Auch Schmetterlinge können sterben

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Julia fiel die noch ausstehende Nachricht an Roman ein. Damit war sie wieder in der Gegenwart angekommen. Dort, wo es kein gemeinsames Kind gab und Roman vor lauter Arbeit nicht einmal Zeit für sie oder Freunde hatte. Wo eine Familie Baker beinahe so unvorstellbar war wie Frieden für alle oder Strom ohne Atomkraftwerke.

Lustlos kramte sie das Handy aus der Tasche. “Hallo Roman, bin auf dem Weg zum Klassentreffen. Bin morgen Abend zurück. Sonja hat angeboten, dich zum spanischen Dinner zu begleiten. Gönn' ihr den Spaß und sei nett zu ihr. Gruß Julia“

»Nicht gerade liebevoll und romantisch«, resümierte sie beim Drüberlesen und war kurz versucht, wenigstens noch ein Herzchen oder ein Grinsegesicht einzusetzen. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gewissen. Vor einer Stunde war da noch so viel Trauer gewesen um die verlorenen romantisch-schönen alten Zeiten und jetzt gab sie sich selbst beinahe unpersönlich und sehr distanziert. »Es braucht immer zwei«, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Julia schluckte. Es musste sich etwas ändern, soviel war klar. »Aber nicht heute!« Sie drückte auf senden und schaltete das Telefon aus. »So, ich bin dann mal weg!«, sagte sie leise. Weg auf einem Ausflug zurück in eine Zeit, da die Probleme Matheklausur und ungespitzer Kajalstift hießen und nicht Roman und Beziehungskrise.

***

Die Autobahn war wenig befahren. »Ungewöhnlich für einen Ferien-Freitag«, dachte Julia, »aber mir soll es recht sein.« Vermutlich waren meisten Urlauber schon in der Nacht auf die Reise gegangen. Jetzt teilte sie sich die dreispurige Autobahn mit wenigen LKW, die auf der rechten Spur in einer Art Kolonne unterwegs waren, ein paar Campingwagen auf dem Weg an die See und dem ein oder anderen Kleintransporter, der eilig an ihr vorbeizog.

Julia genoss den Blick über gelb leuchtende Rapsfelder und grünen Waldgebiete. Schade nur, dass sie allein unterwegs war und die Begeisterung für so viel Schönheit mit niemandem teilen konnte.

»Das hat mir gerade noch gefehlt.« Eilig drückte Julia den aktuellen Sender weg. »Dich, mein lieber Enrique, will ich jetzt ganz bestimmt nicht hören. Deine Landsmänner haben meinen Plan von einer gemeinsamen Tour mit Roman aufs Übelste durchkreuzt. Wären die wie geplant gekommen, dann säße mein Mann, der sich diese beiden Tage extra freigenommen hat, nämlich jetzt neben mir.« Auf halber Strecke wären sie abgefahren und hätten sich abseits der Autobahn ein ausgiebiges zweites Frühstück gegönnt. Dabei hätte sie ihm, sozusagen zur Einstimmung auf das Klassentreffen, ein paar Anekdoten erzählt von damals, als sie kurz vor dem Abitur stand: Von Oberstudienrat Kramer, der Latein so gut sprach wie Deutsch und Alt-Griechisch; von Dr. Kriegesbaum, der seinem Namen alle Ehre machte und von den Schülern hinter vorgehaltener Hand »Dr. Friedenseiche« genannt worden war. Sie hätte Frau Dr. Bach, die Biologielehrerin, die jedes Mal einen roten Kopf bekam, wenn es um Sexualität und Fortpflanzung ging, erwähnt und ihm vielleicht sogar von Sebastian erzählt, dem Jungen, in den sie lange verliebt gewesen war, ohne dass der jemals davon erfahren hatte. Sie hätte von rückblickend gar nicht so wilden Feten gesprochen, geschwänzten Seminaren oder Rebeccas angeblicher Schwangerschaft sieben Wochen vor dem Abiturtermin, die sie völlig panisch hatte werden lassen.

Ja, es hätte viel zu erzählen gegeben. »Hätte, wenn ... Es ist, wie es ist!«, seufzte Julia und verscheuchte die wehmütigen Gedanken mit einem breiten Grinsen in den Rückspiegel. »Ich erzähle es ihm morgen. Oder wenn die Spanier wieder weg sind.« Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Roman bis zum Ende der Verhandlungen mit seinen Gedanken nicht bei ihr und ihren Geschichten sein würde. Da gingen ihm nur wirklich wichtige Dinge durch den Kopf und für ein paar abstruse Storys aus der Vergangenheit wäre weder Platz noch Muße.

