt sich eine Regierung durch solche Handlungsweisen in einen Gegensatz zum Staat, indem das Recht zurückgenommen und eine zeitgenössische Version der Souveränität erzeugt wird; bzw. wird durch einen performativen Akt der Aufhebung des Rechts Souveränität im Feld der Gouvernementalität neu belebt. Die Bestimmungen der gouvernementalen Macht wirken nicht aufgrund geltenden Rechts oder einer bestimmten Legitimationsweise, sondern allein aus dem Ermessen ihrer Vertreter, aus den Subjekten der Verwaltungsmacht heraus, die die Prärogative der Rechtsanwendung von der Judikative an sich gezogen haben (Butler 2005, 81, 83f. & 116).

Über die Ermessensspielräume entstehen unzählige Souveräne innerhalb der Sphäre der Gouvernementalität, die außer der performativen Macht ihrer eigenen Entscheidungen niemandem verpflichtet sind. Die Gouvernementalität erzeugt eine gesetzlose Souveränität als Teil der Funktionsweise ihrer Macht. Menschen, auf die sich die Ermessensurteile beziehen, werden derealisiert.

Recht wird in diesen Ermessensurteilen außerdem nur als Taktik eingesetzt; Wirksamkeit erhält einen größeren Stellenwert als Legitimität. Die Sprechakte der Gouvernementalität klingen formal und widersetzen sich dem Recht gleichzeitig, da es zu einem Instrumentarium des Staates degradiert oder im Interesse der Exekutivfunktion des Staates außer Kraft gesetzt wird. Recht wird zum bloßen Instrumentarium der Macht, das nach Belieben angewandt und aufgehoben werden kann (Kohl 2016, 202f.).

Ein gutes Beispiel hierfür ist wiederum die Debatte um die Einrichtung von Transitzentren. Hier werden bilaterale Abkommen über Grenzregimes geschlossen, deren Rechtmäßigkeit unklar ist. Um diese geplanten Transitzentren zu rechtfertigen, hantiert man außerdem und vor allem mit dem rechtlichen Konstrukt der Fiktion bzw. der „fiktiven Nichteinreise“ – das ist zwar keine neue Regelung,6 auch wenn es jetzt so scheint, dennoch muss jetzt der Blick darauf gelenkt werden.

Damit geflüchtete Menschen keinen Asylantrag in Deutschland stellen können, wird eine rechtliche Konstruktion genutzt: die Fiktion der Nichteinreise. Dabei handelt es sich um die normative Annahme eines Sachverhalts als wahr, der in Wirklichkeit nicht besteht.

Konkret bedeutet das: Obwohl sich der jeweilige Asylbewerber auf deutschem Staatsgebiet befindet, wird die Einreise rechtlich nicht anerkannt. Grundlage dafür ist das Aufenthaltsgesetz. In Paragraf 13 Abschnitt 2 heißt es: „An einer zugelassenen Grenzübergangsstelle ist ein Ausländer erst eingereist, wenn er die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert hat. Lassen die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden einen Ausländer vor der Entscheidung über die Zurückweisung (§ 15 dieses Gesetzes, §§ 18, 18a des Asylgesetzes) oder während der Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung dieser Maßnahme die Grenzübergangsstelle zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck passieren, so liegt keine Einreise im Sinne des Satzes 1 vor, solange ihnen eine Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers möglich bleibt.“

Konkret bedeutet das dann, dass geflüchtete Menschen, auch wenn sie sich auf deutschem Boden befinden, der rechtlichen Fiktion unterworfen werden, nicht nach Deutschland eingereist zu sein. So werden Menschen zu „Inkludierten Exkludierten“, eingeschlossen Ausgeschlossenen. Dadurch, dass sie der Aufsicht der Polizei, also der Exekutive, unterstellt werden, soll die Kontrolle von Bewegung erreicht werden. Damit werden Menschen, die kein Verbrechen begangen haben, vorsätzlich in ihrem Menschenrecht auf Freizügigkeit verletzt.7

Damit wird diese Fiktion der Nichteinreise auch im Widerspruch zur bisherigen Rechtstradition angewandt, da Fiktionen bisher die Aufgabe haben, die Position eines Schwächeren zu stärken. So bspw. im Erbrecht, wo ein ungeborenes Kind als bereits geboren gilt, wenn es gezeugt war. Durch diesen Ausschluss liegt eine beinahe unmögliche Situation vor: Die Menschen, die von diesen gouvernementalen Handlungen betroffen sind, werden in einem Status extremer Verletzbarkeit gefangen, da für sie das Recht außer Kraft gesetzt wird. Sie fallen durch das Muster der rechtlichen und sozialen Anerkennung und können somit nicht mehr als Subjekte bezeichnet werden. Vielmehr handelt es sich bei ihnen fortan um „nichtautorisierte Vor-Subjekte“ (Butler 1994, 46): Subjekte, die keine sind, die weder lebendig noch tot sind, deren Menschlichkeit verdeckt wird und die deswegen keinen Anspruch auf Rechte haben (Butler 2005, 154ff.).

