Schattenkinder

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In Stoßzeiten, wenn die Stahlkocher und Bergleute von der Schicht nach Hause fuhren, fielen sie im Gedränge weniger auf. Die Proletarier saßen eng zusammen im hinteren Teil der Straßenbahn, während im vorderen gegen einen Aufpreis die Damen und Herren der besseren Gesellschaft Platz nahmen. Hinten roch es nach Schweiß und Rauch, weil ununterbrochen geraucht und auf den Boden gerotzt wurde, obwohl das verboten war. Einmal schenkte ein Schaffner ihnen das schwarze Kartenbrett, als es leer war und alle Fahrscheine abgerissen waren. Solche Bretter waren auf dem Schulhof sehr begehrt und wurden hoch gehandelt.

Ohne dass die Eltern es ahnten, schlossen Mendel und Joshua sich einer Kinderbande an. In jedem Viertel von Seraing gab es eine solche Gang. In ihrem Viertel waren es die Sioux. Die Sioux trieben sich meistens auf dem Gelände einer stillgelegten Ziegelei herum. Dort hatten sie ihr Hauptquartier, Pow-Wow genannt.

Der Anführer, ein bulliger Typ, nannte sich Donnernder Büffel und war wegen seiner Brutalität gefürchtet. Er war Herr über Leben und Tod. Wer sich gegen ihn auflehnte, der wurde aus dem Stamm ausgestoßen. Das Gesetz der Sioux verlangte, dass der Häuptling seine überragende Stellung jedes Jahr aufs Neue durch einen Boxkampf behauptete. Doch dieses Ritual wurde nicht mehr praktiziert, denn nachdem einige Jungen dabei ordentlich Prügel bezogen hatten, wagte keiner mehr, gegen den Dicken anzutreten.

Um in den Stamm der Sioux aufgenommen zu werden, musste Joshua eine Mutprobe bestehen. Sie bestand darin, dass er in einem Krämerladen um die Ecke etwas stehlen sollte, was mindestens zwei Franken kostete. Eine gefährliche Operation. Nachdem er die Prüfung bestanden hatte, musste er dem Donnernden Büffel Gehorsam und seinen Blutsbrüdern ewige Treue schwören. Dazu musste er sich mit der Faust auf die Brust klopfen und »ugh, ugh« rufen und danach, ohne einen Muckser von sich zu geben, ertragen, wie der Medizinmann ihm mit einem Messer in den Unterarm schnitt, bis das Blut triefte. Das Blut wurde in einem Becher aufgefangen, mit Wasser vermischt und allen zum Trunk gereicht. Damit war Joshua in den Stamm aufgenommen. Von nun an durfte er sich »Kleine Sturmwolke« nennen.

Von allen Straßengangs in Srää waren die Comanchen die berüchtigtsten. Da ihr Revier genau auf Mendels und Joshuas Schulweg lag, mussten sie öfter Umwege machen, aus Furcht, unterwegs ihren Erzfeinden zu begegnen.

Die Jugendbanden veranstalteten manchmal Wettkämpfe, um die Rangordnung zu bestimmen. Zu verabredeter Zeit bewarfen sie sich je nach Jahreszeit mit Kieselsteinen, Kartoffeln oder Kastanien, bis der Sieger feststand und der Unterlegene um Gnade bat. Voller Stolz zeigte Joshua Roro die Blessuren, die er bei solchen Schlachten davongetragen hatte.

Die unterlegene Gang musste den Siegern eine Geisel stellen, die an einen Marterpfahl gefesselt und so lange mit scharf gespitzten Stöckchen gepikst wurde, bis sie um Gnade winselte. Nach einer verlorenen Schlacht wurde Mendel vom Donnernden Büffel als Geisel bestimmt. Das wurde ihm nachher hoch angerechnet, denn er stieg in der Hackordnung des Stammes gleich um mehrere Ränge auf.

Weniger ruhmreich war seine Heimkehr. Als er in übler Verfassung und mit zerrissener Hose zu Hause auftauchte und keine plausible Erklärung abgeben konnte, verabreichte ihm der Vater zur Strafe eine zusätzliche Tracht Prügel.

