Auch Schmetterlinge können sterben

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Auch Schmetterlinge können sterben
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Martina Decker

Auch Schmetterlinge können sterben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Dankeschön

Über die Autorin:

Impressum neobooks

1

Mochte ja sein, dass in Hollywood oder sonst wo morgens um sieben die Welt noch in Ordnung war. Bei Julia war sie es nicht! Romans Klienten aus Spanien waren überraschend früher angereist und hatten alle Pläne für das Wochenende zunichtegemacht.

»Wäre ja auch wirklich zu schön gewesen!« Zornig schob Julia den Stuhl nach hinten und griff nach ihrer Tasse mit dem Kräutertee. Der Versuch, noch irgendetwas zu retten und einen annehmbaren Kompromiss zu erreichen, war mal wieder gescheitert. Die Prioritäten auf Romans Seite waren mehr als deutlich: erst der Job, dann sie. Sie hatte es so satt!

»Wann hast du eigentlich vergessen, dass es noch andere Dinge im Leben gibt, die Freude machen? Urlaub, Tanzen, Kino?«

»Ich habe gar nichts vergessen!«

»Seit du zum Staranwalt avancierst und die Kanzlei nur noch wichtige und super wichtige Klienten hat, wird unsere gemeinsame Zeit immer weniger. Eigentlich kommst du doch nur noch zum Schlafen nach Hause«, wetterte Julia.

»Du übertreibst.«

»Ach ja? Seit Tagen gehst du früh um sieben aus dem Haus und kommst nicht vor elf Uhr abends zurück. Vorgestern war es fast eins. Auf Sonjas Geburtstagsfeier war ich alleine, unseren Kinoabend hast du von deiner Sekretärin absagen lassen. Mal ehrlich, kannst du dich noch erinnern, wann wir das letzte Mal zusammen gegessen haben? Von Ausgehen will ich gar nicht erst reden.«

Roman dachte kurz nach. »Letzte Woche, beim Italiener. Du hattest Antipasti und dann Spaghetti Carbonara. Zum Dessert eine Panna Cotta.«

»Das war ein Geschäftsessen! Und das weißt du verdammt noch mal auch sehr gut! Das hatte nichts, aber auch rein gar nichts, mit uns zu tun.«

»Du bist kleinlich. Andere Frauen wären …«

»Bin ich andere Frauen?« Julias Augen blitzten böse.

»Nein, natürlich nicht.« Er atmete hörbar ein. »Hör' zu: Es tut mir wirklich leid, dass wir nicht zu diesem Klassentreffen fahren können. Aber das wird ja nicht das letzte gewesen sein. Beim nächsten Mal klappt es ganz bestimmt!«

»Ich will aber nicht auf das nächste Mal warten. Wir haben bereits zugesagt. Das Hotelzimmer ist gebucht, meine Rede geschrieben. Kannst du dir auch nur annähernd vorstellen, wie viel Zeit ich schon investiert habe?“

„Noch mal: Es tut mir leid.“

So kam sie nicht weiter. Julia schob ihren Zorn beiseite und schlug einen bittenden Ton an. »Kann sich nicht einer von deinen Kollegen um die Spanier kümmern? Nur dieses eine Mal?«

»Ich habe mich doch nicht seit Wochen in die Materie eingearbeitet, um dann wegen eines Klassentreffens jemand anderes die Verhandlungen führen zu lassen. Wenn es dir so wichtig ist, musst du eben alleine fahren.«

»Wenn es mir so wichtig ist …?« Julia schnappte nach Luft. »Was willst du jetzt hören, mein lieber Roman? Nein, so wichtig ist es mir natürlich nicht, Liebling! Ich bleibe dann auch lieber hier und begleite dich zu diesem langweiligen, aber immens wichtigen Firmenessen mit den Spaniern? So, wie ich es schon seit Jahren mache? Weil dein Job und deine Klienten immer vorgehen?«

»Verdammt noch mal!« Roman schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Ich will gar nichts hören! Ich will jetzt in Ruhe meine Zeitung lesen. Mach' doch, was du willst. Das machst du doch sowieso am liebsten.«

Sekundenlang starrten sie sich an.

