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Kapitel zwei

I

Große Lastwagen, besetzt mit Sturmtrupps, kamen zum Lager gefahren. Ihr Schreien, ihre schweren, rohen Stimmen, drangen bis in die Baracke. Jemand in einer Ecke stellte resigniert fest: Jetzt sind sie da! Die Tür wurde aufgerissen. Der Gestapo-Chef Langenkämpfer1 blieb auf der Schwelle stehen. Es wurde still, als wären alle von geheimer Zauberhand erstarrt.

Er machte es kurz:

In fünf Minuten muss alles bereit zum Abmarsch sein! Ihr kommt in ein anderes, gut eingerichtetes Lager. Decken können mitgenommen werden. Habt ihr das alle verstanden?

Eine Anzahl Stimmen aus den Ecken antwortete aus unterwürfiger Gewohnheit:

Jawohl!

Der größte Teil der Baracke blieb aber in tiefes Schweigen versunken. Niemand glaubte mehr den Reden einer deutschen Uniform. Aber einen Rat wusste man auch nicht. Man muss sich schnell für den Weg vorbereiten. Jeder will den letzten Gedanken an Widerstand damit abtöten, dass er ein Bröckchen Hoffnung in die Herzen wirft. Und vielleicht will die Gestapo genau das? Langenkämpfer geht hinaus. Hektisch verteilt die Menge sich über die riesige Baracke. An allen Betten stehen aufgerissene Kästchen voller Armseligkeit, die man von Ghetto zu Ghetto, von Lager zu Lager geschleppt hatte. Jetzt liegen die zerdrückten Sachen da und sorgen sich, dass sie bald verwaist zurückgelassen werden. Die Decken auf den Betten sind unordentlich aufgerollt, als ob sie sich vor Schmerzen krümmten. Die strohernen Kissen fallen mit stimmlosem Rascheln herab, jedem Einzelnen zu Füßen, und bitten um Mitleid. Fiebernde Hände beginnen zu packen, man packt und weiß doch nicht, was. Man hebt etwas auf und steckt es in den Sack; dann wirft man es wieder hinaus; man nimmt es wieder in die Hände. Das alles geschieht noch dazu in knapp bemessenen Sekunden.

Die Wachen hinter den Fenstern werden spärlicher. Unser Fenster geht hinaus auf die gegenüberliegenden militärischen Kasernen. Deshalb ist hier eine starke Wache nicht so nötig.

Der kleine Josef-Ozer steht die ganze Zeit und schaut durch das Fenster. Der Kasernenhof ist jetzt leer. Hohe Heuhaufen türmen sich auf, Futter für die Militärpferde. Der Kleine beißt mit den Zähnen in die geballte Faust. Irgendetwas ruft ihn dort in einer Sprache, die nur ihm verständlich ist. Auch ich stehe und gucke hinaus durch das Fenster. So nehme ich Abschied von meiner Stadt. Der Kleine sieht mich und flüstert mir still zu: Ich hau ab! Ich will ihm nichts entgegnen. Sein Gesicht sieht nicht im Mindesten jüdisch aus. Wer weiß? Vielleicht kann es ihm gelingen. Das Herz lechzt nach etwas Aufregendem, das geschehen soll. Während man selbst wie gelähmt ist, wünscht es doch risikofreudig, dass zumindest jemand anders etwas tun soll, wenigstens einer. Der Kleine hat unterdessen ganz ruhig den untersten Luftschlitz des Fensters geöffnet. Im großen Lärm bemerkt es niemand. Er steckt den Kopf in das offene Loch und zwängt den Körper vorsichtig ein Stück hindurch, dann noch ein Stück. Beim Bauch wird es schwierig. Dafür zieht aber dann das Übergewicht den unteren Teil des Körpers schnell hinunter. Man hört einen harten Fall. Einen Moment reißt sich etwas los von meinem Herzen. Des Jungen katzengleiche Dreistigkeit hat mich in ihren Bann gezogen. Ich denke nicht mehr an mich. Das eigene Leben ist bereits wie aufgegeben und es gibt nichts mehr, worüber nachzudenken wäre. Hier dagegen, hier hat sich jemand auf den Wettkampf eingelassen, und alle meine Sinne beschäftigen sich mit ihm, geradeso, als ob mir hier gar nichts drohen würde. Ich fiebere vor Ungeduld und Neugier, als hätte ein Teil von mir sich mit dem Jungen losgerissen. Ich zittere: Hört nicht womöglich jemand von der Wache den Fall? Ich erwarte einen Schuss. Stille. Dann erscheint der Kleine auf dem Drahtzaun, und schon ist er im Kasernenhof. Und immer noch nichts.

