Читать книгу: «Trust me - Blindes Vertrauen», страница 3

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Hernandez setzte sich wieder.

„Ja sicher.“ Er schrieb eine Telefonnummer auf einen Zettel. „Melden Sie sich bei Jerome, er wird Ihnen eine Baracke zuweisen. Es sind immer zwei Männer in einer Unterkunft. Hoffen Sie nicht, dass Sie eine für sich allein bekommen. Wir nehmen weder Rücksicht auf ethnische noch religiöse Hintergründe. Hier geht es um Öl, das ist wichtiger als die Tatsache, in welche Richtung jemand betet. Soweit klar?“

Er griff hinter sich in ein Fach, zog ein weiteres Blatt heraus und auch dieses schwebte hinüber zu ihm.

„Die Vorschriften in den Unterkünften. Gut durchlesen. Auch dort gilt: Alkohol-, Zigaretten- und Drogenverbot. Haustiere sind nicht erlaubt, bis auf Geckos und Schlangen. Die haben hier Hausrecht.“ Er lachte wieder.

„Ich habe einen Hund.“

„In Bakersfield ist ein Tierheim. Nette, wirklich sehr nette Leute da.“ Er kritzelte eine Adresse auf einen Zettel, auch den packte Leon zu seinem Stapel dazu. „Verstehen Sie, so ein Tier ist hinderlich. Der eine kommt mit einer Katze, der nächste besitzt einen Hund, ein anderer bringt seinen Affen mit. Wir sind hier kein Streichelzoo. Und es geht auch nicht, dass man nicht zum Dienst erscheint, weil der Hund gekotzt hat. Noch Fragen?“

Leon fühlte sich etwas überrollt.

„Dann sehen wir uns morgen. Denken Sie daran, den Vertrag zu unterschreiben.“

Leon verließ das Büro, ging hinaus und atmete tief durch. Die Sekretärin lächelte ihm zu, als er zu seinem Wagen ging. Er setzte sich hinein und Twister schenkte ihm zu seiner Rückkehr ein leichtes Zucken mit der Schwanzspitze. Das war offenbar das Ende ihrer gemeinsamen Reise. Leon gab die Adresse des Tierheims in das Navi ein und fuhr los. Während der Fahrt musste er feststellen, dass Bakersfield die dreckigste und staubigste Stadt war, die er je gesehen hatte. Manche Leute trugen sogar Atemmasken. Die Käsefabrik kam ihm erneut in den Sinn und der Blick über den Ozean. Was für ein Unterschied zu dem verbrannten Narbengewebe der unendlich scheinenden Ölfelder und ihren gruseligen Pumpen. Vielleicht sollte er tatsächlich über das Angebot auf der Bohrinsel nachdenken. Als er das Tierheim erreichte und mit Twister zum Eingangstor ging, bemerkte er die hübschen Einfamilienhäuser auf der gegenüberliegenden Seite. Zwei davon waren mit gelbem Flatterband abgesperrt und wirkten verlassen. Warnschilder wiesen darauf hin, die Grundstücke nicht zu betreten, da unter den Häusern Gas aus einer defekten Leitung gesickert war.

Was für eine Stadt!

Bevor er den Klingelknopf am Tor drückte, blickte er hinunter auf Twister, der abwartend zu ihm aufsah.


Eywa erwachte und spürte die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Das lenkte die heutige Laune doch gleich in die richtige Richtung. Sie tastete mit den Fingerspitzen über ihre Wangen, spürte die Wärme und es fühlte sich an, als könnte sie so die Sonnenstrahlen berühren. Der Duft der Kornfelder drang durch das geöffnete Fenster in ihre Nase und als sie die Hand hob, spürte sie den leichten Wind, der den Vorhang sanft bewegte.

Eywa liebte ihren Onkel Mike und ihre Tante Tessa dafür, dass sie ihr ein Leben auf ihrer Ranch ermöglichten. Nirgends fühlte sie sich wohler und besser aufgehoben als hier, im Kreise der Menschen, die sie akzeptierten, wie sie war. Sie besaß diese kleine Hütte, etwas abseits vom Haupthaus, in der auch ihr Pianino stand. So konnte sie niemanden mit ihren Übungen nerven und spielen, wann immer ihr danach war. Wohlig streckte sie ihre Glieder und atmete tief ein. Der Sommer war einfach herrlich, er duftete himmlisch nach Getreide, Heu und Wildblumen. Wenn nur die Verpflichtungen im Leben nicht wären, dann würde sie noch Stunden unter dem Fenster in der Sonne liegen und den leichten Wind genießen.