»Dann wäre das ja auch geklärt«, presste Julia schließlich hervor. Ein paar Tränen kullerten ihr über die Wange. Das hatte sie sich anders vorgestellt! Sie wollte doch gar nicht alleine auf das Klassentreffen gehen. Sie wollte Roman an ihrer Seite haben.

Vielleicht sogar ein bisschen mit diesem tollen Mann angeben, der ihr ganz allein gehörte. Der so verdammt gut aussah und erfolgreich war. Alleine würde sie sich unwohl fühlen und deplatziert zwischen all den Pärchen. Nein, alleine würde sie keinesfalls auf das Klassentreffen gehen. Ob sie noch mal …?

Ein Blick auf Roman genügte: Er hatte sich demonstrativ wieder in die Zeitung vertieft. Das Thema war für ihn ganz offensichtlich erledigt.

Maßlos enttäuscht verließ Julia den Raum.

***

Roman sah erst wieder auf, als die Zimmertür hinter Julia mit einem lauten Krachen ins Schloss gefallen war. Warum war sie in letzter Zeit bloß so hysterisch? »Vermutlich kriegt sie ihre Tage!«, murmelte er und setzte nach: »Gott sei Dank bin ich ein Mann.«

Mit einem Kopfschütteln legte er den Wirtschaftsteil zur Seite und warf einen Blick auf sein Handy. Der Terminassistent erinnerte ihn an das Meeting mit den Partnern aus Spanien. Es war für 9:30 Uhr angesetzt. Noch etwas mehr als eine Stunde für Rasieren, Duschen und das Memo lesen, das ihm Felizitas für diesen Termin zusammengestellt hatte. »Das wird knapp«, sagte Roman zu sich selbst und schob den Stuhl nach hinten. Im Stehen nahm er einen letzten Schluck Kaffee.

Memo und Mails würde er später durchsehen. Der Akku des Handys war ziemlich runter. Er musste ihn erst einmal laden. Nicht, dass sich das Gerät mangels Energie einfach abschaltete. Ohne war er aufgeschmissen. »Andererseits«, er grinste breit, »wäre das das beste Argument für ein neues.«

Er liebäugelte schon länger mit dem neuen 8er von Plum: 128 GB und 150g leicht. Multi-Touch-Display und LED - Hintergrundbeleuchtung, dazu eine komfortable Akku-Laufzeit und HD-Technologie, mit der Video-Konferenzen auch unterwegs die helle Freude wären.

Bisher hatte er sich Julias Veto gebeugt. »Musst du wirklich immer die neuesten Geräte haben? Dein Telefon funktioniert doch einwandfrei«, hatte sie gesagt. Schon allein der Begriff „Telefon“ ließ ihn erschaudern. »Was du Telefon nennst, sind leistungsstarke Computer im Taschenformat. Damit kann man auch telefonieren. Allerdings vermute ich, diese Funktion haben die Entwickler nur dabei gelassen, weil es immer noch Menschen wie dich gibt.

Ich habe damit alle Termine im Überblick, meine Kontakte und jederzeit Zugriff auf Unterlagen. Das Ding ist mein Office – ohne könnte ich überhaupt nicht mehr anständig arbeiten.«

»Weißt du eigentlich, wie umweltschädlich und menschenverachtend Produktion und Entsorgung sind?«

An diesem Punkt hatte er die Diskussion beendet. Natürlich war es ihm nicht egal, was da in den Minen und mit den Menschen passierte. Aber sollte er deswegen wieder trommeln? Oder Briefe schreiben? Was war denn dann mit den armen Bäumen, die zum Profit der Papierindustrie gefällt werden mussten? Jede Entwicklungsstufe hatte ihren Preis. Das war nicht zynisch, das war Tatsache – auch wenn Julia dem energisch widersprechen würde.

 

Von daher: »Memo an mich selbst«, diktierte Roman ins alte Handy. »Möglichst bald das 8er besorgen - weil Fortschritt nicht aufzuhalten ist und ich es mir wert bin.«

Es wäre die perfekte Belohnung für einen hoffentlich perfekten Deal mit den Spaniern.