8

Roman verließ gegen 17:45 Uhr die Kanzlei. Felizitas hatte ihm dezent, aber unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es jetzt an der Zeit war, nach Hause zu gehen. »Übertreiben Sie es nicht«, meinte sie lächelnd. »Sie haben schon das Wochenende abgesagt.«

»Aber ich würde schon gerne noch diesen Vertrag …«

»Herr Baker, der Vertrag hat Zeit bis nächste Woche!« Sie drückte ihm den Blumenstrauß in die Hand. »Eine schöne Frau lässt man nicht warten. Schon gar nicht, wenn man Blumen mitbringt, um sich zu entschuldigen.«

»Es gibt keinen Grund, weswegen ich mich entschuldigen müsste. Die Blumen sind eher als Trostpflaster gedacht.«

»Natürlich, Chef!« Fast ein bisschen aufdringlich hielt sie ihm die Jacke hin. »Auf Wiedersehen! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«

»Danke, ich hoffe doch sehr, dass ich die Spanier auch ohne Ihre Unterstützung von unseren Vorstellungen überzeugen kann.«

»Ich meinte nicht unbedingt die Verhandlungen mit den Spaniern.«

»Oh – na ja, dann nochmals danke. In diesem Fall können ein paar gute Wünsche vermutlich auch nicht schaden.«

***

»Bin wieder da!« Erwartungsvoll blieb Roman eine gute halbe Stunde später in der Eingangstür stehen. Als sich im Haus nichts rührte, setzte er noch einmal nach: »Julia? Wo steckst du? Dein Mann ist nach Hause gekommen und hat dir etwas mitgebracht.« In der Hand hielt er einen beeindruckend großen Blumenstrauß – bunte Gerbera, gelbe und zart rosafarbene Röschen, dazwischen üppiges Grün.

»Deine Frau ist nicht da!«

Roman fuhr herum. Hinter ihm hatte Sonja den Hof betreten. Sie trug ein sehr knappes und eng anliegendes Kleid aus cremefarbener Seide. Die Pumps hielt sie lässig in der Hand und tänzelte auf Zehenspitzen über den Kiesweg.

Roman ließ die Hand mit dem Blumenstrauß sinken und sah Sonja irritiert an. »Julia ist weg?«

»Habe ich doch gesagt.« Sonja schenkte ihm einen Augenaufschlag, der jeden anderen Mann sofort in die Knie gezwungen hätte. »Sie ist zum Klassentreffen gefahren. Hat sie dir nicht Bescheid gesagt?« Geschmeidig drängelte sie sich an ihm vorbei ins Haus. »Sie wollte dir eine Nachricht aufs Handy schicken«, meinte sie beiläufig.

»Habe ich dich hereingebeten?«, fragte er ihre Anspielung ignorierend.

»Die Tür war offen.«

Als würde sie erst jetzt den wunderbaren Blumenstrauß entdecken, streckte sie beide Hände danach aus und meinte: »Da hat sich deine Sekretärin aber gehörig ins Zeug gelegt – Respekt! Gib her, ich stelle die armen Blumen ins Wasser, damit sie morgen nicht schon die Köpfchen hängen lassen. Gehe ich recht in der Annahme, dass du damit den Hausfrieden und das eheliche Glück wieder herstellen willst?« Sie nahm dem verdutzten Roman den Strauß ab und ging zielstrebig in Küche.

Nachdem er sich ein wenig gesammelt hatte, folgte ihr Roman. Im Türrahmen blieb er stehen und sah ihr einen Augenblick lang schweigend und zunehmend missmutig zu, wie sie suchend jede Schranktür und jede Lade öffnete. »Die Vasen stehen hinten im Schrank.«

Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Nur Dinge, die man selten oder gar nicht braucht, stehen ganz hinten im Schrank. Wenn ich dir also einen gut gemeinten Rat geben darf, lieber Roman: Bring öfter Blumen mit! Das hebt im Übrigen auch die Stimmung.«

»Wieso weißt du, dass Julia zum Klassentreffen gefahren ist und ich nicht?«

»Weil ich ihre beste Freundin bin? Weil ich keinen Streit mit ihr habe?« Geschäftig nestelte sie an den Blumen, zupfte hier ein bisschen, arrangierte dort ein wenig.