Sie gab sich einen Ruck und setzte sich auf, doch so ganz war ihr Körper noch nicht mit ihrer Motivation im Einklang. Eywa musste herzlich gähnen und war nahe dran, sich rückwärts wieder ins Kissen fallen zu lassen. Ihr Pflichtgefühl und vor allem ihre knappe Kasse verhinderten das verlockende Vorhaben, also stand sie auf und ging unter die Dusche. Innerhalb der Wohnung verzichtete sie auf ihren Stock, auch wenn sie dann und wann noch immer gegen die Tischkante lief, oder sich den Zeh stieß. Das verbuchte sie unter Trottelei und war sich sicher, auch sehende Menschen waren ab und an mal trottelig. In ihrem Leben musste leider alles seine Ordnung haben. Wenn die Dinge nicht immer genau dort waren, wo sie hingehörten, fand sie sie nur schwer, oder gar nicht wieder. Vor allem ihre Schlüssel! Die waren offenbar prädestiniert dafür, verlegt zu werden. Darum hatte ihrer einen Anhänger und wenn sie pfiff, antwortete er.

In einer knappen Stunde hatte sie die erste Klavierstunde mit einer neuen jungen Schülerin und sie freute sich sehr darauf. Es würde ihre Haushaltskasse ein wenig aufbessern. Mutter und Töchterchen hatten sie aufgesucht und so, wie Eywa heraushören konnte, war Misses Coffman von dem musikalischen Talent ihrer Jüngsten überzeugt. Das Mädchen dagegen hatte kaum ein Wort gesprochen, darum würde sie heute zunächst versuchen mit kleinen und lustigen Spielchen das Eis zu brechen. Meist verhielten Kinder sich lockerer, sobald die Eltern nicht mehr anwesend waren und dann würde sie herausfinden, ob das musikalische Talent tatsächlich vorhanden, oder der Ehrgeiz der Eltern größer war.

Gerade als sie sich abtrocknete, läutete das Telefon.

„Eywa Green“, meldete sie sich.

„Hier spricht Misses Coffman.“

Nanu, dachte Eywa und hörte am Klang heraus, dass sie etwas bedrückte.

„Hallo Misses Coffman, gibt es ein Problem?“

„Nun ja“, druckste sie herum. „Ich muss die Stunde leider absagen.“

Ein Ziehen ging durch Eywas Magengegend. Nicht schon wieder!

„Fühlt sich Harriet nicht wohl? Ist sie krank?“ Eywa kannte die Antwort längst. Sie war allerdings gespannt darauf, ob Misses Coffman ehrlich genug war.

„Vielleicht ist Klavierspielen doch nichts für sie. Ich werde selbstverständlich für den Ausfall aufkommen.“

„Sparen Sie Ihr Geld, wenn Sie mir dafür den wahren Grund nennen.“

Die Frau räusperte sich. „Es ist mir äußerst unangenehm, aber Harriet hat Angst vor Ihnen. Bitte seien Sie nicht böse, sie ist ja noch ein Kind.“

„Sie hat Angst?“

„Sie hat gefragt, ob das ansteckend sei und sie auch blind werden würde. Oh Gott, Miss Green, es tut mir so leid, aber Sie wollten es wissen.“

Das war mal eine ganz neue Variante. Sie hatte ja bereits einiges erlebt, aber das toppte definitiv alles.

„Machen Sie sich nichts daraus. Ich verstehe das.“

„Was soll ich tun? Sie hat angefangen zu weinen und sagte, Sie hätten immer an ihr vorbeigesehen, das fand sie unheimlich.“

Eywa beendete höflich das Gespräch, nachdem sie versichert hatte, dass es ihr rein gar nichts ausmachte.

„Es sind halt Kinder“, hatte Misses Coffman noch entschuldigend hinzugefügt.

„Ja, es sind halt Kinder“, hatte sie so gefasst wie möglich wiederholt, doch es waren die Eltern, die ihren Kindern beibringen mussten, dass Menschen mit Handicap keine Aussätzigen mit ansteckenden Krankheiten waren. Es lag an den Eltern, ihnen vorzuleben, wie man miteinander umging. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Hand derart in ihr Handtuch verkrampft hatte, dass sie ihre Faust nur unter Schmerzen wieder öffnen konnte.