2

Julia saß in ihrem Arbeitszimmer und hatte das Gesicht in die Hände gelegt. Was war bloß los mit ihr und Roman? Sie hatte den Eindruck, dass sie nur noch miteinander stritten. Ein normales Gespräch war kaum noch möglich. Und jedes Mal bügelte er sie mit einer Arroganz ab, die völlig unangebracht war. Sie war doch nicht sein Lehrmädchen oder sonst irgendein Depp. Sie war seine Frau!

Wo war der entspannte, ganz normale Roman, den sie vor 17 Jahren im Biergarten kennen und lieben gelernt hatte? Der sie mit einem selbst gepflückten Blumenstrauß überrascht und ihr ins Ohr geflüstert hatte: »Du bist das Wichtigste in meinem Leben!« Irgendwo zwischen besagtem Biergarten und heute war dieser Mann, vielleicht sogar die Liebe, auf der Karrierestrecke geblieben. Ob sie doch ein bisschen überreagierte? Sollte sie sich vielleicht bei ihm entschuldigen?

Eigentlich hatte sie keine Lust auf ein spöttisches »Na, hast du dich wieder beruhigt?« Roman nahm ihre emotionalen Ausbrüche selten ernst. Er huldigte der Ratio. Frauen, die heulend aus einem wie er es nannte »konstruktiven Gespräch« wegliefen, litten seiner Ansicht nach entweder unter PMS oder waren hysterisch. Ab einem gewissen Alter gestand er ihnen gnädig auch noch die Auswirkungen der Wechseljahre zu, was im Ergebnis nicht minder herablassend war. Nun war sie aber definitiv weder hysterisch noch in den Wechseljahren. PMS war aktuell auch nicht zu befürchten. Oder?

Julia blätterte in ihrem Kalender. »Mist, könnte doch sein ...«, murmelte sie. Sie war ein paar Tage überfällig! »Das ist dieser ganze Stress und Ärger«, schimpfte sie leise und klappte den Kalender energisch zu. »Nicht nur mein Eheleben ist aus dem Takt - mein Bio-Rhythmus ist es auch!« Dass Roman mit seiner frauenfeindlichen und absurden Theorie einen Treffer gelandet haben könnte, gefiel ihr gar nicht.

»Nein, dieses Mal muss er zuerst kommen. Sehe ich doch gar nicht ein«, murmelte sie. »Er hat mich egoistisch und selbstbezogen genannt. Wenn sich einer entschuldigen sollte, dann er!«

Das würde aber nie passieren und das wusste Julia. Roman entschuldigte sich nicht, solange er sich im Recht sah. Und eigentlich hatte Roman immer recht – glaubte Roman. In ein paar Tagen würde er mit einem großen Blumenstrauß ankommen und lapidar sagen: »Für dich. Weil du frische Blumen doch magst.«

Bis dahin wären aber Klassentreffen und dieses blöde Essen mit den Spaniern schon lange gewesen.

»Klassentreffen versus Geschäftspartner?«, schrieb Julia auf einen Zettel und kritzelte ein Muster daneben. »Nobelrestaurant – kaltes Buffet? Tanzen – Small Talk? Spanier – alte Freunde?« Sie warf den Stift auf die Schreibtischplatte. »Verdammt noch mal, ich bin nicht egoistisch! Ich werde es ihm beweisen!«

Sie griff nach der Einladungskarte und betrachtete sie wehmütig. Silhouetten von tanzenden Menschen – gute Laune in Schwarz und Pink. Die Neunziger ließen grüßen. »Ich brauche eine Ausrede! Mein Mann hat einen wichtigen Termin!« Julia schüttelte den Kopf. »Das klingt, als dürfte ich nicht alleine verreisen.« Zwei der drei auf der Karte abgebildeten Figuren hatten jetzt einen gemalten Bart; eine der Frauen trug jetzt Hut. »Vielleicht: Leider muss ich wegen eines überraschenden Geschäftstermins meine Teilnahme absagen. Das lässt zumindest offen, ob es mein oder sein Termin ist. Trotzdem doof.« Unzufrieden zerknüllte Julia nach einigen Minuten den Zettel mit diesen und anderen Entwürfen. »Ich nehme den Klassiker: Viruserkrankung. Ist wenigstens nicht ganz gelogen – nur ein bisschen übertrieben.« Seit Tagen war ihr ständig übel. Nicht so, dass sie das Treffen tatsächlich hätte absagen müssen. Eher latent und lästig. »Zumindest bleiben mir jetzt die klassischen Verlierer erspart, die vermutlich schon ihre zweite oder dritte Scheidung hinter sich haben und einen aufgewärmten Flirt anno 1995 suchen.«