* * *

Dank der Dokumente, die Rozenberg aus Polen mitgebracht hatte und die er von einem vereidigten Dolmetscher hatte übersetzen und beglaubigen lassen, erhielt er die Anerkennung als Schlachter durch die Lütticher Metzgerinnung. Nathan Goldstein trat wiederum als Bürge auf. Ein feierlicher Augenblick kam, als Rozenberg an der Metzgerei das Schild »boucherie chevaline« abmontierte und durch ein neues mit der Inschrift »boucherie belgo-polonaise« ersetzte: In kleinerer Schrift stand darunter: Inhaber Ariel Rozenberg. Nun war es für alle ersichtlich, dass sie im Gelobten Land angekommen waren.

Kaum im Geschäft musste Rozenberg feststellen, dass er sich den örtlichen Essensgewohnheiten anpassen musste, wenn er überleben wollte. Dass der Verzehr von Pferdefleisch rückläufig war, wusste er bereits. Aber anders als in Lodz, wo es viele strenggläubige Juden gab, die nach koscherem Fleisch verlangten, gab es deren in Lüttich und Umgebung nur eine Handvoll. Die wenigen Rechtgläubigen, die die Speisegebote beachteten, hatten die finanziellen Mittel, um sich in Brüssel oder Antwerpen Fleischwaren, die den Kaschrut26-Vorschriften entsprachen, zu besorgen. Rozenberg musste sein Warenangebot den Wünschen der Kundschaft anpassen.

Bei den ortsansässigen Wallonen, den flämischen Tagelöhnern und seinen polnischen Landsleuten stand das Hausschwein ganz oben auf dem Speisezettel. Das bedeutete, dass er vor allem treifes, nach jüdischen Vorstellungen unreines Fleisch anbieten musste. In der »boucherie belgo-polonaise« gab es neben Pferde- und Rinderfleisch bald auch Schweinefleisch in allen Variationen: Schweinshaxen, Schweinsohren und Bratwürste, den Römerbraten und polnische Delikatessen wie geschmorte Schweineleber und Schweinerippchen eingelegt in Honig.

Anfangs bot Rozenberg in einer separaten Theke noch koscheres Fleisch an. Da dies von der Kundschaft nicht honoriert wurde, stellte er das Angebot bald ein. Fortan gab es solche Ware nur noch auf Bestellung oder zu hohen jüdischen Feiertagen. Die erforderlichen Schächtungen führte Rozenberg an der belgischen Gesundheitsbehörde vorbei im Innenhof seines Hauses durch.

Mit dem Angebot von Schweinefleisch, dass Rozenberg zu Roros Empörung an Feiertagen um Kaninchen und Tauben erweiterte, verbesserte sich seine finanzielle Situation zusehends. Zumindest reichte es, um die Schulden bei der Bank und dem deutschen Vetter abzustottern.

Während im Hause Goldstein am Sabbat Grabesruhe herrschte, war in der »Boucherie belgo-polonaise« am Samstag reger Betrieb. Als der Kantor vernahm, dass der Vetter seinen Laden am Sabbat offen hielt und die Dreistigkeit hatte, unreines Fleisch anzubieten, dachte er anfangs, Rozenberg sei meschugge27 geworden. Er machte ihm bittere Vorwürfe und nannte ihn einen Chammer, einen dummen Esel. Er sagte, er solle sich schämen, um des schnöden Mammons willen die Gesetze Israels und die Vorschriften der Thora zu missachten. Er appellierte an seine Selbstachtung und erinnerte ihn daran, dass er »a jiddischen Kopp« habe.

Als das alles nichts half, sagte er ihm in Anwesenheit seiner Frau und seiner Söhne ins Gesicht, er führe sich auf wie ein Goy28. Joshua wusste nicht, was das war. Mendel erklärte ihm, das sei das hebräische Wort für »Heuschrecke!«. Es sei das schlimmste Schimpfwort, das es gebe, und gelte für Menschen, die ein lasterhaftes und törichtes Leben führten.

Auf die Vorwürfe des Kantors erwiderte Rozenberg, er könne es sich nicht leisten, seine Kundschaft zu verprellen, wenn er überleben wolle. Die meisten Arbeiter könnten sich nur einmal die Woche einen Braten leisten, und das sei eben der Schweinsbraten am Sonntag. Er versuchte, den Vetter milde zu stimmen, indem er darauf hinwies, dass sie daheim durchaus die Speisevorschriften Moses beachteten und seine Frau am Sabbat, wenn er in seinem Laden und die Jungen in der Schule wären, das kleine Oratorium in Seraing in der Rue du Marais aufsuche. Das alles ließ der Kantor nicht gelten. Er drohte mit dem Entzug der Bürgschaft, aber Rozenberg wusste, dass das nur eine leere Drohung war.

