Schattenkinder

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Seine Frau meinte, in jener Nacht sei wohl sein Glaube an das »ewige Deutschland« erschüttert worden. Als Hermann Göring im Rundfunk dann noch verkündete, dass nun die große Abrechnung mit den Juden kommen werde, habe er begriffen, dass es keine Hoffnung mehr gab und die Zeit drängte. Wenn sie überleben wollten, mussten sie Deutschland schleunigst verlassen.

Ihre größte Sorge galt den Kindern. Angesichts der öffentlichen Empörung über die sogenannte Kristallnacht hatte die britische Regierung sich bereit erklärt, 10.000 jüdische Kinder unter 15 Jahren aufzunehmen. Meyer ließ seine Verbindungen spielen und sorgte mit einer Spende an den Innensenator dafür, dass ihr Sohn Emil zu den Auserwählten gehörte. Mit einem Namenskärtchen um den Hals und seinem Teddy im Arm ging es zum Bahnhof. Als sie gesehen habe, wie der Junge ihnen aus dem Fenster des abfahrenden Zuges fröhlich zugewinkt habe, als ginge es in den Urlaub, habe sie ihre Tränen nicht zurückhalten können, weil sie gespürt habe, dass es ein Abschied für lange Zeit sein würde. Die Kinder seien über Köln an die belgische Küste gebracht worden, wo eine Fähre nach Dover sie erwartete.

Nachdem sie ihr Söhnchen in Sicherheit wussten, habe ihr Mann ihre eigene Flucht vorbereitet. Als langjähriges Mitglied des Gemeindevorstandes von St. Stephani habe er vorher den Rat von Pastor Greiffenhagen eingeholt. Der Pastor gehöre zur Bekennenden Kirche und verabscheue die Nazis. Er habe von einer Organisation gewusst, die Juden über die belgische und niederländische Grenze bringe.

Der Weg habe sie zunächst ins Café Silberbach in der Kölner Glockengasse geführt. Von dort schickte man sie nach Aachen ins Schloss-Hotel, wo sie einen gewissen Simon Frankenthal trafen, einen jüdischen Studenten, der dem kommunistischen Widerstand angehörte.

Frankenthal riet den Frauen dazu, sich einer Prozession anzuschließen, die einmal die Woche von der Aachener Jakobskirche zu einem Gnadenbild der Gottesmutter nach Moresnet ins belgische Butterländchen ziehe. Viele Hausfrauen nutzten diese Wallfahrt, um sich in Belgien mit Kaffee, Schokolade und Butter zu versorgen, Waren, die im sogenannten »Tausendjährigen Reich« unerschwinglich geworden waren. Die deutschen Grenzer drückten gewöhnlich beide Augen zu, weil die Partei keinen Ärger mit der katholischen Kirche riskieren wolle. Im belgischen Pilgerkloster Moresnet, sagte der Student, gebe es einen Franziskanermönch, der allen Flüchtlingen weiterhelfe, egal ob es sich um Christen, Juden oder Marxisten handele.

Nachdem ihr Mann ihr sämtliche Wertpapiere anvertraut hatte, hatten Gerda und Hedwig Meyer sich unter die Pilger gemischt. Vorher hatten sie sich Rosenkränze zugelegt und die wichtigsten Gebete auswendig gelernt. Alles verlief nach Plan. Im Wallfahrtsort trafen sie besagten Franziskanerpater, der ihnen ein Taxi besorgte, das sie zum nächsten Bahnhof brachte.

Zwei Tage nach der Ankunft der Frauen stand auf einmal Siegmund Meyer vor der Tür. Gerda Meyer konnte es nicht fassen, auch wenn der Konsul, der immer Wert auf eine tadellose Erscheinung legte, einen fahrigen und verwahrlosten Eindruck machte. Er war von seinen Erlebnissen sichtlich mitgenommen. Rozenberg musste ihm einige Gläschen Péquet37 einschenken, damit er sich aus seiner Erstarrung löste. Als er die Umstände seiner Flucht schilderte, versetzte das alle in ungläubiges Staunen.