Es war ein schwacher Trost, zugegeben, aber besser als nichts. Sie würde das freie Wochenende als geschenkte Zeit annehmen. Zeit, die sie darauf verwenden wollte, Ordnung auf ihrem Schreibtisch und in ihren Unterlagen zu schaffen. Ihr Arbeitsplatz war übersät mit kleinen, bunten Klebezetteln. Wichtige und flüchtige Notizen, manche längst übertragen, manche längst überholt; andere, die unbedingt noch gebraucht wurden; die, die sie schon gesucht, aber im Durcheinander nicht gefunden hatte.

Nach dem Klassentreffen hatte sie anfangen wollen, nun würde sie eben schon heute damit beginnen. »Was du heute kannst besorgen ... « Je eher sie hier Ordnung gemacht haben würde, desto früher konnten auch für sie die Sommerferien beginnen.

Für die nächsten Tage war sommerlich warmes Wetter angekündigt. Ideal, um sich ein Plätzchen im Garten zu suchen und endlich mal wieder ein gutes Buch zu lesen.

Nicht mehr ganz so lustlos griff sie nach dem ersten Stapel lose aufeinanderliegender Blätter. Im gleichmäßigen Surren des Aktenvernichters schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Mal weilten sie in Sichtweite des Stapels mit ungelesenen Büchern, mal sprangen sie zurück zu dem hässlichen Streit mit Roman. Heimlich gestand sie ein, dass sie eindeutig ein ganz klitzekleines bisschen hysterisch gewesen war.

Es war nicht Romans Schuld, dass die Spanier drei Tage zu früh gekommen waren; dass er deswegen nicht freimachen konnte und heute Abend mit den Sigñores und Sigñoras im noblen Restaurant Business & More speisen musste.

Roman hatte sich darauf gefreut, mit auf ihr auf das Klassentreffen zu fahren. Ok, vielleicht nicht ganz so sehr, wie sie sich darauf gefreut hatte. Aber egal – gefreut ist gefreut!

Was nichts an der Tatsache änderte, dass es schon wieder ordentlich gekracht hatte. Diese permanenten Streitereien wegen nahezu allem waren schon fast Alltag Ob es bei ihnen anders laufen würde, wenn sie eine richtige Familie geworden wären? Irgendwie hatten sie nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, um eine Familie zu gründen. Während des Studiums waren Kinder kein Thema gewesen, danach hatte sie erst einmal beruflich durchstarten wollen. Roman war damit einverstanden gewesen.

»Liebling, ich habe doch dich! Ich brauche kein Baby!«

»Du bist süß!«, hatte sie ihm geantwortet. »Aber bis ich dreißig bin, haben wir eine ganz große Familie. Mindestens drei Kinder. Das verspreche ich dir.«

Er hatte gelächelt und ihr einen sanften Kuss auf die Wange gegeben. »Wir werden sehen, Liebes.«

Als Julias Kollegin letztes Jahr ein Baby bekam, war Julia hellauf begeistert gewesen. »Ich will auch endlich ein Baby«, hatte sie zu Roman gesagt.. »Die kleine Luise ist zum Anbeißen süß. Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr hergegeben.«

»Ein eigenes Baby?« Roman sah sie völlig entgeistert an. »Liebling, das ist kein guter Zeitpunkt!«

»Wenn wir uns immer nur um den besten Zeitpunkt Gedanken machen, werden wir nie Eltern.«

»Und, was wäre daran so schlimm?«

»Was daran schlimm wäre?« Jetzt war es Julia, die entgeistert guckte. »Schon vor unserer Hochzeit haben wir uns Kinder gewünscht. Mittlerweile sind wir fünfzehn Jahre verheiratet, haben ein wunderschönes Haus mit Garten und verdienen endlich genug Geld, um …«

»Du hast dir Kinder gewünscht«, unterbrach er sie sanft.