3. Kreativität und Resilienz: Trauer als politische Kraft

Interessant ist, dass Judith Butler in diesem Status extremer Verletzbarkeit, in dieser extremen Missachtung von menschlichen Anerkennungsbedürfnissen bspw. gegenüber Geflüchteten gleichzeitig den Schlüssel für die Wiederherstellung von Menschlichkeit, für die Wiederherstellung von Anerkennung findet.

Zunächst macht sie klar – und das kann hier nur skizzenhaft dargestellt werden –, dass Verletzbarkeit ein Kennzeichen allen Lebens ist. Butler fragt allerdings über diese Feststellung hinaus, wie diese Tatsache der theoretischen Verletzbarkeit aller Menschen, und viel wichtiger, der praktischen Verletzung von konkreten Menschen, ethisch wirksam gemacht werden kann, (Butler & Villa 2012, 131) wie also aus der Verletzungserfahrung so etwas wie ein kreativer Umgang und letztendlich Resilienz hervorgehen kann. Die Verletzbarkeit von Menschen, „[d]as Gefährdetsein sollte in der Tat als gemeinsame Bedingung menschlichen Lebens (ja, als gemeinsame Bedingung, der menschliche und nicht-menschliche Tiere gleichermaßen und gemeinsam unterliegen) erkannt werden, aber wir dürfen nicht davon ausgehen, dass mit dieser Einsicht das als gefährdet Erkannte schon gemeistert, erfasst oder auch nur vollständig wahrgenommen würde“ (Butler 2012, 20f.).

Sie zieht daraus den Schluss, dass aus der beschriebenen verletzungsoffenen und verletzungsmächtigen Verfasstheit des Menschen eine Trauer folgt, die in der Akzeptanz der Tatsache besteht, dass Menschen durch Verletzungen und Verluste verändert werden, und zwar in einer Weise, deren Ergebnis man nicht im Voraus kennt. Wichtig ist hierbei ihre Unterscheidung zwischen Melancholie und Trauer. Melancholie entsteht dann, wenn eine psychisch wirksame Verletzung, oder ein psychisch wirksamer Verlust nicht gewusst wird und einer Person deshalb unbekannt bleibt. Somit bleibt dieser Verlust gleichzeitig, wenngleich psychisch gesperrt, virulent, da er nicht betrauert werden kann (Butler 2013, 125ff.; Emcke 2016, 102).

Nur wenn Personen Andere als in gleichem Maße menschlich wie sich selbst erkennen und anerkennen, kann die Verletzung dieser Anderen als zu betrauerndes Geschehen begriffen und anerkannt werden. Dann wirkt sich die Trauer als Ergebnis einer Verletzungserfahrung nicht privatisierend aus, sondern im Gegenteil vergemeinschaftend, als politische Kraft, da sie dazu führt, dass Menschen ihre Beziehungsbande zum Vorschein bringen (Butler 2005, 39ff.). Hieraus resultiert für Butler die Frage, ob Menschen neben ihrer Autonomie nicht für etwas weiteres, anderes eintreten und kämpfen müssten, für eine Vorstellung ihrer selbst nämlich, „als unweigerlich in Gemeinschaft eingebunden, als von anderen beeinflusst und umgekehrt auch andere beeinflussend, und dies in Formen, die ich nicht vollständig steuern oder klar vorhersagen kann“ (Butler 2005, 44).

Und das ist ja genau der Punkt, den wir in der Debatte um geflüchtete Menschen begreifen müssen. Wir sind in Europa eben nicht allein, sondern verursachen bspw. durch unser Verhalten, unseren Konsum die Fluchtgründe für Menschen in anderen Ländern. Und: Migration ist ein Risiko, da ich ihre Auswirkungen nicht vollständig absehen, steuern und vorhersagen kann. Migration in einem Ausmaß, wie sie momentan stattfindet, wird ganz sicher mein Leben verändern. Aber das ist kein Argument dafür, das Mobilitätsrecht anderer Menschen einzuschränken. Vielmehr werde ich mir dadurch eben meiner eigenen Verletzbarkeit bewusst, die ich nicht höher bewerten kann als die anderer Menschen, sprich der Geflüchteten.