Sie setzte sich auf den Toilettendeckel und brauchte eine ganze Weile, um das zu verdauen. Ansteckend! Sie atmete tief durch und beschloss, sich davon nicht den Tag verderben zu lassen. Eywa wuschelte mit dem Handtuch durch ihre Haare, nahm ihr Farberkennungsgerät, das immer neben dem Schrank auf dem Regal lag, und suchte ihre Kleidung aus. Nach diesem Schlag in die Magengrube konnte nur ein Ausritt helfen. Auf einem Pferderücken durch die Gegend zu reiten, machte Kopf und Seele wieder frei. Sie nahm Jeans und Stiefel aus dem Schrank, zog sie über, nahm ihren Blindenstock und ging hinüber zum Stall. Dort begegnete sie Benny, der sie wie immer höflich begrüßte. Er war einer der Jugendlichen, die schon früh auf sich selbst gestellt, mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Auf der Ranch ihres Onkels bekamen diese Kinder vom Gericht eine zweite Chance. Sie mussten sich bewähren und lernten Verantwortung zu übernehmen. Auf der Ranch spürten sie die Obhut einer Gemeinschaft, lernten für sich und andere einzustehen, übernahmen Pflichten und bekamen Grenzen aufgezeigt. Das war nicht immer einfach, oft gab es Rückschläge, doch die Arbeit ihres Onkels verdiente höchsten Respekt. Für ihn waren diese jungen Menschen ein Produkt einer kranken Gesellschaft und „Einer muss ihnen verdammt nochmal helfen“, pflegte er zu sagen. Dafür liebte Eywa ihn umso mehr.

Sie wechselte ein paar Worte mit Benny und er half ihr, ihre Stute zu satteln. Da der Junge sie hinausführte, konnte sie bereits im Stall aufsitzen. Wenn sie allein war, konnte sie nur auf der umzäunten Weide reiten, aber die war riesig und es dauerte eine kleine Ewigkeit, sie zu umrunden. Ihr Onkel hatte Cinnamon mit Hilfe eines Freundes zu einem Behindertenpferd ausgebildet. Die Stute kannte ihre Aufgaben und lief stets brav entlang des Zauns, bis sie wieder am Tor angekommen waren. Dort blieb sie stehen und schnaubte sogar manchmal kurz. Dieses wunderbare Pferd gab Eywa für ein paar Momente das Gefühl zurück, ganz normal zu sein. Sich tragen lassen, das sanfte Schaukeln genießen, eins zu sein mit dem Lebewesen unter ihr und der Natur. Da fühlte sie sich schon nach wenigen Minuten um vieles besser. Alle Harriets und Misses Coffmans der Welt konnten sie mal gern haben.

Als die Stute sich kurz schüttelte und Eywa zur Sicherheit nach dem Sattelhorn griff, um nicht herunterzufallen, fuhr ein Stich durch ihr lädiertes Handgelenk. Sie umfasste es mit der anderen Hand und ertastete, dass es sogar noch ein wenig geschwollen war. Sie dachte an diesen jungen Mann, der so nett geklungen hatte. Seine Stimme war ihr unter die Haut gegangen. So sanft und leise. Seine Worte waren mit Bedacht gewählt gewesen, nicht einfach laut hinausposaunt. Er hatte eine wohltuende Ruhe verströmt und selbstbewusst gewirkt. Offenbar kein typischer Draufgänger, wie die meisten Männer, die ihr aus Tillamook bekannt waren. Sie hatte Empfindungen für ihn gehabt, die sie nicht erklären konnte. Er hatte eine ganz spezielle Wirkung und etwas Besonderes ausgestrahlt. Das hatte sie noch nie in dieser Intensität gespürt.

July hatte gut reden, wenn sie sagte, dass sie sich endlich verlieben sollte. Eywa hatte nicht die Möglichkeit, jemanden umwerfend zu finden, weil er so hinreißende Augen, eine tolle Figur oder schöne Haare hatte. All die visuellen Eindrücke, durch die sich Menschen ineinander verliebten, fehlten ihr. Es musste sich schon jemand intensiver mit ihr befassen, sie ansprechen, sich ernsthaft für sie interessieren. Doch das tat leider niemand. Die meisten scheuten sich, mit ihr zu reden oder gar mit ihr zu flirten und es war ihnen nicht zu verdenken. Niemand wollte eine blinde Frau. Vielleicht dachten die Männer, es wäre eine zu große Belastung, dabei kam sie sehr gut damit klar. Allerdings war Tillamook auch nicht unbedingt mit Junggesellen im heiratsfähigen Alter gepflastert.