»Du nicht?«

Er lachte kurz auf. »Ich brauche kein Baby! So ein kleiner Scheißer schreit den ganzen Tag, macht die Hosen voll und sabbert.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!« Hatte er das wirklich gesagt?

»Julia, wir haben doch ein tolles Leben.« Er zog sie zu sich und sah ihr direkt in die Augen. »Wir können kommen und gehen, wie es uns gefällt. Können verreisen, wann und wohin wir wollen. Nichts stört unsere Nachtruhe und wenn wir den ganzen Tag im Bett bleiben wollen, ist das auch in Ordnung. Außerdem«, er strich ihr über die Brüste hinunter zum Bauch und bis hin zu den Oberschenkeln. »Das ist alles so schön straff und in Form. Willst du wirklich …«

Julia schlug seine Hand weg und machte einen Schritt zurück. »Deswegen willst du kein Kind? Damit meine Brüste nicht hängen und der Bauch flach bleibt?«

»Wenn du das sagst, klingt es, als wäre es ein Verbrechen, keine Kinder haben zu wollen.«

»Du hast mir jahrelang was vorgemacht. Du hast mich belogen, betrogen …« Julia rang nach Worten.

»Dein Hang zu Dramatik ist bewundernswert.« Er sah sie nachsichtig an. »Und jetzt krieg dich wieder ein. Wie gesagt, wir hatten doch bisher ein gutes Leben ohne Kind!«

Sie war fast vierzig und beinahe zu alt für ein Baby. Roman und sie führten ein Leben zwischen Klienten, Besprechungen und Dienstreisen; ein Leben, in dem ein Kind, zumindest seiner Meinung nach, keinen Platz hatte.

3

Roman war schnell unter die Dusche gesprungen. Nachdem er das Memo doch kurz überflogen hatte, wollte er möglichst rasch in die Kanzlei. Es gab da eine Passage, die ihm nicht schlüssig schien. Das wollte er unbedingt noch mit Felizitas klären – vor der Besprechung.

Nun stand er händeringend vor seinem Kleiderschrank und die gewonnene Zeit verrann sinnlos und ungenutzt. Julia hatte seine Hemden noch nicht aus der Reinigung abgeholt, stellte er missmutig fest. Zwar war die Auswahl groß, doch es war kein weißes Hemd darunter.

»Lindgrün? Nicht zum dunkelblauen Sakko«, murmelte er. »Creme? Nicht gerade perfekt, aber eine vertretbare Notlösung.« Beim dritten Knopf entdeckte er den kleinen Kaffeefleck. Verärgert riss er das Hemd über den Kopf, ließ es auf den Boden fallen, griff widerwillig das hellblaue. Auch, wenn es hervorragend passte und seine eisblauen Augen noch eine Spur mehr strahlen ließ … Seit die Männer von der Firmensecurity blaue Hemden trugen, war diese Farbe einfach keine Option mehr. Warum hing das Teil überhaupt noch im Schrank? »Weil Julia der Meinung ist, es wäre zu schade für die Altkleidersammlung«, murrte er unwirsch und warf es zusammengeknüllt zu den anderen auf den Boden.

Natürlich würde man ihn niemals für einen der Sicherheitsleute halten. Seine Anzüge sprachen eine völlig andere Sprache als die Uniformen aus billigem Synthetikgewebe. Natürlich konnte er trotzdem hellblaue Hemden tragen. Und natürlich konnte er … »Ich will aber nicht!«, sagte er verbissen und spürte, wie die Ader an der Schläfe anschwoll und das Blut aggressiv zu pulsieren begann. Die Zeit saß ihm im Nacken und er hatte nichts anzuziehen.