Eine Vielzahl von Augen folgt inzwischen gebannt dem Spiel. Der Kleine, der sich jetzt bereits im Hof befand, hob spielerisch grüßend die Hand, gerade als ob er irgendwo einen Spaziergang machte, als ob er gespürt hatte, dass man ihn von der Baracke aus beobachtete − und verschwand.

Alle waren wie versteinert: Heißt das, man hätte sogar jetzt noch fliehen können? Einfach so? Über den Zaun in die Kaserne, sich irgendwo bis zur Nacht verstecken und am Abend über den Zaun springen, in eine abgelegene Gasse? Neid griff um sich auf den Jüngsten und einzig Kühnen, der es gewagt hatte. Dabei fühlte aber jeder irgendwie eine innere Befriedigung darüber, dass niemand bemerkt hatte, wie der Kleine sich hinausgestohlen hatte. Geradeso, als wäre er jedermanns Botschafter. Jeder Einzelne wurde mitgerissen von der einen Sorge:

Oh weh, man soll ihn bloß nicht schnappen!

Bald ging ein schweigender Wächter unter dem Fenster durch, der keine blasse Ahnung davon hatte, was hier vor einigen Sekunden passiert war.

II

Die ersten Schläge mit Gewehrkolben rissen die Menschen aus ihrer Verwunderung. Alle drängten in Panik zur Tür. Aus der Frauenbaracke klang lautes Weinen herüber. Von beiden Seiten drängten die Menschen in den Hof hinein. Einer fiel über den anderen, Männer über Frauen, und man spürte nicht einmal, wann man fiel und wann man wieder aufstand. Die ineinander verflochtene Menge wurde von schwarzuniformierten Volksdeutschen tiefer in den Hof hineingedrängt. Dort begann man, mit Hilfe von Gummischläuchen gerade Reihen aufzustellen.

So wie die Panik noch vor ein paar Minuten die Menge aufgewirbelt hatte, entfaltete sie jetzt eine suggestive Wirkung in entgegengesetzter Richtung. Sie tötete in jedem den unbändigen Drang zu laufen, zu ungezügelter Bewegung. Der Schreck stellte die Menschen auf wie gespannte Saiten und formte aus ihnen gerade Fünfer-Reihen. Der jüdische »Lagerkommandant« kam mit seinen Gehilfen gelaufen. Er war erschrocken, und doch fühlte er sich etwas dreister. Er ging mit untertänigem Lächeln zu seinem Oberscharführer:

Muss ich mich auch in die Reihe stellen, mit all den anderen?

Jener aber kannte ihn bereits nicht mehr. Sein Blick schaute über ihn hinweg, irgendwo in die Ferne. Er gähnte nur träge in seiner frühmorgendlichen Schläfrigkeit und brummte mit einem langen Gähnen:

Natürlich!

Der Kommandant wollte noch etwas sagen, etwas erklären, aber eine feste Hand griff ihn und stieß ihn in die Reihe. Es war nichts zu machen. Jemand in der Reihe wollte sich selbst einreden:

Es könnte doch sein, dass es bloß ein allgemeiner Appell ist, und gut möglich, dass man vielleicht nur einen Teil raussuchen will, die Schwächeren?

»Die Schwächeren«, ein Begriff, der schon immer den Kampfeswillen in den kräftigsten jüdischen Muskeln abtötete. Doch die Zeit ließ kein langes Nachdenken zu. Die SS-Männer auf den Lastautos langweilten sich. Von dort kamen ständig Schreie:

Schneller da! Schneller mit der Schweinebande!

Und wieder begann das Treiben. Dieses Mal durch das Tor auf die Rampe hinauf.

Das Beladen der Lastwagen ging schnell. Zuerst besetzte man die Wagen dicht an dicht, dann warf man die Letzten hinauf über die Köpfe der anderen. Man wurde hineingepresst und einer verflocht sich mit dem nächsten. Es war nicht möglich, sich aufzurichten oder einen Fuß zu bewegen. Man musste mit gekrümmtem Rücken dasitzen und auf dem Buckel diejenigen tragen, die sich nicht in das Gedränge hineinquetschen konnten. Jemand wollte sich aus einer Ecke heraus aufrichten, um sein eingeschlafenes Bein unter einem anderen hervorzuziehen. Doch ein Schlag von der Seite ließ bei ihm das Blut fließen und ihn in einer erstarrten Position sitzen bleiben.

