Schattenkinder

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Als er im Schein einer Petroleumlampe erkannte, dass es sich um Männer, Frauen und Kinder handelte, schloss er das Fenster, stieg die Treppe hinunter und bat die erschöpften Wanderer einzutreten. Er hatte offenbar erkannt, dass es sich um Flüchtlinge handelte, sprach das aber mit keinem Wort an. Er entschuldigte sich nur wegen der Flinte, mit der er ihnen gedroht hatte. Man könne in diesen schlechten Zeiten nicht vorsichtig genug sein. Es gebe genügend Strolche, die sich nachts in der Gegend herumtrieben.

Während er ein Feuer im Herd anzündete, kam eine Frau im Schlafrock hinzu und reichte den Frauen Handtücher und Decken für die Kinder. Für jedes Kind gab es einen Becher Milch. Bald strömte der Duft von echtem Bohnenkaffee durch die Stube, ein Genuss, den es in Deutschland schon lange nicht mehr gab.

Wie alle anderen waren auch Mendel, Joshua und Roro von dem Marsch sehr mitgenommen. Sie waren mehrmals hingefallen und hatten sich blutige Schrammen geholt. Unter Roros linken Arm war eine Naht geplatzt, sodass Stroh hervorquoll. Als die Mutter den bedauernswerten Zustand des Hasen sah, tröstete sie Joshua, indem sie versprach, die Blessuren mit ein paar Nadelstichen zu behandeln. Nach einem ordentlichen Bad in der Wanne werde Roro wieder ganz der Alte sein.

Der Bauer eröffnete ihnen, dass sie auf Reinhardshof seien, einem Weiler im Hohen Venn, der seit 1920 zu Belgien gehöre. Er bot ihnen an, sie in die nächste belgische Stadt zum Bahnhof zu geleiten. Von dort könnten sie problemlos ins Innere des Landes reisen. Ob dieser Ankündigung begann eine Frau vor Freude und Erleichterung heftig zu schluchzen. Sie wollte der Bäuerin die Hände küssen, was diese aber zu verhindern wusste. Was sie täten, sei selbstverständlich, sagte die Frau.

Die Bauersleute machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die Nationalsozialisten. Der Bischof von Lüttich habe schon lange vor dem braunen Gesindel gewarnt, ereiferte sich der Hausherr. In Zeiten, da Deutschland von einem hergelaufenen Landstreicher und einer Bande gottloser Burschen regiert werde, würden sie allen helfen, die verfolgt würden – ganz egal um wen es sich handele.

Als sie am frühen Morgen loszogen, machte Joshua drei weitere Bauernhöfe in der Dämmerung aus. Mit der aufgehenden Sonne wurde es wärmer, und das Moor begann nach den starken Regenfällen der vergangenen Nacht wie eine Waschtrommel zu dampfen. Aus Furcht einer Zollstreife zu begegnen, führte der Bauer sie mitten durchs Moor. Als Wegweiser dienten ihm einige verwachsene Moorbirken und die eine oder andere windschiefe Eberesche. Als sich die Wasserrinnen zu einem Bachlauf sammelten, folgten sie diesem aus dem Sumpfland hinaus bis in dichte Fichtenwälder.

Nach einigen Stunden erreichten sie, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein, eine Stadt, die am Saum des Hertogenwaldes lag. An staunenden Passanten vorbei zog die bunte Truppe schnurstracks zum Bahnhof. Dort verabschiedeten sich die Flüchtlinge von ihrem Führer. Als einige dem Bauern Geldscheine zustecken wollen, lehnte der energisch ab. Er habe nur seine Christenpflicht getan. Dann verschwand er, ohne seinen Namen zu hinterlassen.

* * *

Am frühen Abend erreichte die Familie Rozenberg Lüttich. Als die Jungen die vielen Lichter und Leuchtreklamen vor dem Bahnhof sahen, glaubten sie sich wirklich im »Gelobten Land«: Sie hatten es geschafft. Zur Feier des Tages leistete der Vater sich ein Taxi. Er winkte eine der Limousinen, einen Peugeot 402 L, herbei und bat den Chauffeur, sie in die Rue du Parc zu bringen. Als Mendel und Joshua über den breiten Boulevard d’Avroy fuhren, kamen sie sich wie Staatsgäste vor.