»Jetzt ist es aber mal gut!«, brauste Roman auf. Ihr Getue ging ihm zusehends auf die Nerven. »Das war kein Streit, sondern lediglich eine konstruktive Unterhaltung …«

»Und außerdem bist du ihr Ehemann und hast natürlich ein Recht darauf zu erfahren, ob, wann und mit wem deine Frau zu einem Klassentreffen fährt.« Sonja verzog die Mundwinkel

zu einem spöttischen Lächeln. »Willkommen in der Moderne, mein lieber Roman. Frauen sind heute selbstständig und unabhängig – zumindest in unseren Graden und das sogar, wenn sie verheiratet sind.« Sie ging auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen.

»Das ist doch überhaupt nicht das Thema«, gab er brüsk zurück. Der süße, fast schon betäubende Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Ehe er es verhindern konnte, glitten ihre Hände sanft tastend über seinen Oberkörper. Sonja nestelte das Handy aus der Brusttasche und warf einen neugierigen Blick darauf. »Zwanzig Nachrichten in Abwesenheit … gut, die werden nicht alle von Julia sein. Oder doch?« Mit einem spöttischen Lächeln reichte sie ihm das Gerät. »Sie ist so eine Brave! Ich bin mir sicher, sie hat sich ordnungsgemäß abgemeldet.«

Roman ließ sich nicht auf ihre Provokation ein. Wortlos nahm er ihr das Telefon ab und überflog das Sammelsurium von Grüßen, Geschäftsmails und Werbebotschaften, die sich über Tag angesammelt hatten.

“Hallo Roman, bin auf dem Weg zum Klassentreffen. Bin morgen Abend zurück. Sonja hat sich angeboten, dich zum spanischen Dinner zu begleiten. Gönn' ihr den Spaß und sei nett zu ihr. Gruß Julia".

Sonja hatte also recht. Und sie wollte mit zum Dinner. Das erklärte ihren überraschenden Auftritt, das schicke Kleid und die Pumps. Sie sah gut aus, gestand er sich widerwillig ein – verdammt gut! Unbestreitbar wusste sie ihre Vorzüge zu unterstreichen und sich in Szene zu setzen.

»Und? Darf ich mit?«, reagierte sie auf seinen prüfenden Blick.

»Nein!«

»Ich liebe Paella und Vino«, argumentierte Sonja, »und mein Spanisch ist bueno.«

»Es wird keine Paella geben und auf deine rudimentären Spanischkenntnisse kann durchaus verzichtet werden. Die Gespräche werden in Englisch geführt.« Roman wandte sich demonstrativ ab und löste den Knoten der Krawatte. »Ich muss jetzt erst einmal unter die Dusche. Du weißt ja, wo der Ausgang ist.«

 

9

Julia hatte ihr Ziel erreicht. Sie stellte den Wagen auf dem Parkplatz hinter dem kleinen Hotel ab. Die Erinnerungen an eine nahezu unbeschwerte Kinder- und Jugendzeit überwältigten sie für einen kurzen Augenblick. Ihr Elternhaus stand ein paar Querstraßen weiter; das Gymnasium war mit dem Bus knapp zwanzig Minuten entfernt. Paul, ihre erste große Liebe – damals war sie vierzehn – hatte sie an der Bushaltestelle gefragt, ob sie mit ihm gehen wolle und dann geküsst.

Julia lachte bei dem Gedanken daran laut auf. Unbeholfene Zungen, viel zu viel Spucke und Zahnspangen – nichts war so, wie sie es sich in ihren romantischen Mädchenträumen vorgestellt hatte. Aber gekribbelt hatte es trotzdem, was vielleicht auch daran lag, dass Paul gleich noch seine Hand unter ihr Shirt geschoben hatte. Die Beziehung hielt nur wenige Wochen. Mit einer schäbigen SMS hatte Paul Schluss gemacht: »Weil ich jetzt Sabine liebe.« Sie hatte tagelang geweint und ihr Tagebuch mit traurigen Gedichten gefüllt. »Wo Herz auf Schmerz gereimt, brach, was dereinst geeint.« Es war der einzige Vers, an den sie sich auch nach so vielen Jahren noch erinnern konnte. »Ich muss unbedingt das Tagebuch rauskramen, wenn ich wieder Zuhause bin!«, kicherte Julia und zog die Reisetasche schwungvoll vom Beifahrersitz.