Cinnamon furzte plötzlich dermaßen laut in ihre Gedanken, dass Eywa vor Lachen fast vom Sattel fiel.

„Genau!“, rief sie laut und klopfte ihren seidigen Hals. „Scheiß drauf!“

Kapitel 3

Alte Schrecken,

die ihre Zähne blecken.

Sind zum Sprung bereit,

niemals bist du befreit.

Lauf nur fort,

an jeden Ort.

Sie kommen dich holen,

haben deine Seele gestohlen.

Leons Körper fühlte sich an, als hätte keiner seiner Muskeln mehr genug Kraft für die kleinste Bewegung. Er schaffte es nicht einmal, die Augenlider zu heben, so fix und fertig war er. Sein Rücken schmerzte und er war todmüde, obwohl er bereits einige Stunden geschlafen hatte. Und in dieser Sekunde, als sein volles Bewusstsein und seine Erinnerung zurückkehrten, musste er lächeln und sein Lächeln wurde breiter, als er den Ozean roch, die Wellen rauschen hörte, und was noch besser war – als jemand in diesem Moment seine Hand leckte.

Leon öffnete die Augen und sah Twister neben sich auf der Ladefläche seines Trucks sitzen. Er wedelte verhalten mit dem Schwanz und ließ es zu, dass er über seinen Kopf streichelte.

Als die Frau vom Tierheim Twister eine Schlaufe um den Hals gelegt und mit ihm davongegangen war, hatte er sich fest vorgenommen gehabt, nicht zurückschauen, doch er hatte es nicht fertig gebracht und als er sich für einen letzten Abschiedsblick umgesehen hatte, hatte auch Twister sich zu ihm gedreht. Ein letzter Blick aus traurigen Augen hatte ihn tief getroffen und alles, was er in ihnen hatte lesen können, war: Du Idiot!

Und Twister hatte recht. Er war ein Idiot. Sein ganzes Leben hatte er bereits oberflächlich und ohne jegliche Bindung zu irgendwem verbracht. Glücklicher war er dadurch nicht geworden. Im Gegenteil. Er befand sich in einer Art Blase und konnte weder vor noch zurück. Er hatte sich vorgemacht, dass der Hund es nur besser haben konnte als bei ihm, auch wenn es in einem Tierheim war. Doch wie sehr er sich irrte, hatte er an Twisters Reaktion gemerkt, nachdem er der Frau nachgelaufen war und ihn wieder an sich genommen hatte. Als wenn er eine dunkle Ahnung gehabt hatte, was ihm beinahe geblüht hätte, denn als sie zurück zum Auto gingen, war Twister freudig vorweg gehüpft, hatte schwanzwedelnd gewartet, bis Leon ihm die Tür öffnete und sich dann auf seinem Lieblingsplatz eingerollt. Als Leon ebenfalls eingestiegen war, hatte der Hund ihm einen Blick zugeworfen, als wollte er sagen: „Tu das nie wieder.“

In dieser Sekunde war ihm bewusstgeworden, dass er auf schnellstem Wege diese hässliche Stadt mit ihrem Öl-Geruch und dem Gestank nach faulen Eiern verlassen musste. Es zog ihn dorthin, wo er das erste Mal seit er sich erinnern konnte, eine Art Wohlbehagen empfunden hatte. Ein unerklärlich warmes Gefühl, das leider immer eisiger geworden war, je weiter er sich Richtung Bakersfield entfernt hatte. Darum war er die ganzen Stunden wie im Wahn durchgefahren und als er spät in der Nacht die Stelle an den Klippen erreicht hatte, waren Twister und er auf die Ladefläche geklettert und hatten es sich dort gemütlich gemacht. Sie hatten in den Himmel gestarrt, ein Sandwich geteilt und waren mit Meeresrauschen eingeschlafen. Und nun, wo sie auf den Ozean hinaussahen, wusste er, er hatte endlich mal etwas richtiggemacht. Es war das erste Mal, dass er an einen Ort zurückkehrte und es fühlte sich großartig an. Aber auch hier würde er einen Job brauchen, denn nur rumsitzen und auf das Meer hinaussehen, war fürs Erste sicher schön, aber auf Dauer lag ihm das nicht. Vielleicht ergab sich etwas, wenn er in Joes Diner ein Frühstück einnehmen würde. Meist war so eine Bar die Anlaufstelle einer Kleinstadt, in der jeder jeden kannte und jeder alles über jeden wusste. Sicher konnte Joe ihm einen Tipp geben, wo er Arbeit finden konnte. Ansonsten würde er es am Hafen versuchen, die brauchten in der Regel immer Leute.