Als letzte sprangen die SS-Leute auf. Sie traten mit den Stiefeln über die Köpfe und schlugen sich durch bis zum Dach des Busses. Fünf Begleiter auf jedem Auto wachten über die Bewegungen. Als ob es möglich gewesen wäre, sich aus diesem zusammengepressten Gemenge menschlicher Gliedmaßen herauszureißen.

Schon sind die Frauen auf den letzten Wagen verladen. Ein paar Wachmänner springen zufrieden auf den Wagen hinauf und amüsieren sich reitend und Stiefeltritte austeilend auf den gekrümmten zarten Frauenrücken. Unsere nächtlichen Wächter und die uniformierten Volksdeutschen bleiben am Tor stehen. Auf ihren Gesichtern ist freudige Ungeduld zu erkennen. Sie wissen, dass die Juden allerlei Sachen und Gold versteckt haben. Sie warten nur auf die Gelegenheit, dass man ihnen erlaubt, wieder hineinzugehen und das Lager zu durchsuchen. Dem Chef des Transports ist die ganze Sache schon zuwider. Er beeilt sich, er will nicht einmal hören, was der Oberwachmann ihm auseinandersetzen will. Der will ihn, so sieht es aus, davon überzeugen, dass noch etliche fehlten und man deshalb so lange suchen müsse, bis man sie gefunden habe. Der Transportchef will aber nichts davon hören. Er schreit nervös auf den Oberwachmann ein. Abgerissene Satzfetzen gelangen bis zu uns:

Erschießen … und fertig!

Es kommt das Zeichen für die Fahrer. Die Autos lösen sich erschrocken von der Stelle, wie aus tiefem Schlaf aufgeschreckt. Die Wachmänner am Tor verabschieden uns spöttisch:

He, Jiddelech! Führt euch dort ordentlich auf, in Majdanek!

Ein feuriger Blitz zuckt durch unsere Adern:

Majdanek! … Majdanek!

III

Die Autos bewegten sich schnell über den glatten Asphalt der Lubliner Landstraße. Es war ein wunderschöner Vorabend des Schawuotfestes.2 Die Sonne hatte sich herausgeputzt wie eine junge Braut mit golden strahlender Brosche und neckte spielerisch die jungen, aufgeregten Gräser an den Wegen. Ein milder Wind schmiegte sich verliebt an ihre Füße und schüttelte eifersüchtig die Köpfchen der Grashalme, die die Liebkosungen der Sonne genossen. Da und dort hob sich ein Kopf, wollten Augen, nur für eine Minute, ein Bad in der grünen Weiträumigkeit nehmen und vom lächelnden Spiel der Natur naschen. Ein Hagel aus Schlägen erstickte aber dieses letzte Aufwallen und trieb die Köpfe wieder hinunter. Der Motor rauschte und schleuderte zornig Wolken von Rauch hervor, so dass der erschrockene Staub über die Wege zerstob. Alle, die noch atmeten, schwiegen und sogen den Autolärm in sich auf. Die Schwächeren fingen an zu keuchen vor Atemnot. Ein Arm riss sich in hilfloser Unbedachtheit aus der Umklammerung in die Höhe, um eine bessere Lage zu finden. Der Ärmel rutschte hoch und etwas Rundes blitzte in der Sonne auf.

Der rothaarige Wachmann gegenüber bemerkte etwas. In seinen versteinerten gelblichen Augen funkelte ein tanzendes Flämmchen auf. Er sprang vom Dach der Fahrerkabine und streckte sich über die gebeugten Köpfe. Er war ganz erhitzt vor Zorn und Begehren:

Wer hat da eine Uhr, wer?

Alle schwiegen. Die anderen Begleiter kamen ihm zu Hilfe. Sie schlugen die Köpfe und fluchten zeternd. Sie konnten aber nichts feststellen. Alle Körper waren so zusammengepresst, dass eine Kontrolle nicht möglich war.

Der Rotschopf brannte vor Zorn. Seine flammenden Haare röteten sich zusammen mit seinem zornigen Gesicht. Er bewegte sich über die Köpfe, von einem zum anderen, seine Hände tasteten über Rücken, auf der Suche nach etwas. Seine Finger tauchten in die Tiefe von jemandes Tasche hinein und zogen von dort ein verknotetes, schmutziges Tuch heraus. Er wickelte es auseinander und holte zwei 500er Scheine heraus. Einer seiner Kameraden warf einen neidischen Blick auf das Glück des Rothaarigen und stimmte ein Geheul an:

Was? Ihr habt Geld bei euch? Ihr Teufelsbrut! Wofür braucht ihr das alles, was ihr dabei habt? Man bringt euch doch nach Majdanek.