***

In der kleinen Hotellobby war es angenehm kühl. Das Weiß des Mobiliars und der Wände stand in modernem Kontrast zum warmen Holz der Dielen und Deckenbalken. Hinter dem Tresen lächelte sie eine Frau in den Sechzigern freundlich an. »Herzlich Willkommen im Kleinen Hotel. Sie haben reserviert?«

»Guten Tag! Ja, Baker. Eine Übernachtung.« Julia legte die Reservierungsbestätigung vor. Nach einem prüfenden Blick in den Computer griff die Damen hinter sich an das Schlüsselbrett. »Zimmer 12 – erstes OG. Und hier ist die Gästeanmeldung. Wenn Sie das bitte noch ausfüllen möchten. Ist Ihr Mann noch am Wagen?«

»Nein, ich bin alleine angereist. Entschuldigung!« Julia sah die Frau bedauernd an. »Ein unvorhergesehener Geschäftstermin …«

»Das ist aber schade.« Die Frau tätschelte ihr warmherzig die Hand. »Sind Sie auf der Durchreise oder was führt Sie in unsere kleine Stadt?«

»Ich bin hier aufgewachsen«, gab Julia ehrlich zurück. »Ist allerdings schon ein paar Jahre her. Jetzt bin ich zum Klassentreffen für einen Tag zurück.«

Die Dame sah sie unverhohlen neugierig an, warf einen Blick auf das Anmeldeformular und entdeckte mit geübten Auge Julias Geburtsnamen. »Dann sind Sie die Julia Dörr aus der Michelsgasse? Die Tochter von Erika und Josef?« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Mein Gott, Kind. Gut schaust du aus.« Julia ließ überrumpelt eine freundliche Umarmung über sich ergehen. »Wie lange ist das jetzt her seit deine Eltern – Gott hab sie selig …«

»Entschuldigung, aber ich …«

»Ich bin die Elke Scheuner – die Mama vom Paul. Erinnerst du dich nicht mehr?«

»An Paul? Aber na klar.« Und jetzt auch wieder an Elke. Sie hatte sie vom ersten Tag an wie eine Tochter aufgenommen und mit selbstgebackenem Kuchen und Fruchtsäften verwöhnt. Vermutlich war sie ebenso traurig wie Julia gewesen, als Paul sich Sabine zuwandte. Wie viele Töchter ihr Paul wohl im Laufe der Jahre beschert hatte? »Ach, das ist alles schon lange her, Elke!« Automatisch war Julia zum Du übergegangen. »Wie geht es Paul denn?« Nicht, dass sie das wirklich interessierte, aber sie wollte auch nicht unhöflich sein. Elke winkte ab. »Dem geht` s gut! Hat eine Finca im Norden von Spanien und züchtet jetzt Schafe … mit seinem Partner«, setzte Elke etwas leiser nach. Julia sah sie fragend an. Elke zuckte mit den Schultern. »Der Julio ist ein netter Kerl. Halt nicht die Schwiegertochter, die ich mir gewünscht habe«, lächelte sie ein wenig gequält. »Und Enkelkinder kriege ich nun auch nicht.« Elke machte eine nachdenkliche Pause. »Wenn du magst, können wir ja später noch ein bisschen über die alten Zeiten plaudern. Jetzt möchtest du bestimmt erst einmal auspacken und dich ein wenig frisch machen.« Sie deutete auf den Treppenaufgang neben der Rezeption. »Einen Aufzug haben wir nicht. Also die Treppe hoch und dann links.«

»Das werde ich finden.« Julia ließ den Zimmerschlüssel in ihre Hosentasche gleiten und hob das Gepäck an. »Bis später!« Sie war neugierig, ein bisschen durcheinander von Elkes Geschichten und schlagartig ziemlich müde.

10

Roman wischte mit dem Handtuch über den beschlagenen Spiegel im Badezimmer. Ein prüfender Blick und er entschied, dass eine Rasur nicht nötig war. Die dunklen Schatten des Halbtagebarts gaben seinem Gesicht einen leicht verwegenen Ausdruck, der besonders bei den Damen immer sehr gut ankam. Er beschränkte sich auf die Basics, benutzte die neutrale Gesichtscreme und das exklusive Deodorant mit dem Duft nach Zedernholz und Männlichkeit. Dass er anschließend schon wieder den Kleiderschrank durchsuchen musste, vermieste ihm augenblicklich erneut die Laune, nicht zuletzt auch deswegen, weil der Anblick des Hemdenhaufens vom Morgen ihn nur allzu deutlich daran erinnerte, dass er kein weißes Hemd im Schrank finden würde. Als er im hintersten Winkel doch noch fündig wurde, verschwand die Zornesfalte über seiner Nasenwurzel langsam. Er stellte noch einmal die Brause an. Im heißen Wasserdampf würde das Hemd sich hoffentlich schnell aushängen. Wenn nicht, würde er das Jackett den ganzen Abend anlassen. Er schlüpfte in die dunkelblaue Anzughose und tappte auf nackten Füßen und mit freiem Oberkörper durch den Flur in die Küche. Ein Espresso würde ihm den nötigen Schwung für den Abend geben. Er wollte hellwach sein und mit den Gedanken hundertprozentig bei der Sache. Seine Aufgabe war es, gut gelaunt durch den Abend zu führen, die Damen am Tisch charmant zu unterhalten und ganz nebenbei die besten Konditionen für eine weitere Zusammenarbeit heraus zu handeln.