Er setzte seinen Gedanken sofort in die Tat um und fuhr nach Tillamook hinein. Als er vor dem Diner einen Parkplatz ergattern konnte und aus dem Truck stieg, grüßte ihn die ruppige Politesse, erstaunlicherweise sogar mit Namen. Sie warf seinem Wagen einen strengen Blick zu, nickte dann jedoch wohlwollend und zog ihrer Wege. Dieser Moment, auch wenn er noch so verrückt war, gab ihm für eine Sekunde das Gefühl, Zuhause zu sein. Ein Ort, an dem die Politesse einen mit Namen grüßte, auch wenn es hundertachtundzwanzig Dollar gekostet hatte. Kurz wunderte er sich über sich selbst und seinen seltsamen Wunsch nach Heimatgefühlen. Das war völlig neu, denn falls er jemals über einen festen Wohnsitz nachgedacht hätte, dann höchstens in Jaspers Nähe. Ob es nur eine momentane Laune war? In den letzten Tagen stellte er alles infrage, überwarf sogar seine Entscheidungen. Wege, die er fest geplant hatte, empfand er plötzlich als Sackgassen. Leon schüttelte innerlich den Kopf und versuchte diese verwirrenden Gedanken loszuwerden. Diese ganze Denkerei verursachte sowieso nur Läuse im Kopf, wie sein Vater immer zu sagen pflegte, und bevor er bei dem Gedanken an das größte Monster in seinem Leben das Kotzen bekam, betrat er schnell Joes Diner.

Er bestellte ein Frühstück und nachdem Twister und er reichhaltig gegessen hatten, erkundigte er sich bei Joe nach einem Arbeitsplatz.

„Es gibt hier einige Jobs, denn viele junge Kerle verschwinden aus Tillamook. Es zieht sie in die größeren Städte, hier ist es ihnen zu langweilig. Was kannst du denn?“ Bevor Leon antworten konnte, sprach er weiter. „Wenn du dir nicht zu schade zum Arbeiten bist und gut anpacken kannst, dann frag‘ unten am Hafen nach, die suchen immer Leute für die Fischerboote. Aber ich sag’s dir gleich, du wirst immer nach Fisch stinken, da kannst du noch so oft duschen.“

Joe lachte laut und ein Mann am Nebentisch lachte mit. Er drehte sich zu ihnen und mischte sich in die Unterhaltung ein. „Da hat er recht, aber wenn du danach in der Käsefabrik arbeiten gehst, riechst du wie überbackener Fisch.“

Die Männer lachten laut. Leon lachte nicht, aber er verzog aus Höflichkeit den Mund zu einem schrägen Grinsen.

„Was ist mit dem alten Mick?“, sagte der Mann über Leons Kopf hinweg zu Joe. „Der sucht doch bestimmt eine helfende Hand.“

„Ja genau“, gab Joe zurück und schlackerte mit dem erhobenen Zeigefinger. „Der alte Mick ist vom Scheunenboden gestürzt. Wir dachten erst, nun ist er hin“, erklärte er grinsend, „doch das alte Schlachtross ist nicht totzukriegen.“ Der Kerl neben ihm war sehr amüsiert und obwohl Joes Worte makaber klangen, spürte Leon, wie sehr sie diesen alten Mick schätzten.

„Der knurrige Zausel hat sich den Oberarm gebrochen und ist alleine draußen auf seiner Farm. Es wäre nur für ein paar Wochen, aber es ist sicher besser, als auf dem Fischkutter.“

„Was sagst du?“

Beide Männer sahen ihn abwartend an.

„Sicher, warum nicht?“

Der Mann am Nebentisch klatschte in die Hände. „Na prima. Man muss Arbeitskräfte schnell von der Straße holen, bevor die Fabrik sie einsaugt.“ Er lachte dazu und während Joe eine Adresse aufschrieb, stellte er sich vor. „Ich bin Wilbur, und wenn ich nicht in meinem Truck sitze, bin ich hier. Das ist mein Wohnzimmer.“ Joe bekräftigte das, indem er Wilbur auf die Schulter klopfte.

„Wir sehen uns sicher, Junge. Grüß Mick von mir und sag ihm, ich komme die Tage vorbei.“ Er tippte an den Schirm seiner Kappe und ging hinaus. Joe reichte Leon derweil den Zettel mit der Adresse. Er bedankte sich, bezahlte sein Essen und machte sich mit Twister auf den Weg.