Über einen Bekannten im Senat hatte Meyer sich falsche Papiere besorgt: einen Reisepass, der ihn zum Kommerzienrat Dr. Richard Dorenbeek machte. In Aachen habe er sich von Frau und Tochter getrennt und beschlossen, als Geschäftsreisender getarnt auszureisen. Aber schon auf dem Bahnsteig habe eine Frau Verdacht geschöpft und ihn bei einem Bahnpolizisten angezeigt. Der Schupo habe seine Papiere überprüft, und, da ihm Zweifel aufkamen, der Gestapo überstellt. Dass seine Papiere gefälscht waren, dass er in Wirklichkeit Meyer hieß, und er jüdischen Blutes war, ließ sich nicht lange leugnen. Ein einziges Telefonat mit Bremen hatte genügt, um ihn zu überführen.

Er wurde einem jungen Untersuchungsrichter vorgeführt, der bereits das goldene Parteiabzeichen trug. Im Laufe des Verhörs erwähnte Meyer beiläufig, dass man ihm im Krieg das Eiserne Kreuz verliehen habe. Das machte offenbar Eindruck.

Nachdem der SS-Mann das anhand der Dokumente, die Meyer mit sich führte, überprüft hatte, holte er aus der Schublade »Die Brennnessel« hervor. In dem satirischen Hetzblatt gab es eine Karikatur von einem Schiff voller Juden, das auf ein tropisches Eiland mit Strohhütten und Palmen zu segelte. »Der Führer schenkt den Juden eine Insel!«, lautete die Bildlegende.

Der Kommissar habe auf die Zeichnung gezeigt und gefragt, warum er nicht gleich gesagt habe, dass er die Absicht habe, nach Madagaskar auszuwandern, da die Insel nach dem Willen des Führers doch die künftige Heimstatt des jüdischen Volkes sein werde. Bevor Meyer sich versah, gab der Kommissar ihm seine Papiere mitsamt der Geldbörse zurück. Lediglich zehn Reichsmark, die er sich quittieren ließ, behielt er als Arbeitsgebühr ein, denn Ordnung muss sein.

Noch in der Nacht habe der Kommissar ihn in seinem Dienstwagen zum Losheimer Graben gebracht, genau an die Stelle in der Eifel, wo die Landstraße die Staatsgrenze bildet. Als er kurz darauf belgischen Gendarmen begegnete, habe er nur artig den Hut gelüftet. Vermutlich hatten sie ihn für einen Touristen gehalten. Seine wundersame Errettung hatte bei Meyer seinen Glauben an das ewige Deutschland wiederbelebt. Selbst unter Nationalsozialisten, schloss er seinen Bericht, gebe es noch Ehrenmänner.

* * *

Am nächsten Morgen suchten Ariel Rozenberg und Siegmund Meyer gemeinsam die Bank Nagelmackers auf. Der Konsul ließ sich die Monatsgelder auszahlen, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten. Er bedankte sich überschwänglich bei seinem polnischen Verwandten für dessen Redlichkeit.

Einige Tage später machten die Meyers sich nach Antwerpen auf. Der Konsul hatte sich für die Hafenstadt entschieden, weil es dort eine größere deutsche Gemeinde gab, mit der er geschäftliche Verbindungen unterhalten hatte. Seine Hoffnung, eine eigene Kaffeerösterei zu eröffnen, sollte sich nicht erfüllen. Der Kaffeehandel gestaltete sich schwierig, weil Deutschland Handelsschranken errichtet hatte und hohe Zölle auf Luxusgüter erhob. Im Deutschen Reich herrschte Devisenknappheit, weil alle wirtschaftlichen Ressourcen in die Aufrüstung flossen.

Immerhin fand Meyer eine Anstellung als Vertreter. Sein wichtigster Kunde war seine ehemalige Rösterei in Bremen, die ihn so schäbig abserviert hatte. Im Wesentlichen lebte die Familie von ihren Ersparnissen.

Geschäftlich fasste Meyer in der flämischen Metropole nie richtig Fuß, da er weder Französisch noch Niederländisch sprach. Die orthodoxen Juden, die das Stadtbild rund um den Bahnhof prägten, schreckten ihn ab. Zur jüdischen Gemeinde vermied er jeglichen Kontakt. Nie ließ er durchblicken, dass er jüdischer Abstammung war. Antwerpen war gleichzeitig eine weltoffene Handelsstadt, ein Zentrum jüdischen Lebens und eine Hochburg des flämischen Nationalismus. Selbst in Antwerpen war das weite Spektrum des Judenhasses präsent. Hier tummelten sich rassistische Bewegungen wie die Schwarze Brigade, VNV oder der Kampfbund De Vlag. Mit ihren martialischen Aufmärschen kamen sie Meyer wie eine Parodie der Brüllaffen von der SA vor.