Die Leute aber, als ob sie sich durch eine geheime Körpersprache lautlos abgesprochen hätten, schwiegen. Und selbst wenn jemandem die Schläge so verleidet gewesen wären, dass er in Gedanken bereit wäre, alles herzugeben, um den wüsten Schlägen ein Ende zu bereiten, wäre es ihm gar nicht möglich gewesen, einen Arm aus dem Gedränge herauszuziehen. Es verspürte auch niemand Lust, auch nur das kleinste Wort durch die eingetrocknete Kehle herauszulassen. Insbesondere die Gliedmaßen der Nachbarn drum herum schrien sich durch die verschwitzte Wärme des Blutes zu: Schweig! Sei still!

Alle ertrugen mit eigenartiger Geduld die Schläge und das Geschrei.

Aus der Ferne tanzte uns inzwischen ein Netzwerk aus Drähten entgegen. Die Autos gaben ein schweres Krächzen von sich und blieben stehen. Schwarze Schilder mit knöchernen Totenköpfen kündeten am Tor, dass sich hier das Reich des Todes öffnete.

Kapitel drei

I

Vom Konzentrationslager Majdanek hörte ich schon vor Monaten. Schon zu der Zeit, als dort das provisorische Ghetto der Lubliner Juden war. Später gingen in allen Lagern entsetzliche Gerüchte um, was in Majdanek geschah. Es sei kein »normales« Tötungslager − vor so etwas erschrak man schon gar nicht mehr − sondern etwas, das noch mehr war als Tod, noch mehr als Folter. Und was man von denen hörte, denen es gelungen war, von dort zu entkommen, überstieg in der Tat alle Vorstellungen. In den Gesprächen, die wir im Lager unter uns führten, waren wir uns deshalb immer einig, dass wir uns nicht lebendig nach Majdanek bringen lassen würden. Wenn es mir beim ersten Mal, vor 16 Monaten, auch gelang zu fliehen (davon an anderer Stelle), so war ich diesmal hilflos und psychisch am Boden. Die erstbeste Bewegung hätte im jetzigen Augenblick im Übrigen den sicheren Tod bedeutet. Es blieb nur abzuwarten, was die Zeit bringen würde. Ich bemühte mich, kühl und vernünftig zu bleiben. Man musste jede Minute sorgfältig abschätzen. Die Möglichkeiten jeder Chance tiefer ausloten und erkennen, wann man eine günstige halbe Sekunde ausnutzen kann. Wachsamkeit!, schrie der disziplinierte Lebensinstinkt jedem einzelnen Glied zu. Das war der einzige eigene Befehl, dem man noch gehorchen konnte.

Die Autos hielten auf einem Berg an. Man konnte sehen, wie es dort weiter vorn, in der Niederung, zwischen den verschiedenen Drahtnetzen vor Menschen wimmelte. Sie führten und schleppten verschiedene Lasten und Gepäckkarren auf schmalen, eisernen Schienen bergauf. Der erste Gedanke, der einem in den Kopf kam, war:

Menschen leben hier ja! Man arbeitet!

Die Erfahrung der Jahre in den Lagern hat bewiesen, dass das Arbeiten unter schwersten Bedingungen auch gewisse Chancen mit sich bringt zu leben. Leben! Das man doch so sehr begehrte. Teuer war doch jedes Stückchen freie Luft, jeder Schritt auf nicht stolpernden Füßen. Niemals hätte man doch vermutet, wie viele geheime Genüsse in jeder Sekunde des Lebens verborgen liegen. Es gab Minuten, Stunden und Tage aus Furcht und Wahnsinn, in denen du erstarren wolltest, um gar nichts mehr zu fühlen. Oftmals standest du tagelang mit gebeugtem Rücken und schmerzenden Gliedern und wartetest, dass jemand dir den Tod brächte. Dann aber richtetest du dich für ein paar Minuten auf und du spürtest, wie viel Glück in einem Atemzug reiner Luft liegt, wie viel süße Kraft ein aufrechter Schritt geben kann. Eine Stunde ruhig und ausgestreckt auf einem harten, verführerischen Bett liegen − und du fühltest, wie das Leben dich in einen geheimnisvollen Raum führte, sich vor dir entblößte und dir die Reize zeigte, die in jedem Fingerchen verborgen lagen.