Es führte ihn in die Berge und als er dachte, er hätte sich verfahren, sah er mit Glück einen kleinen Holzpfahl mit einer Hausnummer. Er bog in den steinigen Weg und fuhr auf ein typisches Farmhaus zu. Ein breitschultriger Kerl stand neben einem Holzklotz, auf dem er offenbar sein Brennholz hackte. Mit zu Boden gelassener Axt und einem Arm in einer Schlaufe sah er ihm entgegen.

Leon stoppte den Wagen, stieg aus und ging auf ihn zu. Der alte Mick, wie sie ihn betitelt hatten, schien nicht wesentlich älter zu sein als Joe und Wilbur. Sein sonnengegerbtes und verschwitztes Gesicht lag zur Hälfte im Schatten seiner Hutkrempe und obwohl Leon sich freundlich lächelnd näherte, verzog er keine Miene.

„Guten Tag, Sir“, grüßte er und erklärte den Grund seines Besuchs.

„Joe schickt Sie?“, gab er leicht verwundert und mit Skepsis in seiner tiefen Stimme zurück. „Hm, ich könnte schon jemanden brauchen, Sie sehen ja selber …“ Er hob seinen verletzten Arm, während sein Blick an Leon vorbei auf den Truck fiel. „Aus Portland kommen Sie? Was suchen Sie hier?“

Das war eine gute Frage, aber die konnte er nicht mal sich selbst beantworten. „Arbeit und Unterkunft.“

„So. Aha. Wer sagt mir, dass Sie kein Killer sind?“

„Ihr gesunder Menschenverstand.“

Er sah Leon abschätzig an und sagte eine ganze Weile kein Wort. Leon hielt das aus, er kannte den Argwohn. Es war überall dasselbe.

„Sie können sich drüben im Schuppen einrichten. Dort finden Sie, was Sie brauchen. Sie müssen dort sauber machen. Und der Hund …“ Er deutete auf Twister, der neugierig aus dem Seitenfenster herausschaute. „Passen Sie auf, dass er sich nicht an meinen Hühnern zu schaffen macht.“

„Das werde ich.“

Mick schob ihm die Axt zu, deutete mit der gesunden Hand Richtung Brennholz und verschwand mit einem „Sie können gleich damit anfangen. Also dann.“

Leon sah ihm lächelnd nach. So einfach konnte es sein … Also dann!


Eywa beschloss Tessa zur Hand zu gehen, bis July von der Arbeit kam und mit ihrer Rückkehr endlich Langeweile und Tristesse verschwanden, die sich immer dann einschlichen, wenn sie keine Schüler hatte. Sie war neben ihrem Onkel und ihrer Tante einer der wichtigsten Menschen in Eywas Leben und nicht nur Cousine, sondern auch beste Freundin. July hatte nach langer Suche Arbeit im Büro einer Schiffswerft gefunden und vor kurzem ihre Festanstellung gefeiert. Da die Fahrtzeit von der Ranch bis zur Werft täglich eine knappe Stunde in Anspruch nahm, hatte Eywa Sorge gehabt, July würde die Ranch verlassen und näher in die Stadt ziehen. Doch July hatte ihr versichert, dass keine zehn Pferde sie von der Ranch wegbekämen. Das hatte sie beruhigt, aber dennoch wusste sie, dass es nur ein Aufschub war. Heute oder morgen würde Prinz Charming angeritten kommen und dann wären die zehn Pferde sicher schnell vergessen. So war der Lauf des Lebens. Nicht ihrer, nein, sicher nicht. Da brauchte sie sich auch nichts vormachen. Sie hatte kaum Träume und das war auch okay. Was für andere bitter klingen mochte, war für Eywa nur realistisches Denken. Wenn jemand wie sie überhaupt Arbeit finden könnte, dann nur in einer der größeren Städte. Dann könnte auch sie eine Wohnung mieten, in schicken Cafés sitzen oder in tollen Restaurants essen gehen. Vielleicht sogar einen Mann kennenlernen, der sie so akzeptierte, wie sie war. Aber in Tillamook?

„Du bist heute so still, Eywa. Bedrückt dich etwas?“ Sie spürte Tessas Hand auf ihrem Kopf. Sie strich ihr über das Haar und es war ein angenehmes, beruhigendes Gefühl. Eywa legte das Messer beiseite, mit dem sie in einem speziellen Gerät für Blinde eine Tomate in Scheiben geschnitten hatte.