Dass sie samstags in die Schule mussten, gefiel den Jungen. Der Besuch der Synagoge hätte bedeutet, dass sie ihre besten Klamotten anziehen mussten, was wiederum zur Folge gehabt hätte, dass andere Unternehmungen am Nachmittag nicht infrage kämen. Das einzig Erfreuliche am Sabbat war das gute Essen am Vorabend. Die Mutter legte dann eine weiße Tischdecke auf und holte das beste Geschirr aus dem Schrank. Nachdem der Vater den siebenarmigen Leuchter angezündet und den Kiddusch, den traditionellen Segensspruch, gesprochen hatte, gab es gewöhnlich Tscholent, ein leckeres Eintopfgericht mit Fleisch, Bohnen, Graupen und Kartoffeln. Die Mutter bereitete es schon am Donnerstag vor, weil es mehrere Stunden bei geringer Hitze garen musste.

An hohen Feiertagen wie an Neujahr oder am Versöhnungstag besuchten alle gemeinsam die Synagoge – auch auf die Gefahr hin, dass der Kantor nachher mit dem Vater wieder Tacheles29 reden würde. Nicht nur an seinen Geschäften, sondern auch an der Erziehung seiner Kinder störte sich der fromme Vetter. Er warf Ariel vor, seine Söhne sähe man nur selten im Cheder zum Studium der Thora. Er sei mit seinen Söhnen viel strenger verfahren. Der Metzger war versucht zu erwidern, davon sei nicht mehr viel zu spüren, wenn er beispielsweise an den vorlauten Fred denke, der nicht eben ein Muster von Frömmigkeit sei. Aber er unterließ es, weil er den Streit nicht auf die Spitze treiben wollte.

Die Streitereien belasteten Joshua, weil er öfter zu hören bekam, dass derjenige, der die Gebote Moses nicht befolgte, mit Höllenfeuer bestraft würde. In seiner Fantasie sah er den Vater schon in Gehinnom, in der jüdischen Hölle, schmoren. In den Cheder gingen sie nur selten. Joshua hatte die Talmud- und Thoraschule auch deshalb in schlechter Erinnerung, weil man dort nichts Nützliches und Vernünftiges lernte. Die meiste Zeit verbrachten sie damit, die lange Liste der Gebote Gottes aus den Sieben Büchern Mose auswendig zu lernen. Es gab deren 613: 248 Gebote und 365 Verbote. Während Mendel auf Anfrage die wichtigsten auflisten konnte, tat Joshua sich unendlich schwer damit.

Trotz der unablässigen Kritik Goldsteins änderte Rozenberg nichts an seinem Geschäftsgebaren. Als der Kantor eines Tages wieder zu einer seiner üblichen Tiraden ausholte, riss dem Metzger der Geduldsfaden. Er sagte ihm, er solle sich nicht so aufspielen und es unterlassen, anderen ständig die Moral zu predigen. Er solle sich lieber an die eigene Nase fassen. Das Schusterhandwerk, das er betreibe, sei auch nicht gerade koscher. Denn wer totes tierisches Material verarbeite, stünde in der Gemeinde nicht unbedingt in hohem Ansehen. Nach diesem Schlagabtausch wurde der Kantor ziemlich kleinlaut und unterließ für einige Zeit seine Attacken.

 

Am Sonntag, wenn die Metzgerei geschlossen blieb, machte die Familie einen Spaziergang, der meist entlang der Maas führte. Er endete in einer Gastwirtschaft, wo es ein kühles Bier und eine selbst gebraute Limonade gab.

Soweit Joshua sich erinnern konnte, wurde dieses Ritual nur einmal anlässlich des Geburtstags der Mutter unterbrochen, als der Vater allen eine Schifffahrt spendierte. Von der Anlegestelle des Dampfers am Schloss von Seraing ging es die Maas hinab nach Visé. Dort gab es eine Insel mit einem Ausflugslokal, wo man Kuchen essen, Zwergziegen streicheln und Hühner und Enten füttern konnte. Die Kinder durften Tretboot fahren und auf einem Kettenkarussell durch die Luft schweben.

Damit die Streitereien nicht die Eintracht der Familien Goldstein und Rozenberg trübten, dafür sorgten die Mütter, die darüber wachten, dass bei den geselligen Abenden, die einmal in der Woche abwechselnd in Lüttich oder Seraing stattfanden, nicht gestritten wurde. Joshua und Mendel liebten diese Treffen, weil sie dann bis spät abends herumtollen konnten.