Im Juni 1939 legte das Kreuzfahrtschiff der Hamburger Reederei HAPAG, die St. Louis, mit 937 deutschen Juden an Bord im Hafen von Antwerpen an. Es waren Juden, die sich in Deutschland freigekauft hatten und nun abgeschoben werden sollten. Zwei Monate lang war das Urlauberschiff über die Weltmeere geirrt, aber weder in Kuba, noch in den USA oder in Kanada hatte man die Kinder Israels aufnehmen wollen.

Schließlich hatte die belgische Regierung der St. Louis erlaubt, in Antwerpen anzulegen. Während sie mit den Nachbarländern über eine Aufnahme der aus Deutschland abgeschobenen Juden verhandelte, wurde eine Quarantäne über das Schiff verhängt. Eines Tages ging Hedwig Meyer an den Pier, um das Schiff, von dem alle Welt sprach, aus der Nähe zu betrachten. Obwohl der Zugang zum Dampfer weiträumig abgeriegelt war, konnte sie die Hilferufe der verzweifelten Passagiere hören, die auf der Reling standen. Sie war danach ganz aufgewühlt. Als sie daheim davon erzählte, meinte ihr Vater nur, er habe schon den richtigen Riecher gehabt, als er das Angebot der NS-Behörden zur Auswanderung ausschlug.

Im Sommer 1939 luden die Meyers die Rozenbergs für ein Wochenende nach Antwerpen ein. Sie wollten sich für die freundliche Aufnahme in Seraing bedanken. Anfangs waren Mendel und Joshua von der Aussicht, ein Wochenende im Hause des Konsuls zu verbringen, nicht sonderlich erbaut. Joshua war schlechter Laune, weil sein Vater ihm verboten hatte, Roro mitzunehmen. Er versuchte, den Hasen darüber hinwegzutrösten, indem er darauf hinwies, dass Petsy der Teddybär, mit dem Roro sich in Bremen angefreundet hatte, mit seinem Herrchen nach London verzogen war.

Der Besuch in Antwerpen verlief erfreulicher als erwartet. Da die Meyers nicht weit von der Centraal-Station wohnten, holten der Konsul und seine Gattin die Gäste persönlich am Bahnhof ab.

Rund um den Bahnhof lag das Diamantenviertel. Der Handel mit Edelsteinen war fest in jüdischer Hand. Seit dem 19. Jahrhundert hatte die Diamanterie jüdische Händler und Diamantenschleifer aus aller Welt nach Antwerpen gelockt. Nach dem Krieg hatte sich die Zahl der Juden versechsfacht.

Meist handelte es sich bei den Zugewanderten um orthodoxe Juden, die sich weitgehend von ihrer Umwelt abschotteten. Vom Rat der Großen Synagoge hatten sie verlangt, dass rund um das Diamantenviertel ein gesicherter Bezirk, ein Eruv38, errichtet würde, damit sie sich am Sabbat auch außerhalb des Hauses frei bewegen konnten, ohne Gefahr zu laufen, mit Ungläubigen und unreinen Dingen in Berührung zu kommen. Da eine Mauer oder ein Zaun nicht vorstellbar waren, kamen die Rabbiner auf den Gedanken, rund um das Bahnhofsviertel einen Bindfaden spannen zu lassen, der es in eine koschere Zone verwandelte.

 

Als Meyer mit seinen Gästen durch die Vestingsstraat ging, kreuzten sie orthodoxen Juden, die aus der Synagoge kamen und schnellen Schrittes nach Hause liefen. Ariel Rozenberg, die die Aschkenazim39 aus Polen kannte, klärte den verstörten deutschen Cousin darüber auf, dass ultra-orthodoxe Juden immer in Eile seien, weil sie fürchteten, unterwegs abgelenkt und aufgehalten zu werden und dadurch die Ankunft des Messias zu verpassen. Die Begegnung mit den Orthodoxen in ihren schlabbrigen Mänteln und den breiten Pelzmützen war dem Konsul sichtlich unangenehm. Kein Wunder, sagte er, dass diese Figuren den Judenhass nährten.