Ein Bissen Brot nach einem langen Hungertag bewies dir, welcher Lebensreichtum und welche Labsal in jedem Gegenstand stecken, der im Leben in Freiheit gar nicht wahrgenommen wird. Leben!, dachtest du, unbedingt leben! Denn jetzt weißt du schon, wie man jede Minute nutzen kann, dieses wunderliche Elixier aus dem kleinsten Brocken zu ziehen. Ein Leben in Freiheit? Wer kann es denn verstehen? Wer hat denn eine Ahnung, wie das zu genießen ist?

So sehr man auch schon verkümmert war, fühlte man doch, wie stark man mit dem Leben verbunden war, wenn man die letzten Minuten vor Augen hatte. Noch fünf Minuten leben, dachtest du oft, und in jeder Sekunde konntest du die Weiträumigkeit der Umgebung einsaugen, konntest den Himmel, ein Haus, einen rosafarbenen Stein sehen. Jeder deiner Sinne begriff erst damals, wie schrecklich groß das Glück ist, das in den Falten jeden Augenblicks vibriert.

Das Leben unter den schauderhaftesten Sklavenbedingungen konnte nie gänzlich verabscheuungswürdig werden, denn umso mehr der Tag dich peinigte, desto größer wurde das Glück der Stunde Ruhe in der Nacht, desto mehr gab dir die halbe Stunde, in der du dich in einen Winkel setzen konntest, an nichts mehr denken musstest und von niemandem gestört wurdest.

Der schwerste Tag von Pein wurde versüßt, wurde berauscht und trunken gemacht durch den bloßen Gedanken, dass zur Nacht, aber ja, zur Nacht, du ein Stückchen Brot bekämest. Deine Fantasie stellte sich vor, wie du es ruhig kauen würdest, bröckchenweise. Wie jeder Bissen sich gesondert in unruhiger Freude auf alle Glieder verteilen würde. Und später, viel später würdest du deinen müden Körper in deine Ecke schleppen, dich hinaufziehen auf ein hartes Bett, um dich herum würde es dunkel sein und niemandes Blick dich schrecken können. Deshalb wirst du deine Beine frei ausstrecken, deine Arme auf die Seite legen, wohin du willst, und alle Glieder werden in Tränen ausbrechen über das stundenlange Vergnügen und du …

Wer sollte denn nicht erzittern beim Erkennen einer halben Chance auf Hundert, weiterleben zu können. Weitere ganze Tage gebrochen zu sein, doch auch in diesem Gebrochensein, in diesem Sich-Ducken das Entzücken des Wartens zu spüren und sich bewusst zu sein, dass du dich mit jeder Minute jener glückseligen Stunde näherst, in der du den Mund öffnen wirst und ein frischer Luftstrom sich in dich hineindrängen wird.

Ein kleiner Brocken Hoffnung war in der Lage, dich zu verzaubern, die ganze Seele umzukrempeln. Ein Hauch mehr Bequemlichkeit lockte mit so vielen Versprechungen, liebkoste das Blut so wohlig, dass man oft bereit war, mehr zu geben als man besaß, um noch eine Minute, noch einen Augenblick Leben zu bekommen. Nur Leben? Nein! Es war mehr als das, was die gewöhnlichen Sinne unter diesem Wort verstehen.

Deshalb sollte man versuchen, zu verstehen, was dieser kleine wiederaufglimmende Docht Hoffnung vor den Toren von Majdanek bedeutete.

Schon allein der Marsch bis zum Tor, als Beine und Rücken sich wieder strecken konnten, als der Körper nicht mehr zwischen anderen Körpern eingeklemmt war, als man wieder dahinschreiten konnte, bewies, wie viel Wunderbares jeder Moment in seinem Schoße trägt, von welcher Gnade du in vollem Maße schöpfen kannst. Wen störte es denn, dass an deiner Seite bewaffnete Uniformen liefen und dir deine Schritte bemaßen, wenn du spürtest, dass in dieser minutenlangen gestreckten Haltung jeder Schritt in dir sang.

Ein Tor nach dem anderen öffnete sich. Schlammige Adern zogen sich in alle Richtungen. Ein Meer von Drahtzäunen grenzte Luft von Luft ab und unterteilte die Welt in große viereckige Kästen. Überall standen Baracken und schauten mit den Augen ihrer kleinen Fenster sehnsüchtig durch die Drähte. Keine Menschenseele war zu sehen und es hatte den Anschein, als habe man hier leere Baracken eingesperrt.