Ihr Idol war der 15-jährige Fred. Fred war ein Tausendsassa, ein vorlautes Bürschchen, das den starken Mann markierte. Er prahlte gern mit seinen Streichen und brüstete sich mit amourösen Abenteuern. Wenn er glaubte, die Luft sei rein, zog er ein Päckchen Zigaretten der Marke Boule d’Or aus der Hosentasche, zündete eine an und machte einen Lungenzug. Einmal stachelte er Mendel an, es zu versuchen. Mendel wurde dabei so übel, dass er sich übergeben musste.

Wenn sie ungestört waren, holte Fred eine Illustrierte hervor, die »Paris-Hollywood« hieß, und in der Fotos von halbnackten Frauen in anzüglichen Posen zu sehen waren. Er war auch der stolze Besitzer einer großen Sammlung von Piccolos, schmalen Comic-Heftchen, die »Sigurd«, »Akim«, »Fulgor«, »Kit Carson« oder »El Bravo« hießen. Es waren Groschenhefte, die bei allen Jungen begehrt waren und auf dem Schulhof unter der Hand getauscht wurden. Es galt dabei vorsichtig zu sein, denn die Lehrer betrachteten die Hefte als Schundliteratur. Wenn sie Schüler damit ertappten, gab es eine schallende Ohrfeige und die Heftchen wurden konfisziert.

Die wöchentlichen Treffen waren auch deshalb so beliebt, weil Hanna, die Frau des Kantors, eine hervorragende Bäckerin war. Sie verstand sich besser als jede andere darauf, einen traditionellen Käsekuchen aus geronnenem Lab herzustellen. Dazu gab es Kaffee oder Tee und für die Männer ein Glas Rotwein.

Wenn alle satt waren, sagte Hanna Goldstein: »Lasst uns mameloschen30!« Das war das Zeichen, einfühlsame Lieder aus der polnischen Heimat anzustimmen. Sie begannen meist mit religiösen Weisen, die von Welt- und Gottesschmerz getragen waren. Danach folgten Liebes-, Wiegen- und Kinderlieder. Zu vorgerückter Stunde wurden lustigere Lieder angestimmt, die aus dem Repertoire der Klezmorim31 stammten, jüdischen Musikanten, die von Schtetl zu Schtetl zogen und auf Hochzeiten, Festen und an Feiertagen aufspielten.

Diese Bänkelsänger genossen bei frommen Juden nicht den besten Ruf, weil sie gerne chassidische Gesänge parodierten und sich nicht scheuten, Zigeuner in ihre Reihen aufzunehmen.

Eines Tages brachte Fred ein Grammofon mit, das er ohne Wissen der Eltern gegen seine Briefmarkensammlung eingetauscht hatte. Nun konnten sie auf einmal die volkstümlichen Weisen mit musikalischer Begleitung hören. Fred hatte auch Schallplatten mit Melodien aus jiddischen Musicals besorgt. Die kamen aus Amerika und lösten bei den jungen Leuten Begeisterung aus. Als Fred einmal Anstalten machte, zu den Klängen eines Swings mit seiner Schwester Bad-Sebah zu tanzen, griff der Kantor ein. Er verbat sich diesen Unsinn. Seitdem war das gottlose Ding aus den Familientreffen verbannt.

Wenn Ariel Rozenberg ein paar Gläschen Wein getrunken hatte, konnte er sich von einer anderen, lustigen Seite zeigen. Für großes Gelächter sorgten seine nachgestellten Kundengespräche, die er in einem entsetzlichen Kauderwelsch aus Polnisch, Jiddisch und Wallonisch vortrug.

Er kannte eine Vielzahl von jiddischen Witzen. Mit großem Vergnügen nahm er die Chassidim32 aufs Korn, was seinem frommen Vetter böse aufstieß. Einer handelte von einem gewissen Moische, der jeden Tag zu Gott betet, damit er ihn reich macht. »Herr, lass mich im Lotto gewinnen«, betet er inständig. So geht das über viele Wochen, bis ihm Gott antwortet: »Moische, gib mir a Chance. Kauf dir a Los.«