„Ich frage mich, was mich erwartet im Leben.“

„Oha! Also sehr tiefsinnige Gedanken. Möchtest du darüber reden?“

„Es gibt nicht viel zu reden, denn es gibt nicht viel zu erwarten.“

„Eywa, du bist noch jung, alles liegt vor dir.“

„Ich weiß, du willst mich trösten, aber dir ist sicher auch klar, dass mein Leben anders verlaufen wird als das von July, oder?“

„Jedes Leben verläuft anders.“ Sie setzte sich neben Eywa an den Tisch und legte ihre Hand tröstend auf ihren Arm. „Mein Leben ist auch anders verlaufen als das meiner Schwester. Sie ist in New York, lebt in einem luxuriösen Loft mit ihrem reichen Ehemann Nummer vier.“

Sie mussten beide lachen und Eywa spürte die Aufmunterung in sich wirken. „Ich dagegen schaffe es höchstens alle zwei Monate zur Maniküre und wenn ich den Laden betrete, schlagen sie sich die Hände über dem Kopf zusammen. Zuletzt, und da bin ich mir ganz sicher, sind sie hinter der Ladentheke in Sicherheit gegangen, als ich vorbeiging.“

Eywa musste so sehr lachen, das tat gut.

„Im Gegensatz zu meiner schicken Schwester lebe ich auf einer Ranch, habe viele Tiere und dazu unsere Gäste. Das hatte ich so nie geplant. Bis ich Mike kennenlernte und mit ihm seine Visionen verwirklicht habe.“

Tessa nannte die vom Gericht geschickten Jugendlichen immer ihre Gäste. Das fand Eywa sehr liebenswert. Sie sollten das Gefühl von Geborgenheit und Freiheit haben, nicht von Druck und Zwang.

„Für dich gab es immer eine Wahl. Egal was du gewollt hättest.“

„Aber die hast du doch auch?“

„Nicht wirklich. Die Vereinigung für Sehbehinderte hat mir ein Arbeitsangebot geschickt. Vielleicht nehme ich es an.“

„Was für ein Angebot?“ Tessas Stimme klang erschrocken.

„In einer Telefonzentrale. Ich müsste dafür nach Eugene ziehen.“ Sie verzog den Mund, denn Eugene war nicht das, was sie gewollt hätte.

„Na dann hast du doch die Wahl, die du wolltest. Du kannst in eine andere Stadt ziehen, wo dich niemand kennt, du dich nicht auskennst und einen Job erledigst, den du hassen wirst. Oder du bleibst bei uns und widmest dich dem, was dir Freude macht und dir wichtig ist, zum Beispiel deiner Musik. Die Entscheidung ist doch ganz einfach. Was ist mit deinen Klavierstunden?“

Noch bevor Eywa ihr antworten konnte, stürmte July ins Haus. Ihre Schritte waren schnell und sie wirkte hektisch, ihr Atem war sogar zu hören, als sie die Küche betrat. Tessa bestätigte Eywas Gespür.

„Nanu, July, was ist passiert?“

„Hi Mom“, sagte sie und gab ihr einen Kuss, dann kam sie auf Eywa zu und sie spürte Julys Lippen auf ihrer Wange. „Hi Cousinchen. Du glaubst nicht, wen ich gesehen habe.“

„Ein Gespenst?“

„Namens Leon!“

Eywas Herz machte einen so heftigen Satz, dass sie einen Augenblick verwirrt war.

„Wer ist Leon?“, wollte Tessa wissen.

„Der Typ, der Eywa über den Haufen gerannt hat.“

„Aha, und was ist daran so toll?“

Eywa war froh, dass Tessa so neugierig war und mehr wissen wollte, denn sie war zu überrascht, um zu reagieren. Am meisten über ihre Reaktion. Konnten andere sehen, wenn einem das Herz in der Brust schlug? Vorsichtshalber legte sie ihre Hand dorthin, wo es am heftigsten pochte.

„Er war auf der Durchreise, wollte nach Bakersfield.“

„Vielleicht hat er etwas vergessen? Ich zucke verwundert mit den Schultern.“

Eywa musste lächeln, denn ihre Tante war die Einzige, die ihre körperlichen Gesten manchmal laut aussprach, damit sie auch diese Dinge erfassen konnte. Oft klang das wirklich witzig.