Man begann, uns durch krumme, abgeschirmte Wege zu treiben. Alle paar Minuten öffnete sich eine Drahttür und schloss sich wieder. An allen Seiten standen verschiedene Gebäude und warnten mit erschrockenem Ton leise durch ihre Wände flüsternd. Schließlich sahen wir einen riesengroßen nackten Platz. Tausende erschrockener Menschen lagen dort haufenweise, ausgestreckt auf der Erde oder liefen verzweifelt umher von einem Ort zum anderen. Bis zur Tür gingen wir mit ruhigen, geordneten Schritten. Aber als die Tür sich öffnete, wurden wir hineingestoßen ins Chaos und verschmolzen mit dem menschlichen Ameisenhaufen. Ein Blick zurück machte uns schnell klar:

Wir sind eingesperrt!

II

Die Frauen hinter uns teilte man gesondert ab. Für sie gab es einen speziellen Sammelpunkt. Mehr als nur eine Frau hatte ihren Mann in den vorderen Reihen, einen Geliebten aus Lagerzeiten, oder einfach das einzige vertraute Gesicht, das ihr noch von früher geblieben war. Als sie die letzte Minute der Trennung kommen sahen, rissen sie sich wild schreiend aus den Reihen los und warfen sich zu Boden. Die Männer spürten instinktiv, wer da schreit und versuchten mit all ihren schlummernden Kräften zurückzubleiben, um nicht auf den leeren, abgeteilten Platz gestoßen zu werden. Zig Frauen mit zerschlagenen, blutigen Gesichtern und zerzausten Haaren kämpften sich zu ihren Männern durch und umklammerten sie, sie versanken noch einmal im anderen, als glaubten sie, dass noch ein Wunder geschehen könne und sie so zusammenwachsen würden, dass keine Macht sie mehr trennen könne. Die wenigen Kinder, die es geschafft hatten, bis jetzt im Lager zu überleben, stolperten hinter ihren Müttern her und hielten sich stumm und erschrocken an ihren Kleidern fest. Die SS aber ging schnell dazwischen und schlug auf ihre Köpfe ein, bis das Unglaubliche geschah und die Körper sich voneinander lösten. Die Menschen waren schon nicht mehr bei Sinnen, nur die Schläge zeigten ihnen, in welche Richtung sie sich zu bewegen hatten. Bald bildeten sich zwei riesige, formlose Gruppen, die aussahen wie ein mächtiger, zweigeteilter Organismus.

Auf dem Platz, wo wir uns befanden, waren schon Tausende zusammengetriebener Juden. Sie lagerten müde und schauten mit getrübtem Blick in den Himmel. Eine kleine Gruppe war noch gesprächig und aktiv. Von ihnen erfuhren wir, dass es bis vor einigen Tagen noch Juden in der Gegend um Międzyrzec und Biała und im Siedlcer Kreis gegeben hatte. Vor drei Tagen hatte man sie in der ganzen Gegend eingesammelt, hierher gebracht und auf diesen Platz geführt. Auch bei ihnen hatte man die Frauen abgesondert. Und so warteten sie schon den dritten Tag. Sie erfuhren, dass dies ein besonderer Fall sei, denn gewöhnlich wurde man hier schnell ins »Bad« geführt. Aber genau in dieser Woche war ein größerer Transport Juden angekommen, und mit denen war das »Bad« ausgelastet. So lagerten und warteten sie schon den dritten Tag ohne einen Bissen zu essen und ohne Wasser.

Nachts hatte es schon etliche Male geregnet und alle wurden durch und durch nass. Es gab ein paar umsichtige Leute, die Bettwäsche und Essenspakete mitgeschleppt hatten, für alle Fälle. Es waren die Optimisten, die gern Vorkehrungen trafen. Jetzt legen sie sich in den Dreck, decken sich mit dem Bettzeug zu und überleben die Nacht. Am Morgen ziehen sie ein Stück zerdrücktes Brot aus einem Beutel, der auch als Kissen dient, und bleiben auf diese Weise am Leben. Schlecht geht es denen, die geglaubt haben, man führe sie gleich in den Tod. Sie haben deshalb gar nichts mitgenommen. Sie fallen bei Nacht hungrig und müde auf die feuchte, matschigdurchweichte Erde und fühlen, wie die nächtliche Kälte sie in jeder Minute wie mit Spießen sticht.