Gerda Meyer machte gegenüber ihrer Freundin keinen Hehl daraus, dass sie sehr unter der Trennung von ihrem Sohn litt. Aus seinen Briefen hatte sie herausgelesen, dass auch der kleine Emil Heimweh hatte. Anders als die jüdischen Mädchen, die leicht Pflegeeltern gefunden hätten, wären die Jungen, die schwer zu vermitteln waren, in London hängen geblieben und in Internate gesteckt worden. Die Zustände dort wären nicht erbaulich. Jüdische Kinder würden wegen ihres deutschen Akzentes ständig gehänselt. Gerda Meyer klagte, sie habe ihren Mann gebeten, ihren Sohn nach Belgien zu holen, da er hier nichts zu befürchten hätte, aber ihr Mann habe davon nichts hören wollen. Offenbar misstraute er dem Frieden, in dem sich die meisten Menschen seit dem Münchener Abkommen wähnten.

Den großbürgerlichen Lebensstil aus den Bremer Tagen hatten die Meyers aufgeben müssen. Statt eines Herrenhauses bewohnten sie nun eine Etagenwohnung. Abgesehen davon, dass die Jungen bei Tisch wieder den ungebrochenen Hochmut und den jüdischen Selbsthass des Oheims ertragen mussten, war der Ausflug für sie ein unvergessliches Erlebnis.

Nachmittags besuchten die Jungen mit Hedwig den Zoologischen Garten. In malerischen Gehegen, die altägyptischen Bauten nachempfunden waren, konnten sie Elefanten, Löwen und Giraffen bewundern. Am meisten faszinierte Joshua eine Waldantilope, die verborgen im kongolesischen Regenwald lebte und erst vor wenigen Jahren entdeckt worden war. Während der lange Hals des Okapis dem einer Giraffe glich, erinnerten die gestreiften Schenkel und Oberbeine an ein Zebra.

Die Nacht verbrachten die Rozenbergs in einem nahen Gasthof, wobei Meyer es sich nicht nehmen ließ, die Rechnung zu begleichen.

Am nächsten Morgen machten alle gemeinsam einen ausgedehnten Stadtbummel. Mit der Straßenbahn ging es zunächst zur Keyserlei, einer belebten Geschäftsstraße, wo es das höchste Haus Europas zu bestaunen gab. Die 87 Meter hohen Boeren­toren waren Sitz einer Kreditanstalt. Weil diese Meyers Hausbank war, besaß er einen Passierschein, der es ihnen erlaubte, mit einem Aufzug auf das Dach zu gelangen, wo man einen wunderbaren Blick auf den Fluss, den Hafen und die Altstadt hatte. Joshua und Mendel waren begeistert.

Danach unternahmen sie eine Bootsfahrt durch den Hafen, »dem größten Güterhafen der Welt«, wie der Konsul mehrmals betonte. Sie staunten über die riesigen Stückgutfrachtschiffe, die im Schlepptau kleiner Lotsenschiffe die Schelde hinauf fuhren, um ihre Ladung in den Docks zu löschen, um danach wieder den Fluss hinunter zu dampfen und Waren in alle Welt zu transportieren.

Den Tag beschlossen sie in einer Hafenkneipe, wo Joshua und Mendel Bekanntschaft mit der Leibspeise der Belgier machten: Miesmuscheln mit Fritten. Die Eltern hatten beide Augen zugedrückt, denn Schalenfrüchte sind den Juden eigentlich verboten. Auch die Kartoffelstäbchen waren in Schweinefett gekocht. Obwohl nichts von dem Gericht dem jüdischen Speisekodex, dem Kaschrut, entsprach, aßen alle mit großem Appetit.

In der Gewalt des Pharao

Was alle befürchtet hatten und niemand glauben wollte, traf am 1. September 1939 ein. Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler brach einen Krieg vom Zaun. Nachdem er der polnischen Regierung unerfüllbare Bedingungen gestellt hatte, befahl er den Überfall auf das Nachbarland im Osten, was Frankreich und Großbritannien mit einer Kriegserklärung beantworteten.

Joshua erinnerte sich genau an das Datum, einem Freitag, weil er an jenem Tag daheim Prügel bezogen hatte. Angesichts der drückenden Hitze, die in jenem Spätsommer herrschte, war er mit Mendel und einigen Kumpels nach der Schule über die hohe Mauer in den Schlosspark geklettert, um in den Brunnen und Teichen des Englischen Gartens Erfrischung zu finden. Als sie von einem Gärtner entdeckt wurden und überstürzt fliehen mussten, zerriss er sich beim Sprung über das Torgitter die Hose, was ihm zu Hause besagten Ärger einbrachte.

Das erste Zeichen, dass das Land an einer Zeitenwende stand, zeigte sich am nächsten Tag, als sich vor den Läden und Geschäften lange Menschenschlangen bildeten. In wenigen Stunden waren alle Vorräte an Mehl, Zucker, Zigaretten und sonstigen Dingen des täglichen Bedarfs ausverkauft.