Verdammt, warum hatte Julia die weißen Hemden nicht abgeholt? Sie das allerdings ausgerechnet jetzt zu fragen, wäre keine gute Idee - das war sogar ihm klar. Nach ihrem Wutausbruch hatte sie sich wie immer, wenn ihr etwas nicht passte, in ihrem Arbeitszimmer verschanzt. In letzter Zeit schien sie solche Ausbrüche regelrecht zu lieben. Sie regte sich über jede Kleinigkeit auf und nörgelte ständig an ihm und seinem Job herum. Dass dieser Job – zugegeben mit häufig miesen Arbeitszeiten – ihnen ein sorgloses Leben garantierte, ignorierte sie dabei geflissentlich. Die teuren Restaurants, das ein oder andere Designerkleid … Was glaubte sie eigentlich, wer das bezahlte? Sie mit ihrem Teilzeit-Lehrergehalt doch mal sicher nicht.

»Nicht weiter darüber nachdenken«, rief er sich selbst zur Ruhe. Er war wütend, ja, aber er wollte sich da jetzt auf keinen Fall noch mehr reinsteigern. Das würde ihn nur ablenken und dafür war das anstehende Meeting einfach zu wichtig. Wenn sich Julia bis heute Abend nicht wieder abgeregt haben würde, dann musste und würde er reagieren. So wie in den letzten Wochen wollte er jedenfalls nicht weitermachen. Das war keine Ehe, das war eine Katastrophe!

Energisch warf er die Kleiderschranktür zu. Julia sollte ruhig hören, wie wütend sie ihn mit ihrem Gezeter gemacht hatte. Vielleicht würde sie dann mal endlich über ihr Verhalten nachdenken und käme von selbst darauf, wie lächerlich das Ganze eigentlich war.

***

Das Türenschlagen am Schrank war nicht zu überhören. Julia bemühte sich eisern, es zu ignorieren. Vermutlich suchte Roman nach einem Hemd. Roman suchte jeden Morgen nach dem richtigen Hemd, denn diesbezüglich hatte er seine ganz eigene Philosophie: dieses für Besprechungen mit den Mitarbeitern, jenes für Meetings mit Klienten, solches für Vertragsverhandlungen.

 

»Und alle sind sie weiß!«, murmelte Julia. Aus dem romantischen Jurastudenten war ein erfolgreicher Lifestyle-Anwalt geworden; Arbeit, Klienten, Prestige und Statussymbole bestimmten sein Leben: Es musste das entsprechende Auto sein, das richtige Logo auf dem Hemd, die unverwechselbare Gürtelschnalle. »Das ist das Geheimnis meines Erfolgs. Du bist, wie du auftrittst. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance.«

Selbstverständlich sollte er sich schick anziehen und sich natürlich auch den Gepflogenheiten seines Berufsstandes anpassen. Aber man konnte es auch übertreiben. Wer brauchte zwanzig weiße Designer-Hemden und und ein Fünfzehn-Liter-Auto?

Leider hatte gestern die Reinigung wegen eines Betriebsausfluges geschlossen. Julia wollte Roman noch vorgewarnt haben, dass die Auswahl seiner »weißen Kollektion« beschränkt war. Der Streit um das verpatzte Wochenende war dazwischen gekommen. »Pech gehabt!«, dachte sie. »Aber du bist ja ein kluger Kerl und wirst es merken.«

Julia griff seufzend den nächsten Papierstapel, um ihn durchzusehen, da klingelte das Telefon. Ohne den Blick von den Papieren zu nehmen, nahm sie den Hörer auf. »Hallo? Hier Baker!«

»Hi Süße, ich bin's. Wollte dir nur eben noch ganz viel Spaß wünschen für den heutigen Abend.«

»Danke, Sonja, sehr lieb von dir – Moment mal grade …« Julia legte das Telefon zur Seite und schloss die Tür zu ihrem Arbeitszimmer. Der Duft von Romans Aftershave zog um die Ecke und schaffte trotz der räumlichen Distanz eine Nähe, die sie nicht haben wollte. Abgesehen davon lag ihr nichts daran, dass er ihr Gespräch mit Sonja belauschte. Dass sie ihrer Freundin vieles anvertraute, was Roman für ausschließlich privat erachtete, missfiel ihm gehörig. Und an einem weiteren Streit – weder über die fehlenden Hemden, noch über geteilte Geheimnisse – hatte sie im Augenblick so gar kein Interesse. Ihr Bedarf an Streitereien war schon lange gedeckt.