Die Familie Goldstein bewohnte ein solides geräumiges Haus in der Nähe des Parks de la Boverie. Der Empfang war überaus herzlich. Nachdem vor Wochen jeglicher Kontakt abgebrochen war, waren die Goldsteins in Sorge gewesen, ob den polnischen Verwandten die Flucht nach Belgien gelungen war. Mit seinem fusseligen Bart und den langen Schläfenlocken glich der Kantor den galizischen Juden, die Joshua aus Lodz kannte. Wie es die chassidische Tradition verlangte, trug auch Hanna, seine Angetraute, einen bodenlangen schwarzen Rock, eine hochgeschlossene Bluse und eine Perücke.

Nathan Goldstein und seine Frau boten ihnen unbegrenzte Gastfreundschaft an: Sie gehörten schließlich zur Familie und die »Mischpoche15« ist den Juden heilig. Sie sollten so lange bleiben, bis sie etwas Eigenes, Dauerhaftes gefunden hätten Rozenberg war dafür sehr dankbar, weil er wusste, dass ein fester Wohnsitz bei der Suche nach einem Domizil und bei Behördengängen, die anstanden, um ein Gewerbe zu eröffnen, hilfreich sein würde. Vorübergehend bezogen sie im ersten Stock des Hauses zwei Zimmer.

Nacheinander trudelten die Kinder des Kantors ein, die neugierig auf die ferne Verwandtschaft waren. Die Familienverhältnisse der Gastgeber waren für Außenstehende schwer zu durchschauen.

Aus Nathans erster Ehe stammten vier Kinder: Leewi, der älteste Sohn, war ein Hausierer, der von Haus zu Haus zog und mit Knöpfen, Reißverschlüssen und Garn handelte. Er war ein lebenslustiger Geselle und hatte ein ausgefallenes Hobby: er züchtete Kanarienvögel. Hirsch, der zweitälteste Sohn, war der Stolz des Vaters. Er studierte im vierten Semester Zahnmedizin an der Universität. Die Tochter Bad-Sebah war Verkäuferin in der Schuhabteilung eines großen Kaufhauses und mit Aaron Rubinstein, einem Grubenarbeiter, verlobt. Elias, der jüngste Sohn aus erster Ehe, den alle Fred nannten, ging noch zur Mittelschule. Fred war das Enfant terrible der Familie. Schließlich gab es noch aus Nathans zweiter Ehe mit Hanna Nejmann den vierjährigen Benjamin. Mit seiner Namenswahl hatten die Eltern dem Allerhöchsten signalisieren wollen, dass es nun genug sei mit dem Kindersegen.

Das Haus lag ganz in der Nähe der Synagoge. Mangels eines Rabbis leitete Goldstein als Chasan16 den Gottesdienst am Schabbat17. Schon Nathans Vater Noah, der vor der Jahrhundertwende aus Kongresspolen eingewandert war, hatte das Amt des Vorbeters ausgeübt. Damals versammelten sich die Lütticher Juden noch in Privathäusern. Die prächtige Synagoge in der Rue Léon-Frédericq war erst um die Jahrhundertwende auf einer Flussinsel erbaut worden. Als Joshua sie zum ersten Mal erblickte, war er überwältigt. Die Fassade, die orientalische und italienische Elemente in sich vereinte, erinnerte eher an ein verwunschenes Märchenschloss als an ein jüdisches Gebetshaus.