Am ersten und zweiten Tag waren sie wild vor Hunger. Es gab unter ihnen auch solche, die sich im Zorn auf diejenigen warfen, die noch etwas in ihren Beuteln hatten; aber sie waren zu schwach gegenüber denen, die noch zu essen hatten und mussten deshalb resigniert und müde nachgeben. Jetzt liegen sie hilflos da, ohne den Wunsch, noch einmal ihr »Glück« zu versuchen, und ohne den geringsten Willen, noch einmal einen Blick auf die Welt zu werfen.

Die, die noch etwas zu essen haben und ein Päckchen mit Wertsachen, fühlen sich noch mit etwas auf der Welt verbunden, das schade wäre, es zurückzulassen. Sie klagen noch, weinen, raufen sich die Haare und ringen die Hände:

Was wird sein? Was wird sein, was? Werden sie uns hier verhungern lassen? Sie beißen die Nägel voller Zorn und schmerzhafter Sorge. Jeder Einzelne von ihnen hätte sich verstecken können, fliehen, sich retten. Jetzt zerfrisst es ihn vor Zorn, er schlägt sich mit den Fäusten an den Kopf, als ob er sich deswegen selbst erschlagen wollte. Einer will dem anderen sein bitteres Herz ausschütten:

Was war los mit mir? Warum bin ich nicht in den Wald? Solch ein gutes Versteck hatte ich!

Ein anderer geht noch weiter mit seiner Abrechnung: Er hätte nach Eretz Israel fahren können, selbst unter den Deutschen hätte er es noch gekonnt. Aber das verfluchte »Glück« der ersten Kriegsjahre hatte ihm die Augen verblendet. Er ist wütend auf sich selbst: Ich könnte mich ohrfeigen! Aber es hört sowieso keiner dem anderen zu. Jeder schreit nur für sich, um den eigenen Schmerz rauszulassen.

Ein großer Teil dagegen ist schon entrückt in eine andere Welt. Der Tod hat ihnen bereits seinen Vorboten in die Glieder geschickt, eine lähmende Schläfrigkeit. Er spielt mit ihnen, will sie nicht in einem Zug verschlingen. Sie schauen mit gleichgültigen Augen, als ob sie die ganze diesseitige Welt betrachteten.

III

An den Rändern des Platzes liegen aufgehäuft Berge menschlicher Exkremente. Unwillkürlich umfasst der Blick den ganzen Kot. Es fällt mir auf, dass jede Stelle mit menschlichen Ausscheidungen merkwürdig verschmiert aussieht, als ob Finger lange darin herumgewühlt hätten.

Einer der Schwächeren steht plötzlich auf und beginnt zu laufen. Etliche der noch Aktiveren bemerken das, eilen zu ihm hin und stellen sich um ihn herum. Sie tun es sehr achtsam und schauen sich dabei nach allen Seiten um, ob ein SS-Mann von der Aufsicht es womöglich bemerkt. Zuerst vermute ich, dass sie es deshalb tun, weil es hier verboten ist, den Platz zu beschmutzen. Deshalb wollen sie jemanden, der sein menschliches Bedürfnis erledigen muss, vor den zornigen Blicken verbergen. Ich bemerke aber, dass sie ihn länger als gewöhnlich umstellen. Der Kreis steht schon zehn, fünfzehn oder zwanzig Minuten da. Jedes Mal dreht jemand aus dem Kreis den Kopf herum und redet nervös auf den ein, der etwas tut, vermutlich, um ihn …

Ich näherte mich und sah etwas, das in mir einen Schreck, gemischt mit Ekel hervorrief. Der Mensch in der Mitte saß da und presste das Letzte aus sich heraus. Neben ihm lag schon ein frischer Haufen, in welchem er verzweifelt mit beiden Händen wühlte.

Ich erinnerte mich an schon vorher wahrgenommene Zeichen und ein Gedanke befiel mich:

Sind womöglich all diese Menschen verrückt geworden in den Tagen solch einer Warterei? Es ist abzusehen, dass auch wir hier noch etliche Tage warten müssen, bis wir an der Reihe sind. Auch wir können so wild werden, wild und machtlos vor verzweifeltem Hunger. Wieder fühlte ich den Schreck: Wird mir beschert sein, meine letzten Tage zwischen Verrückten zuzubringen? Und werde nicht auch ich selber verrückt werden, genau wie alle? Auf den Tod hatte ich mich schon mehr als ein Mal vorbereitet. Ich sah ihn in meiner Fantasie in all seinen Erscheinungsformen und stellte mich darauf ein. Mit diesem Annehmen fiel jede Furcht von mir ab. Eine Sache aber hatte ich nicht vorausgesehen: den Tod im Zustand des Wahnsinns! Und dieses Neue, mit dem du dich noch nicht auseinandergesetzt hast, mit dem du in Gedanken noch keinen Frieden geschlossen hast, hat dich wieder aufgeregt und aufgewühlt.