Seit Kriegsausbruch verfolgte die polnische und jüdische Diaspora mit großer Sorge den deutschen Feldzug in Polen, der mit beispielloser Härte und Brutalität erfolgte. Adolf Hitler hatte in einer Reichstagsrede prophezeit, dass der Ausbruch eines neuen Krieges »den Untergang der jüdischen Rasse in Europa bedeuten« würde. Und nun war dieser Krieg da. Die Übergriffe auf Juden in Polen, von der die Presse aus den neutralen Ländern berichtete, ließen denn auch das Schlimmste befürchten.

Mit Kriegsbeginn war jeglicher Kontakt in die alte Heimat abgebrochen. Bei den Familientreffen kreisten nun alle Gespräche um die militärische Lage und das Schicksal der Verwandten. Es gab viele Gerüchte, aber nur wenige gesicherte Nachrichten. Die Hoffnung, dass die Polen sich solange behaupten würden, bis ihre Verbündeten im Westen angreifen und damit den Deutschen einen Zwei-Fronten-Krieg aufzwingen würden, erfüllte sich nicht. An der belgischen und französischen Grenze zu Deutschland herrschte eine trügerische Ruhe, den die Kommentatoren als »drolligen Krieg« oder »Sitzkrieg« bezeichneten.

Im Königreich Belgien hoffte man, durch Neutralität vom drohenden Waffengang verschont zu bleiben – auch wenn sich die Zwischenfälle an der Grenze häuften. Bei nebeligem Wetter hatte sich im Januar 1940 ein deutsches Jagdflugzeug im belgischen Luftraum verirrt und bei Mechelen eine Bruchlandung gemacht. Beim Piloten hatte man detaillierte Pläne für einen Angriff auf Belgien und die Niederlande gefunden, aber die Regierung und die Generalität hielten das für ein Täuschungsmanöver.

Dass zwischen dem Deutschen Reich und den Westmächten Krieg herrschte, merkten die Bewohner des Königreiches vor allem daran, weil auf einmal gewisse Waren und Lebensmittel in den Geschäften rationiert waren, um Hamsterkäufe zu verhindern.

Um die Jahreswende sickerte durch, dass die Deutschen das Judenviertel von Lodz, das nun Litzmannstadt hieß, in ein geschlossenes Ghetto verwandelt hätten. Dieses setzte sich aus den Vierteln Stare Miasto, Bałuty und Marysi zusammen, den ärmsten Stadtteilen. Viele Straßen verfügten noch nicht einmal über einen Abwasseranschluss. Rund um den Sperrbezirk wurde ein Zaun mit Stacheldraht gezogen, um ihn vom Rest der Stadt abzutrennen. Auf vier Quadratkilometern lebten nun zusammengepfercht 160.000 Menschen.

Elsa Rozenberg wagte nicht, sich auszumalen, in welchen Zuständen ihre beiden Schwestern, ihr Bruder und deren Familien nun leben mussten. Die wirklichen Verhältnisse, die im Ghetto herrschten, überstiegen jedes Vorstellungsvermögen.

Die Nachrichten von der Willkür der Deutschen im besetzten Polen versetzen weite Teile der belgischen Bevölkerung in Angst und Schrecken. Das Bild, das die Belgier von den Deutschen hatten, war alles andere als schmeichelhaft. Allen waren die Gräueltaten der kaiserlichen Truppen vom August 1914 in lebhafter Erinnerung. Im Lande machte sich eine gewisse Resignation breit. Es gab eine nervöse Erwartung für das Unausweichliche, andererseits immer noch die Hoffnung, dass man es genau wie 1870 schaffen werde, sich aus einem Konflikt, der einen eigentlich nichts angehe, herauszuhalten.

Die Rozenbergs gingen nun öfter in die Synagoge, um den Allmächtigen um Schutz für ihre verfolgten Verwandten zu bitten und gleichzeitig dafür zu danken, in Sicherheit leben zu können. Während bei den wöchentlichen Gesprächsrunden die Männer meist betroffen schwiegen, redete Elias, der mittlerweile siebzehn Jahre zählte, umso mehr. Er verkündete lautstark, dass die Boches40 es nicht wagen würden, Belgien anzugreifen. Sie würden sich am Fort von Eben-Emael, der größten und stärksten Festung der Welt, eine blutige Nase holen und die Zähne ausbeißen. Die Panzerung der Bunker und die Feuerkraft der Geschütze seien unerreicht. Freds Vater, der bereits den letzten Krieg in Belgien erlebt hatte, war da weniger zuversichtlich.