Nathan Goldstein, der wie sein Vater den Beruf eines Schusters ausübte, zeichnete sich durch besondere Frömmigkeit aus. Ohne größere Studien absolviert zu haben, verstand er es, die Thora so auszulegen, dass sie einen konkreten Bezug zum Alltag der Menschen hatte. Aber in der Auslegung der Heiligen Schriften war er unerbittlich. Von den Gläubigen wurde er respektvoll »Rabbi« genannt, was ihm nicht zustand, aber ihm sichtlich schmeichelte. Goldstein war nicht irgendein namenloser Chasan. Er hatte sich als Autor verschiedener Hymnen, die nicht nur in Lüttich sondern auch in anderen Synagogen übernommen wurden, einen Namen gemacht.

Die jüdische Gemeinde in Lüttich war klein und überschaubar. Die ersten Juden, die sich in der Maasmetropole niedergelassen hatten, stammten aus den Niederlanden. Nach dem Krieg war die Zahl der Gläubigen angewachsen, weil die Lütticher Hochschulen viele ausländische Studenten anzogen. Darunter waren etliche Juden aus Osteuropa und vom Balkan, die in ihren Heimatländern einem Numerus clausus unterlagen. Bei den Neuankömmlingen handelte es sich meist um säkulare und liberale Juden, deren religiöse Kultur minimal war. Insofern fristete die Lütticher Gemeinde weiterhin ein kümmerliches Dasein, bis immer mehr gläubige Juden aus Osteuropa einwanderten. Mit der Ankunft polnischer Juden stieg die Gemeinde sprunghaft auf 2.560 Mitglieder an.

In den ersten Jahren besuchte an hohen Festtagen ein Rabbi aus den Niederlanden die Gemeinde. 1938 erhielt Lüttich mit Efraim Dombrowicz endlich einen eigenen Rabbiner. Zu dessen Aufgaben zählte die Durchführung der vorgeschriebenen Rituale bei Beschneidung, Trauung und Beerdigung. Seine Ernennung war eine Erleichterung für die Gläubigen, da sie nun nicht mehr für jede größere Amtshandlung die Synagogen in Brüssel oder Antwerpen aufsuchen mussten.

Die Ankunft des Rabbis führte zu Reibereien mit dem Kantor, weil Nathan Goldstein sich in seinem Amt und seiner Autorität geschmälert sah. Anders als Goldstein hatte Dombrowicz in Polen eine Jewiche18 besucht und an dieser religiösen Hochschule die Thora19 und den Talmud20 studiert. Er schien daher eher dazu geeignet zu sein, eine Gemeinde zu leiten.

Damit musste der Kantor das angesehene Amt eines Vorbeters, das er bisher wahrgenommen hatte, abtreten und sich mit der Rolle eines Organisten und Vorsängers begnügen. Auch die Leitung des Cheders21, der Thoraschule, fiel nun in die Verantwortung des niederländischen Rabbis. Die Leitung eines Cheders war ein einträgliches Amt, denn die Eltern mussten für ihre Sprösslinge Schulgeld zahlen. Von seinen früheren Ämtern blieb Goldstein am Ende nur das eines Mohels22, eines Fachmanns für rituelle Beschneidungen, übrig.

Von einem Kantor durfte man nicht nur eine gute Stimme und eine gründliche Kenntnis der Liturgie erwarten, sondern auch eine repräsentative Frömmigkeit und ein einwandfreies Verhalten. Entsprechend hatten sich auch die Mitglieder seiner Familie aufzuführen. Ohne dies ausdrücklich auszusprechen, erwartete Nathan Goldstein, dass sich seine polnischen Gäste als fromme Juden gebärdeten. Er achtete darauf, dass die vorgeschriebenen Gebetszeiten von allen Hausgenossen eingehalten wurden. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem gemeinsamen Abendgebet am Vorabend des Schabbats.

Im Hause Goldstein tauchte Joshua in die chassidische Frömmigkeit ein, wobei der Kantor sich als strenger Lehrmeister und Joshua als gelehriger Schüler erwies. Anders als sein Bruder Mendel, der nie um eine Ausrede verlegen war, um sich vor einer Gebetsübung zu drücken, begleitete Joshua den Onkel öfter zum Schacharif23, dem Morgengebet, in die Synagoge. Wenn er morgens mit dem Kantor in seinem schwarzen Kaftan und dem Hut aus Zobelfell auf dem Kopf loszog, begegneten ihnen nirgends feindselige, sondern höchstens verwunderte Blicke. Nie gab es Beschimpfungen oder Anpöbelungen, wie Joshua es in Polen erlebt hatte.