Ein anderer Witz handelte von galizischen Juden, die den Vatikan besuchen und den Papst sprechen wollen. Der Schweizer Gardist, der gerade Wache schiebt, sagt, sie sollten ihr Anliegen schriftlich einreichen. Sie antworten, das sei nicht möglich, weil es sich um eine private und dringende Angelegenheit handele. Nach langer Diskussion werden sie zum Papst vorgelassen. Der fragt sie, was ihr Anliegen sei. »Entschuldigen der Herr Papst«, sagt der Wortführer, »kennen Sie nicht den Jesus Christus und seine Jünger, bittschön?« – »Aber ja doch«, erwidert der Papst, »die kenn ich!« – »Da wäre nämlich noch eine unbezahlte Rechnung für ein Abendessen.«

Neben den Chassidim und den Christen waren die Yekkers33, die Deutschen, eine bevorzugte Zielscheibe seines Spotts. Ariels Witze begannen meistens mit der Redewendung: »Ein armer Schwob sucht einen weisen Rabbi auf …« Einer handelte davon, wie ein Jude einen deutschen Metzger aufsucht, auf einen Schinken zeigt und sagt, er hätte gern diesen fetten Fisch dort. »Aber das ist doch ein Schinken«, antwortet der Schwob und will ihn belehren, dass es Schweinefleisch sei. »Nun geben Sie mir schon den Fisch«, unterbricht ihn der Jude, »mich interessiert nicht, wie er heißt!«

* * *

Bei den Wahlen von 1936 hatte die Sozialistische Arbeiterpartei in Wallonien, dem industriellen Herz des Landes, über 40 Prozent der Stimmen geholt. In Seraing, einer Hochburg der Linken, regierten sie schon lange, aber die Kommunisten waren ihnen auf den Fersen und stellten mit sechs Abgeordneten ein Viertel aller Sitze. Von den Linksparteien erhofften sich die Migranten bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Juden eine baldige Einbürgerung und eine Überwindung von Diskriminierungen.

Es waren unruhige Zeiten. Wie in anderen Städten gab es auch in Seraing Aufmärsche und Kundgebungen. Unter den Freiwilligen, die über die Avenue de la Concorde paradierten, um mit den Internationalen Brigaden in den spanischen Bürgerkrieg zu ziehen, waren auch Juden. Sie trugen rote Halstücher, ballten ihre Fäuste und sangen die Internationale.

Schon von Natur aus vorsichtig, war Rozenberg als Geschäftsmann darauf bedacht, sich aus der Tagespolitik herauszuhalten, umso mehr als er nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung besaß. Dass er in Belgien weder an Parlaments- noch an Gemeinderatswahlen teilnehmen durfte, störte ihn nicht, weil er am politischen Gezänk sowieso nicht interessiert war. Das schade dem Geschäft, pflegte er zu sagen. Auf Fragen der Kundschaft nach seiner politischen Meinung gab er an, in diesen Dingen als Pole nicht bewandert zu sein.

Rozenberg verordnete auch den Söhnen politische Abstinenz. Er duldete nicht, dass sie sich einer Jugendorganisation anschlossen, weil die alle weltanschaulich gebunden waren. Auch die zionistischen Jugendgruppen, die am Sabbat in der Synagoge eifrig Werbung machten, waren ihm nicht geheuer. In seiner Furcht vor Vereinnahmung verbot er seinen Söhnen sogar, am Sonntag das Haus des Volkes in Seraing zu besuchen, obwohl dort kostenlose Filmvorführungen stattfanden. Er vermutete dahinter ein Ränkespiel der marxistischen Parteien, um neue Anhänger zu ködern und die Seelen unschuldiger Kinder mit linken Parolen zu vergiften.

Bei den geselligen Treffen im Familienkreis galt die Regel, nicht über Politik zu reden. Dieses Tabu wurde immer öfter durchbrochen, weil die große Politik gewaltsam ins Leben der Menschen eingriff.

Auf einmal standen die finsteren Pläne der Nationalsozialisten im Mittelpunkt des Interesses. Die deutsche Propaganda sprach von einer jüdischen Weltverschwörung, obwohl es in Deutschland nur eine halbe Million Juden gab. In vertrauter Runde wurden die Nationalsozialisten nie bei ihrem Namen genannt, denn »Nazi« bedeutet im Hebräischen »Prinz« und war ein Ehrentitel des obersten Richters im Sanhedrin34. Statt von Nazis sprach man deshalb von Swastikas35, von Hakenkreuzlern. Auch der Name Adolf Hitler wurde nie ausgesprochen. Man sprach lediglich von »diesem Schmock da«, einem Wort, mit dem man einen Tölpel oder einen Menschen mit unangenehmen Eigenschaften umschreibt.