Am 10. Mai 1940 tauchten deutsche Fliegerverbände auf. Bald hörte man auch in Seraing das Grollen schwerer Geschütze, das rasch näher kam. »Die Deutschen kommen!« Menschen schrien, Pferde wieherten, Autos hupten. Das allgemeine Tohuwabohu erinnerte an den Untergang Pompejis. Joshua hätte es nicht gewundert, wenn auf einmal eine der umliegenden Kohlehalden wie ein Vulkan explodiert wäre und die ganze Stadt unter Feuer und Asche begraben hätte. Maßgeblich Schuld am allgemeinen Chaos trug das Militär, das den Kommunalbehörden dazu geraten hatte, Kleinkinder, Kranke und ältere Personen zu evakuieren. Damit war ein Signal zur allgemeinen Flucht gesetzt.

Die deutsche Offensive erfolgte in ungeahntem Tempo. Nachdem das Fort von Eben-Emael von den Deutschen im Handstreich genommen wurde, gab es kein Halten mehr, Städte und Dörfer entvölkerten sich innerhalb von Stunden. Eine regelrechte Völkerwanderung setzte sich in Gang und alles, was Beine hatte, ergriff die Flucht. Selbst Betagte und Behinderte wurden in Hand- oder Schubkarren gesetzt und von ihren Angehörigen geschoben. Manche Karren waren so überladen, dass sie nach wenigen Hundert Metern zu Bruch gingen und in den Straßen liegen blieben.

Die Rozenbergs und die Goldsteins hatten für alle Fälle Vorkehrungen getroffen. Nathans Söhne hatten einen alten Lastwagen aufgetrieben, ihn wieder fahrtüchtig gemacht und zu einem kleinen Bus umgebaut, der Platz für die ganze Familie bot.

Ariel Rozenberg hatte seinerseits vier robuste Fahrräder besorgt und sie für die Flucht umgerüstet. Am Heck der Räder hatte er Ständer für das Gepäck schweißen lassen. Für Joshuas Stoffhasen, den er angeblich gerne auf den Mond geschickt hätte, hatte er ein Gestell schmieden und an Joshuas Lenkstange montieren lassen, sodass er einen Logenplatz besaß.

Die Rozenbergs konnten die Brücke von Seraing aufs andere Ufer der Maas gerade noch passieren, bevor sie von der abrückenden belgischen Armee gesprengt wurde. Die Eltern achteten darauf, dass sie in dem heillosen Durcheinander ihre Kinder nicht aus den Augen verloren.

Die belgischen Truppen waren vom massiven Angriff der Wehrmacht überfordert. Als die Deutschen in Lüttich einmarschierten, glich die Lichterstadt einer Geisterstadt. Während die meisten Einwohner die Flucht ergriffen, hatte Jean-François Stevens von der Bank Nagelmackers beschlossen, auszuharren. Das gebot seine Stellung als Direktor. Bei stürmischer See habe der Kapitän auf der Brücke zu bleiben, sagte er, als seine Frau nachfragte, ob es nicht ratsamer wäre mit den anderen zu fliehen.

Stevens hatte die Fenster seines Hauses mit Brettern vernagelt und im oberen Stockwerk eine weiße Fahne gehisst. Während die Familie im abgedunkelten Wohnzimmer den Rosenkranz betete, klopfte es mit einem Mal heftig an der Haustüre. In der Befürchtung, dass es sich um marodierende Soldaten handelte, spähte Stevens hinaus und sah einen jungen Mann in Lederhosen.

Außer »bonjour«, »merci« und »mossiö« sprach er kein Wörtchen Französisch. Stevens verstand immerhin so viel, dass er Albert Goor hieß und ein Neffe von Lambert Goor war. Lambert Goor war ein Getreidehändler aus Eupen und ein langjähriger Kunde der Bank. Also öffnete er die Tür und ließ den Burschen hinein.

Der junge Mann berichtete aufgeregt, er sei den Deutschen, die am frühen Morgen in seine Heimatstadt einmarschiert seien, gerade noch entkommen. Die Eltern hätten ihn weggeschickt, damit er ihnen nicht in die Hände fiele.