 

In der Synagoge beobachtete Joshua, wie der Onkel den weißen Gebetsmantel anlegte und sich die Gebetsriemen um Arme und Stirn band, bevor er die Schriftrollen aus dem heiligen Schrein holte. In der Synagoge fanden sich morgens einige alte Männer ein, um mit dem Kantor die Psalmen, das Schma Jisrael24, und das Achtzehnbittengebet, das Schmone Esre, anzustimmen.

Wenn die Männer sangen, wippten sie mit dem Oberkörper hin und her, als wären sie angetrunken. Die Männer hielten Bücher mit Goldrand in ihren Händen. Joshua hätte sich gerne eines mit nach Hause genommen, aber Onkel Nathan meinte, dafür sei er noch zu klein, weil er noch nicht einmal lesen könne.

Der Onkel besaß eine warme Baritonstimme. Sein Gesang war sehr gefühlsbetont. Offenbar legte er wenig Wert auf die Bedeutung des gesungenen Liedes, denn viele Gesänge beschränkten sich auf ein einziges Wort oder einige Silben, die der Kantor manchmal bis zur Ekstase wiederholte. Die Geräusche, die er dabei ausstieß, erinnerten Joshua an das Gebrabbel und Glucksen von Säuglingen.

Als Joshua einmal nach dem Sinn dieser Übung fragte, belehrte der Onkel ihn, dass der Mensch sich dem Allmächtigen am ehesten nähern könne, wenn er seine Gebete als kindliches Gestammel vortrage. Das ständige Kopfnicken und das Schaukeln mit dem Oberkörper hülfen der Seele, das Alltägliche zu verdrängen und mit dem Allmächtigen eins zu werden.

Joshua war von dem, was er in der Synagoge hörte und sah, beeindruckt. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, plapperte er einzelne Silben, die er in der Synagoge aufgeschnappt hatte, nach, wobei er nach Art frommer Juden mit dem Oberkörper schockelte25. Roro hielt das alles für Firlefanz. Er mochte den Kantor und seine aufgeblasene Sippe nicht und machte dies auch gegenüber Joshua deutlich: Als dieser ihn nach den Gründen fragte, sagte Roro, er habe eines Tages mitbekommen, wie der Schuster bei seiner Frau darüber lästerte, dass der jüngste Sohn des Metzgers ein unreines Tier als Schmusetier habe. Daran sähe man, wie es um die Frömmigkeit des Metzgers und seiner Familie bestellt sei.

* * *

Unterdessen war Ariel Rozenberg bemüht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, was die Voraussetzung für die Eröffnung eines Gewerbes war. Da Nathan Goldstein, der die belgische Staatsangehörigkeit besaß, ihn als Schustergesellen eingetragen und ihm so ein Bleiberecht erwirkt hatte, konnte er sich bald auf die Suche nach einer passenden Immobilie machen.

Tagelang streifte er durch die Innenstadt und die Peripherie. Anders als in Polen wurden in Belgien Mietangebote, Hauskäufe und Geschäftsübergaben nicht über Inserate in Zeitungen oder Agenturen angeboten, sondern durch Aushänge an Türen und Fenstern. Wenn Rozenberg ein interessantes Objekt entdeckte, schob er einen Brief in den Briefkasten, der sein Anliegen erklärte, in der Hoffnung, dass man darauf reagierte.

Die wirtschaftliche Situation war für Geschäftsgründungen nicht gerade günstig. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 war die Arbeitslosigkeit innerhalb weniger Jahre drastisch angestiegen: von 15.000 Arbeitssuchenden auf 213.000. Gleichzeitig sanken die Löhne. In den 30er Jahren verdiente ein Arbeiter weniger als sein Vater oder Großvater. Im Lütticher Kohlerevier mussten sogar einige Zechen schließen. Gleichzeitig wurden moderne Kokereien eingeführt, die weniger Personal erforderten, was wiederum zu erbitterten Streiks führte.