Während die Frauen sich häuslichen Themen widmeten, begannen die Männer nun immer öfter und offener über die hohe Politik zu fachsimpeln. Mendel und Joshua saßen still dabei, um andächtig zuzuhören, was da besprochen wurde. Eines Tages schaltete sich unerwartet Nathans Frau in die Diskussion ein. Sie sagte unumwunden: »Macht euch doch nichts vor, die Deutschen haben nur das eine Ziel, die Juden zu vernichten.«

Zunächst herrschte Überraschung, dass eine Frau es wagte, sich in einer Runde zu Wort zu melden, die Männern vorbehalten war. Nathan, dem die Sache peinlich war, raunzte sie an, sie solle sich um die Gäste kümmern und nicht um Dinge, von denen sie nichts verstehe. Aber Hanna ließ nicht locker: »Sie haben nur das eine Ziel. Sie wollen uns umbringen.« Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Als sie wieder in der Küche war, meinte ihr Mann, seine Frau sei in Gedanken immer noch in Polen und nie so richtig in Belgien angekommen.

Nach dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes und der Besetzung der restlichen Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland strömten viele deutschsprachige Juden ins Land, die schlimme Dinge berichteten. Allen Juden in Belgien war damit klar, was ihnen blühte, wenn ein Krieg ausbrechen sollte und die Deutschen ihn gewinnen würden.

Auch die Nachrichten, die sie aus Polen erreichten, gaben Anlass zur Sorge. Die Juden, die dort immerhin zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten, wurden angesichts der internationalen Spannungen als »fünfte Kolonne« diffamiert. Die antisemitischen Maßnahmen wurden verschärft, mit dem Ziel sie zur Emigration zu treiben. Die Juden wussten nicht mehr, wohin sie sich überhaupt noch wenden sollten. Sie saßen in der Falle.

Die polnische Regierung blieb bemüht, das gute Verhältnis zum Deutschen Reich, das der Staatsgründer Józef Piłsudski gestiftet hatte, aufrecht zu erhalten. Der Marschall hatte einen Nichtangriffspakt mit Deutschland abgeschlossen, obwohl er sich keine Illusionen über die Natur des Regimes und die strategischen Ziele der Nationalsozialisten machte. Nach seinem Tod im Jahre 1935 verschlechterten sich die Beziehungen. Ein zentraler Streitpunkt zwischen beiden Ländern waren die ungeliebten Juden.

Im März 1938 bürgerte die polnische Regierung alle Juden, die mehr als fünf Jahre außer Landes waren, aus. Damit wollte sie verhindern, dass nach Deutschland ausgewanderte Juden nach Polen zurückkehrten. Umgekehrt beschlossen die Nazis, alle »Ostjuden« auszuweisen. Tausende Juden steckten im deutsch-polnischen Niemandsland bei Bentschen fest. Als Joshua den Namen der Grenzstation hörte, erinnerte er sich daran, dass er dort gewesen war.

Das Unglück nahm seinen Lauf, als ein jüdischer Heißsporn aus Rache für die Abschiebung seiner Eltern einen deutschen Botschaftssekretär in Paris erschoss. Für die Nazis war das ein willkommener Anlass, einen lang geplanten Pogrom anzuzetteln. Die Hatikwah, eine jiddische Wochenzeitung, auf die Rozenberg abonniert war, berichtete ausführlich über die Gräueltaten der Swastikas. Es brachte viele Fotos von brennenden Synagogen und geplünderten Geschäften, die in der jüdischen Diaspora Angst und Schrecken verbreiteten.

Nach der sogenannten Reichskristallnacht ergossen sich wahre Flüchtlingsströme über Westeuropa. Diese führten notgedrungen über Belgien. Viele Juden blieben wegen der Einreisebeschränkungen, die die Nachbarländer erließen, in Belgien hängen. Innerhalb von fünf Jahren wuchs ihre Zahl von 6.000 auf 65.000 an. 1939 waren es nach Schätzungen des Innenministeriums 116.000.

Durch den massiven Zustrom von Juden kam es in Belgien zu einer kurzen Blüte jüdischen Lebens, aber auch zu ersten Fällen von Antisemitismus. Da die meisten Flüchtlinge sich illegal im Lande aufhielten und nicht auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hoffen konnten, tauchten sie unter und bauten eine Schattenwirtschaft auf. Sie eröffneten kleine Geschäfte, waren Hutmacher, Schuster oder Schneider. Dadurch wurden sie zu Konkurrenten des eingesessenen Mittelstandes, der ohnehin unter der Wirtschaftskrise zu leiden hatte.