„Eben nicht. Ich traf Joe an der Tankstelle und er hat mir erzählt …“

„Er hat getratscht!“, schnitt Tessa ihr scharf das Wort ab. Es war nicht so, dass Tessa Joe nicht mochte, aber sie konnte ihm nie ganz verzeihen, dass er mit seinem losen Mundwerk fast ihr Projekt mit den Jugendlichen gefährdet hätte. Nicht überall waren Straftäter gerne gesehen. Auch wenn sie noch jung waren. Joe war damals dagegen gewesen, dass man sich freiwillig ‚diese verdorbenen Subjekte‘ in die Stadt holte. Tillamook sei eine friedliche Stadt und sie sollte es auch bleiben. In seiner Bar animierte er die Einwohner zum Protest, verteilte Flugblätter und sammelte sogar Unterschriften. Als sogar die Behörden begannen, das Projekt anzuzweifeln, kostete es Mike und Tessa viele Nerven, Überzeugungskraft und jede Menge Kuchen, der die hitzigen Diskussionen bei Krisentreffen auf der Ranch versüßte. Was auch immer Tessas Rezept gewesen sein mochte, doch die köstlichen Stückchen schmolzen nicht nur auf ihren Zungen, sondern entlockten ihnen auch süßere Töne. Zum Schluss einigte man sich auf eine Art Probelauf für ein halbes Jahr und den bestanden sie mit Bravour.

„Mom, vergiss die Sache von damals“, gab July zurück und hatte offenbar dieselben Gedanken gehabt wie Eywa. „Also, Joe erzählte mir, dass ein Kerl namens Leon bei ihm nach einem Job gefragt hätte und er ihn zum alten Mick geschickt hat. Er sagte zu mir ‚Ich glaube, das ist der Typ, mit dem ihr zuletzt hier gesessen habt’. Da wollte ich wissen, ob ich mit meiner Vermutung richtigliege.“

„Und?“ Eywa platzte vor Neugier.

„Ich bin unter einem Vorwand zum Farmhaus, schließlich kümmert man sich in Tillamook um seine kranken Nachbarn.“

„Natürlich“, sagte Tessa mit spöttischem Unterton.

„Mick hat sich sehr gefreut, ich soll dich übrigens grüßen, Mom, und als ich gerade danach fragen wollte, ob er etwas benötigt, kam Leon aus der Scheune, und wow, er sah echt gut aus.“

Eywas Eingeweide zogen sich zusammen und darüber ärgerte sie sich. Sie war gerade dabei, sich in etwas zu verrennen und das war gar nicht gut. Denn ganz offenkundig schien er Julys Aufmerksamkeit ebenso auf sich gezogen zu haben. Und nur weil er in Tillamook war, hieß es nicht, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzten.

„Was hast du zu ihm gesagt?“

„Ich habe natürlich so getan, als sei ich völlig erstaunt, ihn dort zu treffen. Ich habe nachgehakt, ob er nicht vorgehabt hatte, nach Bakersfield zu fahren, und er antwortete, dort mögen sie keine Hunde. Was auch immer er damit meinte.“ July lachte und in Eywa flackerte etwas auf, was sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Es brannte, es pochte, es brodelte und … es ärgerte sie. Sie war eifersüchtig! Das konnte doch nicht sein!

„Ich ziehe gerade überrascht meine Augenbrauen hoch, liebes Töchterlein. Dieser junge Mann scheint dich sehr zu interessieren.“

„Wie kommst du denn darauf?“ July lachte. Eywas Gefühle überrannten sie gerade und das musste sie schnell unterbinden. Wenn July sich in ihn verliebte, dann war das nun mal so und dann würde sie sich von Herzen für sie freuen. Fertig! Ihre Gedanken an ihn waren eine dumme Schwärmerei über eine schöne Stimme und ein höfliches Auftreten. July jedoch wäre stets die geeignetere Kandidatin. Sie hoffte nur, dass nicht ausgerechnet er der Prinz Charming war, der sie von der Ranch entführen würde.

„Ich habe ihn gefragt, ob er Lust hat, zum Essen zu kommen, doch er schien irgendwie schüchtern und ist mir ausgewichen. Aber er hat nach dir gefragt.“

Wieder machte ihr Herz einen unkontrollierten Satz. „Aus Höflichkeit. Er wollte sicher nur wissen, wie es meinem Handgelenk geht.“

„Nein, das glaube ich nicht, denn von deinem Handgelenk war nicht die Rede und außerdem war es die Art, wie er nach dir gefragt hat. Ich glaube, er findet dich toll und ist nur hier, um dich wiederzusehen.“

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25 мая 2021
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280 стр. 18 иллюстраций
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9783982180403
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