Stevens kannte sich in den belgischen Ostgebieten aus, weil seine Bank in allen größeren Ortschaften Zweigstellen unterhielt. Die Kreise Eupen und Malmedy waren 1920 durch den Versailler Vertrag an Belgien gekommen.

 

Die Bevölkerung war bezüglich des neuen Vaterlands gespalten. Die Brüder Lambert und Leopold Goor kämpften für den Verbleib bei Belgien. Deswegen waren sie bei der Heimattreuen Front, einer lokalen Tarnorganisation der Nationalsozialisten, verhasst. Als stramme Belgier mussten sie im Fall eines Anschlusses ihrer Heimat an das Deutsche Reich mit schlimmen Repressalien rechnen. Daher hatten sie für den Ernstfall vereinbart, dass Lambert Goor, der als Getreidehändler einen Lastwagen besaß, sich mit allen Kindern ins belgische Hinterland absetzen solle, während der Landwirt Leopold zurückbleiben werde, um über Haus und Hof zu wachen.

Der deutsche Einmarsch überraschte sie im Schlaf. Dem Futterhändler blieb keine Zeit, neben den drei eigenen auch noch die sieben Kinder seines Bruders einzusammeln. Da er nicht auftauchte, hielt Alberts Mutter es für klüger, dass ihr ältester Sohn sich aus dem Staub machte. Da er gerade das Abitur gemacht hatte und volljährig war, würden die Deutschen ihn in ein Strafbataillon der Wehrmacht einziehen und als Kanonenfutter benutzen.

Mit zwei Kilo Kartoffeln im Rucksack schickte sie ihn in Richtung Lüttich los, denn es war vereinbart, dass Lambert bei der Bank Nagelmackers Station machen solle, um Geld abzuheben. Angesichts des raschen Vormarsches der Wehrmacht machte Lambert jedoch einen Bogen um die Maasstadt und steuerte mit Kind und Kegel schnurstracks die belgische Küste an.

Der junge Goor schaffte es gerade noch in die Straßenbahn. Doch die Fahrt nach Verviers endete schon nach wenigen Kilometern, weil die Kleinbahn von der deutschen Vorhut eingeholt wurde. Feldgendarmen, die ein Kollaborateur anführte, zwangen die Fahrgäste auszusteigen. Obwohl der ortskundige Begleiter der Deutschen, ein führendes Mitglied der »Heimattreuen Front«, ein fanatischer Nationalsozialist war, überredete er die Feldgendarmen, seine Landsleute laufen zu lassen. Selbst den Sohn des stadtbekannten Volksverräters Goor ließen sie auf seinen Wunsch hin laufen. Offenbar gab es in den umkämpften Ostkantonen41 noch ein Gefühl der Solidarität über alle politischen Gräben und persönlichen Feindschaften hinweg.

Jean-François Stevens blieb nichts anderes übrig, als den jungen Mann bei sich aufzunehmen. Er wies ihn allerdings an, schleunigst seine Lederhosen auszuziehen, denn damit mache er in Lüttich eine komische Figur.

Stevens ahnte damals noch nicht, dass aus dem flüchtigen Besucher ein Dauergast werden sollte. Denn der Bauernsohn begann im Oktober 1940 an der Universität Lüttich ein Medizinstudium. Eigentlich hatten sich seine Eltern erhofft, er werde ins Priesterseminar eintreten, aber schließlich gaben sie seinem Wunsch nach, Medizin zu studieren, weil ihn das vor dem Zugriff der Besatzer beschützen würde. Es war allgemein bekannt, dass die belgischen Universitäten sich weigerten, die Namenslisten mit den Einschreibungen und Abschlüssen ihrer Studenten herauszurücken. All ihre persönlichen Daten wurden von den akademischen Räten an geheimen Orten aufbewahrt.

* * *

Unterdessen ergriffen zwei Millionen Belgier die Flucht. Die überfüllten Straßen entlang der Maas waren gesäumt mit zerstörtem Kriegsmaterial, totem Vieh, verlorenen oder weggeworfenen Gepäckstücken.

Den ersten Toten begegneten die Rozenbergs auf der Höhe von Andenne. Sie trafen auf ein altes Weiblein, das einsam und regungslos am Straßenrand saß. Die Mutter stieg vom Fahrrad, um zu schauen, was ihr fehle und wie sie ihr helfen könne. Da sie nicht reagierte, fasste sie die Alte bei der Schulter, worauf diese in sich zusammensackte und rückwärts in den Graben plumpste. Da erst erkannte sie, dass sie tot war.