 

Das sorgte für böses Blut. Orientalische Juden, die als Hausierer und Messerschleifer von Tür zu Tür zogen, erregten durch Kleidung und Auftreten Aufsehen und Widerwillen. Einigen Zeitungen zufolge hegten die Juden finstere Pläne, um den belgischen Staat zu unterwandern. Am rechten Rand entstanden Parteien, die den Unmut schürten. Diesen bekamen alle Israeliten zu spüren, auch jene, die wie Nathan Goldstein die belgische Staatsbürgerschaft besaßen.

Um des Flüchtlingsandranges Herr zu werden, sah sich die Regierung genötigt, Internierungslager einzurichten: eines im Kempenland, ein anderes in den Ardennen. Außerdem bemühte sie sich, die deutsch-belgische Grenze hermetisch abzuriegeln. An die Stelle der biederen Zöllner traten nun kasernierte Gendarmen ihren Dienst an. Sie hatten Befehl, unerbittlich Jagd auf illegale Grenzgänger zu machen.

Um Flüchtlinge abzuschrecken, setzte die Regierung tausend abgefangene Juden in einen Sonderzug und schob sie über die Grenze nach Aachen ab. Die Presse berichtete in großer Aufmachung darüber. In den Synagogen munkelte man schon, Deutsche und Belgier steckten unter einer Decke, denn der belgische Geheimdienst dürfe mit Duldung der Nationalsozialisten im Rheinland Fluchthilfeorganisationen ausspähen und unterwandern.

Ein Umschwung in der öffentlichen Meinung erfolgte kurzfristig, als die belgische Regierung zweihundertfünfzig jüdische Kinder abschieben ließ. Angesichts landesweiter Proteste sah sich der Innenminister gezwungen, siebenhundertfünfzig unbegleiteten Kindern die Einreise zu erlauben. Die Pressebilder von der Ankunft der aus Deutschland abgeschobenen Kinder in Herbesthal, dem ersten belgischen Bahnhof, gingen um die Welt. Sie zeigten weinende, fröstelnde Kinder, die im ehemaligen Fürstenzimmer aus der Kaiserzeit von Mitarbeitern des Roten Kreuzes versorgt wurden.

In den nächsten Wochen sollten noch sechzehn weitere Kindertransporte aus Köln nach Belgien kommen. Im ganzen Land löste das Schicksal dieser Kinder eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. In den Synagogen wurden die Gläubigen aufgerufen, den Zehnten, der eigentlich zum Unterhalt der Leviten vorgesehen war, für die Vertriebenen zu spenden. Wie viele andere verbrachte auch Elsa Rozenberg viele Stunden damit, Winterkleidung für Flüchtlingskinder zu nähen.

Im Cheder lernte Joshua eines dieser Kinder kennen. Peter Weis stammte aus Berlin und lebte nun in einer belgischen Pflegefamilie. Er war ein stiller Junge, der meist schweigsam in einer Ecke saß, weil er weder Französisch, Polnisch oder Jiddisch sondern nur Deutsch sprach.

Trotz dieser Welle der Solidarität belastete der Zustrom der Flüchtlinge das innenpolitische Klima. Unmerklich schlichen sich judenfeindliche Maßnahmen in die Gesetzgebung ein. Als das Ehepaar Rozenberg 1939 wie gewohnt beim Einwohnermeldeamt ihre Ausweise einreichte, um sie zu verlängern, wurden diese mit einem roten »J« abgestempelt. Der Beamte behauptete, das geschehe nur auf Wunsch der Schweizer Behörden, die genau wissen wollten, wer aus Belgien in ihr Land einreisen wolle.

Rozenberg registrierte die Maßnahme mit großem Unbehagen: Sein Leben lang hatte er sich bemüht, nicht aufzufallen, und nun knallte man ihm seine jüdische Herkunft wie ein Brandzeichen auf ein amtliches Dokument.