»Ich nehme auch einen!«

Roman zuckte unmerklich zusammen. Ohne sich umzudrehen, antwortete er: »Warum bist du noch hier?« Er nahm eine zweite Tasse aus dem Regal und stellte sie unter das Brühsieb.

»Weil ich deiner Frau versprochen habe, auf dich aufzupassen.«

»Ich brauche keinen Aufpasser.« Mit beiden Tassen in der Hand wandte er sich um. Ihre Zungenspitze benetzte die Lippen. »Nicht schlecht! Ein Sixpack. Die meisten Männer in deinem Alter haben eher ein Fässchen. Darf ich mal anfassen?«

Er hielt ihr die Kaffeetasse hin. »Finger weg. Das gehört dir nicht!«

»Was nicht ist, kann ja noch werden.«

Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. »Machst du mich an?«

Sie lachte. »Besteht Bedarf?«

»Wie du weißt, bin ich ein verheirateter Mann. Ein treuer verheirateter Mann«, setzte er nach. »Der Mann deiner besten Freundin!«

»Und das ist selbstverständlich der einzige Grund, warum ich hier bin. Oder glaubst du wirklich, ich wäre auch nur die Spur an dir interessiert?«

Roman zog es vor, darauf nicht zu antworten. Sonja war Feuer und er nicht gewillt, sich an ihr die Finger zu verbrennen. Bis heute hatte er es immer geschafft, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie war ihm zu direkt, gefährlich sexy und viel zu sehr von sich eingenommen. Sie liebte die Männer, hielt es aber nie lange mit einem aus – oder war es umgekehrt? Diese Frau war das komplette Gegenteil von Julia, und wenn er ehrlich war, verstand er überhaupt nicht, wie diese beiden unterschiedlichen Frauen jemals hatten Freundinnen werden können.

Sonja sah ihn über den Tassenrand hinweg an. »Nimmst du mich jetzt mit zu dem Dinner?« Ihre Blicke trafen sich. »Von mir aus«, erwiderte er gönnerhaft. Was er eben in ihren Augen gesehen zu haben glaubte, strafte ihre vorangegangene Behauptung Lügen. »Aber du benimmst dich, ist das klar? Keine Anmache, keine emanzipatorischen Reden …« Es war riskant.

Warum hatte Julia Sonjas Vorschlag nicht sofort abgelehnt? Warum war Julia überhaupt weggefahren? Sie wusste doch, wie wichtig die Spanier für sein berufliches Weiterkommen waren. Kurz war er versucht, sie danach zu fragen. Andererseits konnte Sonja sehr amüsant sein, wenn sie wollte. Vermutlich war sie mit ihrer freizügigen Art gar nicht so fehl am Platze beim Dinner. Vielleicht sogar gewinnbringender als eine Julia, die aus lauter Zorn und Frust über ein verpasstes Klassentreffen einfach nur dabei sitzen würde. »Also, was ist? Sind wir uns einig?«, fragte er nach. »Selbstverständlich!« Sonja hob die rechte Hand wie zu einem Schwur. »Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich dir keine Schande machen werde und diesen besonderen Abend nicht mit …«

»Es ist besser, du nimmst mich ernst!« Roman erhob sich. »Ich zieh mich an und dann können wir los.«