Eines Tages entdeckte Rozenberg im Lütticher Vorort Seraing in der Rue du Buisson ein Aushängeschild für eine Geschäftsübergabe. Es handelte sich um eine Pferdemetzgerei. Da er der Landessprache noch nicht mächtig war, nahm er am nächsten Tag Mendel mit, um mit dem Inhaber zu verhandeln. Der Betreiber sagte, er wolle sich zur Ruhe setzen und sein Geschäft übergeben. Der Verkauf von Pferdefleisch sei nämlich stark zurückgegangen.

Die Schuld daran gab er den Briten, die im Krieg in Belgien gekämpft hatten. Sie wären ausgesprochene Pferdenarren gewesen und hätten es nicht ertragen, dass solch edle Geschöpfe in die Kochtöpfe wanderten. Die hiesigen Essgewohnheiten hätten sie als Kannibalismus bezeichnet. Mit der Zeit habe die Polemik Wirkung gezeigt. Seit dem Krieg schien das süßlich bis säuerlich schmeckende Fleisch, das doch so nahrhaft sei, selbst den Gruben- und Stahlarbeitern, die nicht wählerisch waren, nicht mehr zu munden.

Der Standort der Metzgerei kam Rozenberg gelegen, denn Seraing lag zehn Kilometer vor den Toren Lüttichs und bedeutete eine räumliche Distanz zu seinem aufdringlichen und übermächtigen Vetter. Seraing zählte 60.000 Einwohner, darunter viele italienische und polnische Gastarbeiter. Ihre Bewohner nannten ihre Stadt kurz und knapp »Srè«. Dieses »Srää« war keine schöne Stadt, denn selbst im Ortskern gab es Schmelzöfen und Fabrikhallen. Jedes Viertel führte ein Eigenleben, hatte einen eigenen Marktplatz und eine Geschäftsstraße. Die Rue du Buisson lag in einem Viertel, das im Volksmund Quartier Verrière hieß, weil dort viele Glasmacher lebten, die in der Kristallerie du Val St-Lambert arbeiteten.

Die Stadt Seraing war weit über Belgien hinaus ein Begriff, denn hier stand die Wiege der industriellen Revolution auf dem Kontinent. Am Rathaus hatte man eine Tafel angebracht mit einem Ausspruch des Schriftstellers Victor Hugo, der während seines Exils aus Frankreich die Stadt besucht hatte. »In Seraing stehen die Kathedralen der Neuzeit«, stand auf der Tafel. Der englische Industriepionier John Cockerill hatte im vorigen Jahrhundert das frühere Sommerschloss der Fürstbischöfe erworben und es in eine Eisenhütte verwandelt. Später kamen ein Stahl- und ein Walzwerk, eine Kesselschmiede sowie eine Maschinenfabrik hinzu. In Seraing wurden die allerersten Lokomotiven Europas gebaut.

Rozenberg wurde sich mit dem Ladeninhaber handelseinig. Im September 1936 kaufte er das Reihenhaus mitsamt seiner Einrichtung. Den Kaufakt tätigten Käufer und Verkäufer in einer Lütticher Kanzlei, die einem Notar Van den Berg gehörte. Da es ihm an Kapital mangelte, sah Rozenberg sich genötigt, für den Hauskauf einen Kredit aufzunehmen, was nur möglich war, weil Nathan Goldstein bereit war, für ihn zu bürgen.

Den Kredit nahm Rozenberg bei der Privatbank Nagelmackers auf. Nathan Goldstein, der kein ungebildeter Mensch war, klärte seinen polnischen Vetter darüber auf, dass diese Bank nicht irgendeine Bank sei sondern etwas Besonderes. Sie stamme aus dem Jahre 1747. Die Familie Nagelmackers zähle in ihren Reihen bedeutende Bankiers und Politiker und Pioniere des Eisenbahnbaus, die einen weltweiten Ruf genössen.