* * *

In dieser aufgeheizten Stimmung geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Eines Tages tauchten Gerda Meyer und ihre Tochter Hedwig in der Rue du Buisson auf. Die Familien hatten zwar brieflich Kontakt gehalten, aber in Seraing hatte man keine Ahnung, dass die Meyers sich mit Fluchtgedanken trugen. Die Frauen waren unversehrt über die belgische Grenze gelangt. Die Freude über das Wiedersehen wurde getrübt durch die Sorge um den Konsul, der es vorgezogen hatte, sich von Frau und Tochter zu trennen, um es auf eigene Faust zu versuchen.

Nachdem sie sich etwas erholt hatten, fanden sie in der Wohnküche einen reich gedeckten Tisch vor. Mutter Rozenberg hatte das beste Stück Kalbfleisch aus der Ladentheke, der Vater eine Flasche von dem französischen Landwein aus dem Keller hervorgeholt, die eigentlich für die anstehende Bar Mizwa36 Mendels vorgesehen war. Gerda Meyer berichtete, ihr Mann habe sich zur Flucht entschlossen, als man seinen Reisepass eingezogen und diesen durch eine Kennkarte ersetzt habe, der mit einem Judenstern abgestempelt war. Seinen Vornamen Siegmund hatte man mit Israel ergänzt, weil es sich für einen Juden angeblich nicht geziemte, einen arischen Rufnamen zu haben.

Ihr Mann habe die Zustände in Deutschland nicht mehr ertragen. Statt Recht und Ordnung, wie er sie verstand, hätten überall Willkür und blinde Gewalt geherrscht. Zunächst habe er an eine legale Auswanderung gedacht. Vermögende Juden konnten gegen ein hohes Lösegeld die Ausreise nach Palästina erkaufen, aber ihr Mann habe keine Lust verspürt, als Kameltreiber zu enden, wie er es abfällig formulierte. Eine andere Möglichkeit, das Land legal zu verlassen, hätte darin bestanden, mit einem Bananendampfer in die Karibik zu verschwinden. Für jede Schiffspassage hätte er 40.000 RM in ausländischen Devisen hinblättern müssen, wovon der deutsche Staat fünfzig Prozent einbehalten hätte. »Reichsfluchtsteuer« heiße das. Außerdem hätten die Nazis bei einer Auswanderung ihr gesamtes Vermögen beschlagnahmt.

Frau Meyer sagte, die Nacht vom 9. auf den 10. November sei zum Fanal geworden. Allen Juden im Reich hätten die blutigen Ausschreitungen vor Augen geführt, dass sie in Deutschland keine Daseinsberechtigung mehr hatten.

Am Vorabend des Pogroms habe ein städtischer Beamter, den ihr Mann aus besseren Tagen kannte, ihn gewarnt: Die Polizei habe Weisung erhalten, im Rahmen eines spontanen Volkszorns sämtliche Juden zu verhaften, zu entwaffnen und bei Widerstand über den Haufen zu schießen. Am nächsten Morgen hätten sie das Haus nicht verlassen und von ihrem Fenster beobachten können, wie SA-Männer eine größere Gruppe Juden vor sich hergetrieben habe. Die SA-Standarte habe ein Mann getragen, dem ihr Mann einst eine Anstellung in seiner Firma besorgt hatte. Auf den Bürgersteigen gafften teilnahmslos Passanten, während Kinder die Juden schmähten, ohne zurechtgewiesen zu werden.

Nachher erfuhren sie, dass die Juden ins Alte Gymnasium getrieben worden waren, wo Konsul Meyer sein Abitur gemacht hatte. Von dort seien sie ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. Nicht nur in Bremen, auch in den Vororten hätten die Nazis gewütet. In Hastedt hätten sie den Vorsteher der jüdischen Gemeinde gezwungen, in seinen liturgischen Gewändern mit den Thorarollen auf den Schultern singend durch die Hauptstraße zu ziehen. Die Ältesten seien ihm mit einer Schelle vorangegangen. Sie seien beschimpft und bespuckt, mit Stöcken geschlagen und mit Steinen beworfen worden. Auf dem Marktplatz von Hastedt hätten sie dem Rabbiner unter dem Gelächter der Menge die Haare mit Pferdemist gewaschen.

Am Abend habe sich ihr Mann aus dem Haus geschlichen, und als er zurückkam, sei er sehr nachdenklich gewesen. Er sei in die Bremer Altstadt, ins Schnoor, gegangen, um die geschändete Alte Synagoge zu sehen. Auf der Straße wären Gebetbücher und liturgische Gewänder verstreut gewesen. Obwohl er Protestant war, habe er angesichts der Verwüstung einen tiefen Schmerz in seiner Brust verspürt.

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