11

Das Zimmer war hell und freundlich. Ein kleiner Schreibtisch stand vor dem Fenster, gegenüber dem breiten Bett hing ein überraschend großer Flachbildschirm an der Wand. Das fensterlose Bad war zu Julias Freude mit einer Badewanne ausgestattet. Zuhause nahm sie sich nur noch ganz selten die Zeit für ein Vollbad. Entweder war sie schon viel zu müde oder sie hatte es eilig. Duschen ging einfach schneller. Anfangs ihrer Beziehung mit Roman, als sie noch frisch verliebt waren, da hatte es noch romantischen Badestunden mit Kerzen und Rosenblättern gegeben. Über der Wanne lag ein altes Brett, damit sie ihre Sektgläser darauf abstellen konnten, aus dem CD-Player klang leise Musik. Erst redeten sie einfach über den Tag, dann über ihre Liebe zu einander und irgendwann nahm er das Brett weg und glitt auf ihre Seite herüber. Sie küssten sich, waren zärtlich mit einander bis das Wasser kalt und die Haut schrumpelig geworden war. Es waren wundervolle Nachmittage und Abende in der Badewanne gewesen. Es hatte nur sie und ihn gegeben und ihre Liebe.

Das war auch der Grund, warum in dem Haus, das sie dann ein paar Jahre später gemeinsam bauten, eine wirklich große Badewanne eingesetzt worden war. Rückblickend war es der Versuch, aus etwas Wunderbaren etwas noch Wunderbareres zu machen. Doch am Ende war das romantische Flair im neuen Badetempel nicht mit eingezogen. Bunte LEDs statt Kerzen und raffinierte Massagedüsen, die mehr und mehr die gegenseitigen Streicheleinheiten ersetzten. Irgendwann gab es sie dann nicht mehr, die Lust auf gemeinsame Badestunden. Die Lichter blieben aus; die Whirlpoolwanne wurde zum Regenerationsbecken nach übertriebener sportlicher Aktivität, bis sie Monate später zur Abladestation für die Schmutzwäsche degradiert worden war.

Julia ließ sich auf das Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Die Bettwäsche duftete nach Weichspüler, durch das gekippte Fenster drangen undeutlich die Stimmen gut gelaunter Gäste, Verkehrsgeräusche und Vogelgezwitscher. Eine interessante Mischung, dachte sie und fiel im selben Augenblick in einen leichten Schlaf.

***

Als sie die Augen wieder öffnete, dämmerte hinter dem Fenster bereits der Abend. Hektisch fuhr Julia hoch und warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatte mehr als zwei Stunden geschlafen. Wenn sie pünktlich sein wollte, musste sie sich sputen.

Jetzt rächte es sich, dass sie ihre Tasche vorhin einfach achtlos an der kleinen Garderobe abgestellt hatte. Nun musste sie zuerst auspacken, um an ihren Waschbeutel zu kommen, der blöderweise ganz unten verstaut war. »Jetzt mach' dir doch nicht so einen Stress«, rief sie sich selbst zur Ruhe. »Wenn du es eilig hast, gehe langsam, sagen die Buddhisten. Oder waren es die Chinesen?« Sie grübelte nur kurz darüber nach. »Egal - Hauptsache langsam!«

Julia stellte das Radio an und begann sich auszuziehen. In aller Ruhe hängte sie ihre Tunika und die Jeans auf einen Bügel. Sie öffnete ihre Tasche, nahm die frische Wäsche heraus und den Waschbeutel und ging ins Bad. Die Tür ließ sie einen Spalt auf, um weiter Musik hören zu können. Sie summte leise mit und gab sich ausnahmsweise außerordentlich viel Mühe mit ihrem MakeUp. Schließlich zeigte ihr Spiegelbild eine deutlich frischere Julia, als noch vor einer halben Stunde. Die Frisur saß, der Teint war ebenmäßig. Das Rouge verlieh ihr rosige Wangen, die Augen strahlten, was zum einen an dem glänzenden Lidschatten lag, zum anderen aber auch an der wachsenden Freude auf die bevorstehende Veranstaltung. Der kräftig rote Lippenstift setzte einen hübschen Akzent. Zufrieden schlüpfte sie erst in das Kleid, dann in die Pumps. Sie drehte sich ausgiebig vor dem Wandspiegel hin und her, kontrollierte nahezu jeden Zentimeter nach unschönen Falten oder einem losen Faden.

 

Gut gelaunt griff sie schließlich ihre Jacke und hängte sich die kleine Tasche über die Schulter.