Die Menschen sahen aber gerade jetzt eher ruhig aus. Auf ihren Gesichtern war eine andere Art Ausdruck als vorher während des nervösen, verzweifelten Herumlaufens. Ich sah, dass da etwas mit kühler Berechnung gesucht wurde. Das verstärkte in mir das Bewusstsein, dass ich mich in einer Umgebung befand, die ich nicht in der Lage war zu verstehen.

Irgendjemand der Herumstehenden stellte die Frage:

Bist du überhaupt sicher, dass du es hinuntergeschluckt hast?

Die Antwort hörte ich schon nicht mehr. Das Wort traf meine Gedanken und zerriss mit einem Schlag alle meine Überlegungen, die ich dort herumgewälzt hatte.

»Hinuntergeschluckt!« Und schon öffnete sich mir ein breites Tor zu einer neuen Welt voller Sorgen und verzweifeltem Ringen.

Es stellte sich heraus, dass am ersten Tag ihrer Ankunft verdächtige Gestalten an den Zäunen auftauchten und mit leiser Stimme durch die schmalen Rechtecke flüsterten:

Jidden! Seht ihr? Gleich da, nicht weit weg, ist das Bad. Und dort, ein bisschen weiter, ist die Gaskammer. Versteht ihr? Gleich im Bad wird jeder nackt ausgezogen und so von dort hinausgeführt. Deshalb ist das Verbergen von etwas Gold und Wertsachen vergeblich, auch wenn ihr es noch so gut in den Kleidern versteckt.

Jeder schlug vor, man solle es ihm herausgeben, und wenn man am Leben bleiben sollte, werde er es ins Lager zurückbringen. So oder so gehe man kein Risiko ein.

Weniger starke Charaktere rissen tatsächlich sofort alle Verstecke an den Ärmeln und Hosenaufschlägen auf und gaben alles heraus. Die Rechnung war eine einfache: Jene leben, sollen wenigstens sie daran Freude haben! Pfiffige Köpfe dagegen beschlossen, nicht so schnell zu kapitulieren.

So begann das große Verschlingen.

Man schlang kleinere und größere Brillanten, Ringe und kleine Goldstücke hinunter. Man überlegte sich dabei mit einer gewissen zufriedenen Beruhigung: Bald kann man sogar völlig nackt hinausgehen, ein kleines Vermögen hat man sich einverleibt. Der eigene Leib und das Gedärm werden einen nicht verraten, sondern es verdeckt und in unauffälligster Art und Weise wieder abgeben.

Aber ein Tag vergeblichen Wartens verging. Die Leute von der SS hatten Zeit. Inzwischen bekam der Magen es mit der Angst zu tun ob des versteckten Vermögens. Schon begann er unzufrieden zu grollen, bald wand er sich gar in quälenden Krämpfen und begann vor Schreck alles aus sich hinauszubefördern, was man ihm anvertraut hatte. Das Teuerste gemischt mit dem billigsten, ekligsten Mist.

Sorgfältige Hände wühlten stundenlang, rieben jedes Stück Kot durch die Finger, bis sie das Wichtigste wiederfanden, um es später erneut den Eingeweiden als Pfand anzuvertrauen.

So begann ein irrsinniges Gerangel zwischen dem Verrinnen der Zeit und dem physiologischen Drang. Man bemühte sich, die drückende innerliche Übelkeit zurückzuhalten, aber vergeblich. Später musste man ein weiteres Mal unbeirrbar suchen und zum wievielten Male dasselbe in dem müden, selbst vor Gott verborgenen, Beutel verstecken. Am dritten Tag gab es nichts mehr, mit dem es hätte herauskommen können. So schlummerte der Schatz schwer auf dem Magengrund. Die letzten inneren Säfte, in ihrer Gier, etwas zu verdauen, stürzten sich jedes Mal aufs Neue darauf wie bei einem Angriff und wurden jedes Mal mit harter Faust zurückgeschleudert. So zogen sie sich wie hungrige Wölfe in ihre eingetrockneten Adern zurück.

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22 декабря 2023
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9783866744745
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