***

Als das Telefon läutete, sah Roman zur Uhr. Ob Felizitas versuchte, ihn zu erreichen? Vielleicht hatte sich der Termin verschoben? Oder war er wegen der unsäglichen Hemdensuche jetzt doch schon zu spät? Eilig warf er einen Blick auf die Badezimmeruhr. Es war knapp, aber noch würde er pünktlich zum Termin erscheinen. Es musste etwas anderes …

Im selben Augenblick schloss Julia die Tür zu ihrem Arbeitszimmer. Er konnte hören, dass sie sprach, aber leider nicht mit wem. Gut! Das Telefonat war also nicht für ihn. Das hieß zumindest, dass in der Firma und mit dem Termin alles in Ordnung war. Aber warum schloss Julia die Tür? Hatte sie jetzt auch noch Geheimnisse vor ihm?

»Sie hat einen anderen«, schoss es ihm durch den Kopf. Aber sofort schüttelte er amüsiert den Kopf. Quatsch! Wer Geheimnisse hat, der muss auch lügen können. Und Julia konnte nicht lügen. Sie bekam nur bei dem Versuch schon einen roten Kopf und fing an zu stammeln. Andererseits wäre es eine Erklärung für ihr abweisendes und übellauniges Verhalten ihm gegenüber in der letzten Zeit. Hatte sie ihm nicht kürzlich erst mit Scheidung gedroht?

»Ich hab überhaupt nichts geahnt!«, hatte ein Kollege aus der Rechtsabteilung kürzlich gesagt. Es war eines dieser Gespräche, die während einer Pause im Meeting aufkommen. Er hatte den Mann nur unverbindlich gefragt, wie es ihm denn so ginge. »Es könnte besser sein«, druckste der Kollege herum, bevor er dann doch noch nachsetzte: »Meine Frau hat die Scheidung eingereicht und ist letzte Woche zu ihrem neuen Freund gezogen.«

»Das tut mir leid.« Roman war nicht wirklich betroffen gewesen, wollte aber wenigstens höflich sein.

»Danke. Der Job … Sie wissen das ja selbst. Morgens früh aus dem Haus, abends spät heim. Arbeit auch am Wochenende: Meetings, Geschäftsessen, und dann gehe ich ja auch noch regelmäßig ins Fitness-Center. Sie hat gesagt, sie fühlt sich alleine gelassen und nicht mehr geliebt.«

Roman führte dasselbe Leben. Wie konnte er sich also sicher sein, dass Julia nicht ebenso empfand wie die Frau? »Das hätte ich doch gemerkt. Und sie hätte auch bestimmt schon mal was gesagt.« Julia war ja nicht schüchtern. Wenn ihr etwas nicht passte, konnte sie ziemlich ungemütlich werden.

»Sie hat in letzter Zeit ziemlich viel gemeckert.«

»Das war doch nur Geplänkel!« War es das wirklich? Auf einmal tauchten Bilder auf und Gesprächsfetzen, die durchaus auch anders interpretiert werden konnten. »Du machst immer nur deinen Kram. Und wenn es schief geht, dann bringst du eben ein paar Blumen mit. Ist ja ganz einfach! Aber ändern tut sich gar nichts. Ich möchte wetten, in ein paar Tagen stehen wir wieder genauso hier, wie jetzt.« Sie hatte die langstieligen Rosen achtlos auf den Tisch gelegt. »Roman, wie lange soll das noch gut gehen?«

Vor zwei Wochen war das gewesen.

Roman fühlte sich plötzlich unwohl. Die Richtung, die seine Gedanken nahmen, gefiel ihm nicht. Er wollte sich ein Leben ohne Julia nicht einmal im Ansatz vorstellen. »Muss ich auch nicht«, beruhigte er sich selbst. »Es ist nur alles gerade ein bisschen viel!« Er atmete tief ein. Sie hatten gestritten, er war nicht ganz fair gewesen, ein Wort hatte das andere gegeben. Das sollte man nicht überbewerten. Und eigentlich hatte sie ihm ja auch gar nicht gedroht. Sie hatte im Zorn darauf hingewiesen, dass man im Falle eines Falles im Telefonbuch einen Anwalt finden konnte.