Der Lütticher Filialleiter hieß Jean-François Stevens und war – wie Goldstein nicht ohne Stolz vermerkte – mit einem seiner Söhne befreundet. Da er fließend Deutsch spreche, würden viele Israeliten, zu seinen Kunden zählen. Wie Rozenberg es mit Siegmund Meyer vereinbart hatte, richtete der Metzger neben seinem laufenden auch ein Sperrkonto ein, auf das er die monatlichen Raten für das bei ihm geliehene Geld einbezahlte.

Das Reihenhaus war um die Jahrhundertwende erbaut worden. Im Erdgeschoss war neben der Haustüre ein großes Schaufenster. Hinter dem Metzgerladen befanden sich die eigentliche Schlachterei und ein Vorratsraum. Im Obergeschoss gab es drei Zimmer und im Dachgeschoss zwei weitere Kammern. Das Haus war mit allem Komfort ausgestattet. Anders als in dem Mietshaus, das sie in Lodz bewohnt hatten, wo es nur einen Wasserkran im Flur gegeben hatte, verfügten alle Schlafzimmer über fließendes Wasser. Statt eines Plumpsklos im Hof gab es auf halber Treppe zwischen Erd- und Obergeschoss in einem Erker ein Wasserklosett. Es schwebte wie ein Schwalbennest über dem Innenhof. Auf dem stillen Örtchen war es recht gemütlich und Joshua verbrachte dort viel Zeit, vor allem wenn er sich vor häuslichen Arbeiten drücken wollte.

Das Höfchen wurde bald zu Mendels und Joshuas bevorzugtem Spielplatz. Hier konnten sie ungestört mit ihren Zinnsoldaten spielen oder in einem vom Vater gebastelten Holzkasten Sandburgen bauen, ohne dass die Nachbarn Einblick hatten. Joshua kam eines Tages auf die Idee, dort ein Terrarium einzurichten. Bald sammelte er in der Umgebung alles, was da kreucht und fleucht.

In seinem Privatzoo gab es Raupen, Regenwürmer, Schmetterlinge, Heuschrecken, Blattläuse, Marienkäfer und andere Insekten. Als Käfige dienten alte Einmachgläser, die ihm die Mutter überlassen hatte. Joshua fütterte sie mit Gras und Blattwerk. Er verbrachte viele Stunden damit, das Treiben der Tierchen zu beobachten, sodass sein Bruder ihn spöttisch nach einem berühmten Naturforscher Professor Joshua Picard nannte.

Wie in der alten Heimat herrschte auch in der neuen eine klare Arbeitstrennung zwischen Vater und Mutter. Während Ariel Rozenberg seinen Geschäften nachging, schaltete und waltete seine Frau Elsa im Hause nach Gutdünken. Ihr oblag die Erziehung der Söhne. Ariels Verhältnis zu seinen Söhnen war eher pragmatischer Natur. So gut wie möglich ging man sich gegenseitig aus dem Weg.

Das einzige private Vergnügen, das der Vater sich gönnte, war das Trompete blasen. Das Instrument hatte er gegen alle Widerwärtigkeiten bis nach Belgien gebracht. Nachdem er eine Weile alleine gespielt hatte, spürte er das Verlangen einer Blaskapelle beizutreten. Da es für ihn undenkbar war, bei einer Kapelle, die unter der Fahne der katholischen Kirche auftrat, mitzumachen, trat er schließlich der Harmonie »Polonia« bei, obwohl die meisten Mitglieder überzeugte Kommunisten und Trotzkisten waren.

Beim Einzug ins neue Heim überraschte Rozenberg die Familie mit einem Röhrenradio. Das Rundfunkgerät erhielt einen Ehrenplatz auf der Nähmaschine in der Wohnküche, die Leewi Goldstein der Mutter günstig auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte. Die Mutter häkelte ein Deckchen und stellte rund um das Radio Familienfotos und zwei Blumentöpfchen auf, sodass alles wie ein kleiner Hausaltar aussah. Von nun an war man über Kurzwelle mit der weiten Welt verbunden. Am Sonntagabend gab es im Radio die Sportresultate, die am Montag in der Schule eifrig kommentiert wurden.