***

»Na, das nenne ich doch mal eine Verwandlung!« meinte Elke, als sie Julia die Stufen hinunterkommen sah. »Wunderschön schaust du aus. Die alten Klassenkameraden werden staunen und die Mädels dich neidisch beäugen.«

So viel Vertrautheit war Julia unangenehm. Schließlich verband sie mit Elke nicht mehr als eine zweimonatige Liebelei mit deren Sohn. Auch wenn sie ihre Eltern gekannt haben mochte, die Duzfreundschaft war ihres Wissens nach weniger innig, als es Elke in ihrem Überschwang dargestellt hatte. »Danke schön!« erwiderte Julia und setzte ein mehr oder weniger verbindliches Lächeln auf. »Magst du den Schlüssel hierlassen? Nicht, dass du ihn verlierst beim Tanzen.«

Das fehlte Julia gerade noch. Eine mütterliche Elke, die hinter dem Tresen saß und wartete, bis Julia heimkam. Dafür war sie nun wirklich schon ein bisschen zu erwachsen. Vielleicht war Elke einsam, weil ihr Sohn so weit weg lebte. Vielleicht vermisste sie die Familienbande. Wenn ja, dann tat es Julia ehrlich leid. Dennoch hatte sie nicht vor, diese Lücke zu füllen - nicht einmal für die kurze Zeit ihres Besuchs. »Nein danke, ich habe ja eine Tasche«, lehnte sie freundlich ab und huschte schnell zur Tür hinaus. Das »Viel Spaß, mein Kind!« traf sie wie ein Geschoss in den Rücken und ließ sie zusammenfahren. Sie war anscheinend immer noch zu freundlich gewesen in ihrer Ablehnung. Zum Glück würde sie morgen wieder abreisen!

***

Vor dem Hotel sah Julia sich suchend um und hielt sich nach kurzem Überlegen links. Der Gutshof, auf dem das Treffen stattfand, lag am Ortsrand. Es war nicht weit zu Fuß – nicht, wenn man anständiges Schuhwerk trug. Pumps mit zehn Zentimetern Absatz gehörten leider nicht in diese Kategorie. Schon nach wenigen Metern auf dem holprigen Pflaster gab Julia auf und ging barfuß weiter. Die Straße mündete in einen relativ breiten Feldweg, zu beiden Seiten lagen weitflächige Rapsfelder und roter Klatschmohn stand Spalier. Ein bisschen bedauerte Julia, so spät dran zu sein. Bei Sonnenlicht wäre das Farbenspiel sicherlich noch viel reizvoller.

Hinter einer Biegung tauchte bereits nach wenigen Gehminuten der alte Gutshof auf. Solarlampen wiesen auf den letzten Metern den Weg zum großen Eingangstor. Weithin waren Musik und Gelächter zu hören; Frauen- und Männerstimmen, die sich vermischten und eine unsichtbare Woge von Testosteron und Östrogen verbreiteten.

Julia spürte eine leichte Nervosität in sich aufsteigen. Was würde sie hinter dem großen Scheunentor erwarten? Würde sie überhaupt noch jemanden wiedererkennen? Zwanzig Jahre waren eine verdammt lange Zeit und boten jede Möglichkeit, sich optisch und charakterlich zu verändern. Sie selbst war das beste Beispiel. Zum Ende der Schulzeit hatte sie noch ihre schwarze Phase: schwarze Klamotten, tief schwarz gefärbte Haare. Auch ihr Ballkleid für die Abiturfeier war schwarz - zum Entsetzen ihrer Eltern. Wäre es nach Mama gegangen, sie hätte pink getragen oder rot, eine fröhliche Farbe eben. Unvorstellbar für Julia – damals!

Während des Studiums wurde ihr Kleidungsstil dann glücklicherweise doch bunter und frischer. Die überflüssigen Pfunde auf den Hüften waren abtrainiert und die Haare wieder naturblond. Sie trug farbenfrohe Röcke, Jeans und bunte Blusen. Die Sachen waren bequem und praktisch, Flecken von feuchtem Gras der Uni-Parkanlage fielen nicht auf. Ein großer Vorteil, denn eine Waschmaschine gab es in der WG nicht. Entweder trug sie ihre Schmutzwäsche in einen Waschsalon oder sie nutzte die monatlichen Besuche Zuhause. Der Duft von Weichspüler und Elternliebe umfing sie dann noch tagelang und gab ihr ein warmes, heimeliges Gefühl.

Erst mit der Anstellung in einer kleinen Gemeindeschule in ihrem Referendariat hatte sie sich für einen eher klassischen Stil entschieden. Wie sagte Roman so gerne: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance! Diese Weisheit galt auch auf dem Land noch sehr viel. Zudem hatten Rektorat wie auch Eltern eine sehr genaue Vorstellung davon, wie eine Lehrerin - auch solche, die es noch werden wollten – aufzutreten hatten. Also gewöhnte Julia ihre Füße an halbhohe Pumps und hatte einen Kleiderschrank voll mit Blusen und schmalen, meist dunklen Hosen.