»Wir sollten mal wieder Urlaub machen? Möglichst weit weg. Thailand soll schön sein. Und traumhafte Strände haben.« Roman nahm sich vor, die Sache gleich nachdem die Spanier abgereist waren, in die Hand zu nehmen. Er hatte schon lange vorgehabt, den Tauchschein zu machen. Khao Lak? Phuket? Oder doch auf Phi Phi? »Ich werde darüber nachdenken.«

Die Sicherheit gewann wieder die Oberhand. Vermutlich war es einfach nur Sonja, Julias beste Freundin, die am Telefon war. Sie wusste schließlich, dass Julia und er heute zu diesem Klassentreffen hatten fahren wollen. »Wobei ich jetzt nicht wirklich enttäuscht bin, weil das ausfällt«, murmelte Roman. Es gab definitiv spannendere Ereignisse als eine Feier, bei der sich alle wie auf einem Kindergeburtstag benahmen, weil sie sich plötzlich wieder ganz jung fühlten.

Julia würde jetzt ordentlich vom Leder ziehen und ihrer besten Freundin vorjammern, dass sie nicht fahren würden. Würde sich beklagen, wie schlecht und gemein ihr Ehemann war und obendrein ein doofer Karriererist. »Soll sie doch«, brummte Roman. »Wenn sie sich danach besser fühlt.« Sonja würde ihren Job als beste Freundin wie immer ernst nehmen und intensiv ins selbe Horn blasen. Aber was Sonja sagte oder von ihm dachte, war ihm wirklich mehr als egal. Ebenso egal wie das, was die beiden Frauen sich sonst noch zu erzählen hatten. Handtaschen, Schuhe, Maniküre – der ganze Weiberkram eben. Das war es nun wirklich nicht wert, dass er es belauschen wollte.

Roman griff nach seiner Aktentasche und legte sich das Jackett über den Arm. Vor Julias Zimmer zögerte er kurz. Sollte er nett sein, klopfen und wenigstens kurz auf Wiedersehen sagen? Nein, entschied er. Sie hatte sich in ihr Arbeitszimmer verkrochen. Sie hatte die Tür geschlossen – und hatte damit ein mehr als deutliches Zeichen gesetzt.

Nein! Er hatte es beileibe nicht nötig, zu Kreuze zu kriechen.

Auf dem Weg über den Hof bedachte er Julias Wagen mit einem abschätzigen Blick. Wie gerne würde er die Schrottkarre lieber heute als morgen gegen einen repräsentativen Geländewagen eintauschen. Einen mit Automatikgetriebe, denn Julia verstand das Zusammenspiel von Kupplung und Gas sowieso nicht.

Das Problem war diese frauentypische emotionale Bindung zwischen Julia und ihrem Auto. »Es ist mir egal, ob die Leuten denken, wir könnten uns kein besseres leisten. Dieses Auto fahre ich seit zehn Jahren. Es hat mich nie im Stich gelassen“, schmetterte sie seine Vorstöße regelmäßig ab, um dann mit vorwurfsvollem Unterton nachzusetzen: »Damit sind wir damals an den Bodensee gefahren. Erinnerst du dich nicht?« Und wie er sich erinnerte: 45 magere PS, die sich mühsam über jeden Hügel quälten und Sitze ohne jeden Komfort; eine defekte Klimaanlage und Stoßdämpfer, die diese Bezeichnung nicht verdienten. War es wirklich zu viel verlangt, dass sie ein bisschen Rücksicht auf sein Ansehen nahm? Er erwartete doch nur, dass sie sich ein Stück dem anpasste, was er repräsentierte: Erfolg und Lifestyle. »Aber gut!«, murmelte er. »Wenn sie sich partout keinen anderen Wagen aussuchen will …« Er grinste unwillkürlich: Julias Geburtstag war in zwei Monaten. Ein Geschenk würde sie wohl kaum ablehnen können.

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