Es stellt sich die Frage, ob man dieser Verletzbarkeit und dem dadurch entstehenden Schmerz und der Trauer etwas anderes als (Gegen)Gewalt entgegensetzen kann? Judith Butler sieht in diesem Zusammenhang in der Trauer, im Ausharren mit dem Schmerz, in einer Ethik der absoluten Gewaltlosigkeit einen wesentlichen Punkt, indem die Trauer zur Ressource für Politik wird: „Vielleicht würden wir dann die Bedingungen, unter denen bestimmte Menschenleben verletzbarer sind als andere und demzufolge auch betrauernswerter, kritischer beurteilen und ablehnen. Woher sonst sollte ein Grundsatz kommen, mit dem wir geloben, andere vor solcher Gewalt zu schützen, wie wir sie erlitten haben, wenn nicht aus dem Verständnis einer allen gemeinsamen Verletzbarkeit?“ (Butler 2005, 47). Somit stellt die Trauer eine motivationale Ressource für die Anerkennung des Anderen in seiner Verletzbarkeit dar. Eine gemeinsame Vorstellung vom Menschen kann also in seiner Verletzbarkeit liegen. Diese Verletzbarkeit entsteht nach Butler, obwohl ihre Quelle nicht auszumachen ist, mit dem Leben selbst, sie ist eine Bedingung und Voraussetzung des Lebens und geht der Ausbildung des Ichs voraus (Butler 2005, 48). Verletzungserfahrungen bieten die Gelegenheit, über Verletzungen, deren Mechanismen, deren Folgen und deren Abwendung nachzudenken und sich letztendlich eine Welt vorzustellen, in der solche Gewalt minimiert werden könnte und in der gleichzeitig „eine unausweichliche wechselseitige Abhängigkeit als Basis für die politische Weltgesellschaft anerkannt“ ist (Butler 2005, 8).

4. Verletzbarkeit als Chance zur Resignifikation

Verallgemeinert kann man sagen, dass allen Menschen die Erfahrung von Verlust gemeinsam ist, dass alle Menschen aufgrund der verwundbaren Verfasstheit ihrer Körper insofern politisch sind, als dass wir an andere gebunden sind, ihnen gegenüber ungeschützt und aufgrund dieser Ungeschütztheit durch Gewalt gefährdet sind (Butler 2005, 36f.). Hieraus resultiert bei Butler der Imperativ das Gefährdetsein, der quasi normative Impuls, die Verletzbarkeit des Menschlichen überhaupt wahrzunehmen (Lévinas 2011).

Unter dem Titel „Resignifizierung“ führt Butler nun einen performativen Prozess in ihre Konzeption ein, der eine Möglichkeit bietet, der Macht von verletzenden Akten und verletzenden sprachlichen Äußerungen mit Sprache selber entgegenzutreten. Die Veränderung von Ordnungen ist demnach nur aus dem Diskurssystem einer Gesellschaft selbst heraus möglich. Der Strukturzusammenhang des Diskurses birgt selber eine Dynamik, die eine identische Reproduktion eben dieses Strukturzusammenhangs verunmöglicht (Butler & Meißner 2012, 34f). Das bedeutet: Dadurch, dass verletzendes Sprechen in bestimmte Kontexte eingebunden ist, wird es im eigenen Diskurs zum Zitat und führt somit zum Bruch mit seinem früheren Kontext bzw. erhält einen neuen Kontext, für den es ursprünglich nicht bestimmt war. So kann bspw. rassistische Sprache als Teil eines Unterrichtscurriculums nur thematisiert werden, wenn dabei auch konkrete Beispiele verletzender, rassistischer Sprache angeführt werden – verbunden mit der Gefahr, dadurch auch schwierige Erregungen wachzurufen. Andererseits besteht aber durch diese Zitation bzw. Rezirkulation der verletzenden Rede in einem anderen Diskurs die Möglichkeit und Chance der Resignifizierung.

Zum Schluss ein kurzer Blick zurück zu den eingangs erwähnten Narrativen über geflüchtet Menschen. Keine Gesellschaft, kein Mensch kommt ohne Narrative, ohne Erzählungen aus. Es muss aber darum gehen, nicht fixierende, sondern öffnende bzw. offenhaltende Narrative zu entwickeln und zu erzählen.

1 So bspw. der kanadische Premierminister Justin Trudeau in einer Rede in London am 26.11.2015. https://pm.gc.ca/eng/news/2015/11/26/diversity-canadas-strength [letzter Aufruf: 07.04.2019].

 

2 Chris Cannon, Brian Calvert, America, but better: The Canada Party Manifesto, Vancouver, Toronto, Berkeley 2012.

3 Ganz zu schweigen von der systemischen und teils drastischen Diskriminierung der indigenen Bevölkerungsteile. Vgl. hierzu den Jahresbericht 2017/2018 von Amnesty International: https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/kanada#section-3517771 [letzter Aufruf: 07.04.2019].

4 Vgl. hierzu auch Michael Hardt, Antonio Negri, Assembly. Die neue demokratische Ordnung, Frankfurt/New York 2018, insbesondere Kapitel 1-3.

5 So der CSU-Politiker und Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-07/asylpolitik-cdu-csu-verteidigentransitzentren [letzter Aufruf: 07.04.2019].

6 Vgl. Aufenthaltsgesetz § 13 Abs. 2 Satz 2.

7 Art. 13 AEMR: (1) Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. (2) Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.

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