Mittlerweile mochte sie es von Zeit zu Zeit elegant. Es hingen bestimmt ein halbes Dutzend Etuikleider im Schrank und auch das neue Kleid, das sie sich extra für den heutigen Abend gekauft hatte, war in diesem Stil. Die Besonderheit lag in dem Reißverschluss am Rücken, der über die ganze Länge eingesetzt war. Sie war sofort verliebt gewesen. »Und wenn wir dann nachts nach Hause kommen, ziehe ich den Reißverschluss ganz langsam herunter«, hatte Roman ihr vor dem Spiegel in der Boutique zugeflüstert. In den Genuss würde sie heute Abend nicht kommen.

Julia schlüpfte wieder in ihre Pumps. Mit den Fingern ging sie sich noch einmal durch die Haare, prüfte mithilfe eines kleinen Taschenspiegels ihr MakeUp. Egal, was sie jetzt gleich erwarten würde, sie wollte gut dabei aussehen.

»Sieht alles perfekt aus!«, hauchte eine dunkle Stimme leise in ihr Ohr, gefolgt von einem warmen Lachen. Julia ließ vor Schreck den Spiegel in die Handtasche fallen und drehte sich um. Sie wusste intuitiv, wer vor ihr stand: »Sebastian! Sebastian Werner!«

Der Mann nickte, schien allerdings ein wenig überrascht. »Tut mir leid, aber …«

»Julia Baker – aber ich glaube, du kannst mit Julia Dörr eher etwas anfangen.«

»Ist nicht wahr, oder? Verdammt, siehst du gut aus! Im Leben hätte ich dich nicht erkannt.« Er musterte sie von oben bis unten, »Da ist aus dem unbeholfenen, pummeligen Gruselgirl ja eine echte Lady geworden.«

»Das nehme ich mal als Kompliment«, entgegnete Julia. Jetzt war ihr zumindest klar, warum sie bei ihm nie eine Chance gehabt hatte. Ganz schön oberflächlich, der feine Herr! »Du bist hoffentlich auch gereift in den letzten zwanzig Jahren.« Sie lächelte versöhnlich. Er war männlicher geworden – selbstverständlich – und hatte an Format gewonnen. Dazu umgab ihn noch immer diese »mir gehört die ganze Welt – Aura«, die heute wie damals auf wenig Selbstzweifel schließen ließ. Und er sah verdammt gut aus!

»Wollen wir?« Sebastian nickte in Richtung des Eingangstores und bot ihr charmant seinen Arm an. »Deswegen sind wir doch hier, oder?« Ganz selbstverständlich hängte Julia sich bei ihm ein. »Lass uns mal nachsehen, wer sich noch so eingefunden hat von der alten Garde.« Sie warf ihm einen strahlenden Blick zu. Das war ein wirklich guter Start in den Abend.

***

Schon wenige Schritte hinter dem Tor kam eine Frau mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht auf die beiden zu. Entgegen ihrer Befürchtungen erkannte Julia sie sofort. Sie löste sich von Sebastian und umarmte die ehemalige Freundin. »Rebecca! Ich fasse es nicht! Du hast dich gar nicht verändert.« Augenblicklich waren die beiden Frauen in einem intensiven Gespräch. Sebastian hörte eine Weile zu, fühlte sich aber mehr und mehr überflüssig. »Ich schau mich mal um«, meinte er schließlich und drückte Julia völlig überraschend für sie einen Kuss auf die Wange. »Bis später, meine Schöne«, flüsterte er ihr ins Ohr. Dabei grinste er frech. »Bis später, Rebecca!« Lässig schlenderte er weiter und tauchte in einer Gruppe gut gelaunter Anzugträger unter.

Julia und Rebecca sahen ihm kurz hinterher. »Ihr seid ein Paar?« Rebecca konnte es nicht fassen.

»Quatsch!«, entgegnete Julia sofort, »wir haben uns vor ein paar Minuten des erste Mal seit Jahren wieder gesehen.«

»Na ja, was nicht ist, kann ja noch werden.« Rebecca zwinkerte Julia verschwörerisch zu. »Wenn ich mich recht erinnere, warst du schon damals scharf auf ihn.« Julia lächelte verlegen. »Vielleicht ein bisschen …«

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