Nach zwei Tagen passierten sie die französische Grenze. Joshua bemerkte, dass große Gruppen von Kindern alleine unterwegs waren, weil sie den Anschluss an einen Treck verloren hatten und in der Menschenmenge nach ihren Eltern suchten.

Die Rozenbergs schlossen sich einem größeren Flüchtlingsverband an. Das hatte den Vorteil, dass man sich untereinander helfen konnte, aber den Nachteil, dass sie für deutsche Jäger eine ideale Zielscheibe abgaben. Obwohl diese sehen konnten, dass es sich um Zivilisten handelte, flogen sie im Tiefflug über die Trecks, warfen ihre Bomben ab und schossen mit ihren Maschinengewehren. Die gefürchteten Sturzkampfbomber vom Typ Ju 87 waren mit einer Sirene ausgestattet, die wegen des höllischen Geheuls, das sie veranstalteten, von den Flüchtlingen die Trompeten von Jericho genannt wurden. Joshua erinnerten sie an das Jaulen der Schofarhörner, die den Beginn des jüdischen Neujahrsfestes ankündigen.

Jedes Mal, wenn ein deutsches Geschwader auftauchte, suchten die Menschen Deckung. In Windeseile stoben sie auseinander. Auch die Rozenbergs ließen ihre Fahrräder fallen, sprangen in den Straßengraben oder verkrochen sich in ein Kornfeld. Joshua war immer etwas langsamer als die anderen, weil er vorher Roro aus seinem Körbchen befreien musste. Das brachte den Vater in Rage und die Mutter zur Verzweiflung. Sobald sie Joshua zu packen bekam, warf sie sich schützend über ihr Söhnchen. Dem tat es gut, die Körperwärme seiner Mutter zu spüren. Dann fühlte er sich sicher und geborgen.

Die Flüchtlinge ahnten nicht, dass ihr Fluchtweg genau auf der roten Linie lag, die die Invasoren gezogen hatten, um rasch und weitgehend ungehindert ins Herz Frankreichs zu gelangen. Anders als 1914, als der Angriff über die belgische Tiefebene erfolgte, stießen die Deutschen diesmal südlicher durch die Ardennen nach Westen vor. Auf der Höhe von Sedan gab es für die deutschen Panzer ein Schlupfloch in der Maginot-Linie, dem gewaltigen Befestigungswerk, auf das die Franzosen alle Hoffnungen gesetzt hatten, um die Deutschen in Schach zu halten.

Unterwegs kreuzten die Rozenbergs belgische, französische und englische Truppen, die teils vorwärts, teils rückwärts marschierten. Die Soldaten schienen völlig orientierungslos zu sein. Vergeblich versuchten Militärpolizisten, die Straßen freizuhalten. Die Melder auf ihren Motorrädern fuhren kreuz und quer und schienen genauso verwirrt und verloren wie die Truppen, die sie leiten sollten.

Das Chaos auf den Straßen ließ für den weiteren Verlauf des Krieges, vor allem für die angekündigte Entscheidungsschlacht, nichts Gutes erwarten. Dass die alliierten Truppen desorganisiert waren, zeigte sich schon daran, weil es den Soldaten an Proviant mangelte. Immer wieder kam es vor, dass sie die Vertriebenen, die selbst Not litten, um Verpflegung oder um Trinkwasser baten.

Über der Landschaft lag ein bestialischer Gestank. Nach jedem Luftangriff waren die Straßen mit Leichen und Tierkadavern übersät. In den umliegenden Wiesen machten sich streunende Hunde, Füchse und Krähen über die verwesenden Reste von Rindern und Schafen her. In den Straßengräben lagen Hinweise auf die drohende Niederlage: verlorene Kleidungsstücke, aufgebrochene Koffer, zerschlagenes Porzellan.

Mehr als alle anderen wurden die Insassen von Autos, Autobussen und Lastwagen Opfer der Tiefflieger, weil sie die Gefahr nicht immer rechtzeitig kommen sahen oder nicht schnell genug das Fahrzeug verließen. Überall am Straßenrand lagen zerstörte Fahrzeuge. Einmal passierten sie ein ausgebranntes Auto, auf dessen Rücksitz die verkohlten Leichen von Kindern saßen. Da Mendel und Joshua wie angewurzelt auf das grausige Bild starrten, versuchte die Mutter sie vom Tatort wegzuziehen. Sie verdeckte Joshuas Augen mit ihren Händen, was ihr aber nur teilweise gelang.

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