* * *

Die ersten Jahre in Belgien waren glücklich und unbeschwert. 1937 wurde Joshua eingeschult. Die Gemeindeschule war nach dem Pädagogen und Lokalpolitiker Léon Deleval benannt und lag in der gleichnamigen Straße. Als sich der erste Schultag näherte, versuchte die Mutter, ihm klarzumachen, dass er nun ein großer Junge sei und es an der Zeit wäre, sich von seinem Spielkameraden zu verabschieden. Bisher hatte sie geduldet, dass er sein Stofftier überall mitnahm und wie ein Lebewesen behandelte. Nun sei es an der Zeit, solche Kindereien abzulegen. Auf keinen Fall dürfe Roro mit in die Schule. Das schicke sich nicht.

Joshua wollte davon nichts hören. Gegen den Rat der Mutter schmuggelte er den Hasen in seinem Schulranzen ins Klassenzimmer. Als Schulkameraden ihn entdeckten, gab es Schmähungen und sogar Handgreiflichkeiten, sodass Joshua um Roros Leben fürchten musste. Danach hielt er es für klüger, ihn daheim zu lassen.

Während Joshua das Einmaleins und das Alphabet lernte, saß Roro mürrisch und untätig daheim. Abends beschwerte er sich bei Joshua, dass er sich langweile und aus dem Radio den ganzen Tag über Schlager und Schnulzen von Luis Mariano, Toni Rossi oder Ray Ventura anhören müsse, von denen ­Joshuas Mutter nicht genug bekam. Joshua schlussfolgerte daraus, dass Roro wissbegierig war. Um ihn zu beschäftigen, gab er ihm Papier und Malstifte, damit er sich zerstreuen konnte. Nach Schulschluss schaute Roro Joshua bei den Hausaufgaben über die Schultern. Auffallend war, dass er ständig an Klugheit und Verstand zunahm.

Die ersten Wochen waren für die Brüder Rozenberg schwierig, weil sie daheim nur Jiddisch sprachen, in der Schule aber Französisch und auf dem Pausenhof Wallonisch gesprochen wurde. Aber anders als in Polen, wo sie als Juden auf die hinteren Schulbänke verbannt und von den Lehrern weitgehend ignoriert worden waren, waren sie hier willkommen. In der Masse der Einwanderer und Wanderarbeiter fielen sie nicht auf. Antisemitismus gab es in Wallonien schon deswegen nicht, weil es kaum Juden gab. Die einzigen Kinder, die auf dem Schulhof gehänselt wurden, waren kleine Flamen, die als »dumme Bauerntrampel« beschimpft wurden und es daher vorzogen, auf dem Schulhof unter sich zu bleiben.

 

Mendel entwickelte sich zum Klassenprimus. Der Schulträger entsandte ihn als seinen Vertreter auf interschulische Wettbewerbe, von denen er meist mit einem Preis, etwa mit einem Lexikon oder einem Globus zurückkehrte. Die wurden von der Mutter auf einem Regal in der Wohnküche ausgestellt. Joshua bewunderte seinen Bruder grenzenlos, weil ihm das Lernen so leicht fiel. Mendel hatte eine ruhige Art, die Respekt einflößte, was ihn unter seinesgleichen als natürlicher Anführer empfahl. Für Joshua war er ein unerreichbares Vorbild. Dabei hatte er selber auch gute Schulleistungen vorzuweisen. Bezüglich seiner Zensuren lag er im oberen Mittelfeld.

Zur Belohnung für ihr gutes Zeugnis durften die Söhne sich zum Jahresende in einer Buchhandlung ein Buch aussuchen. Joshua entdeckte ein Märchenbuch mit schönen Bildern, das von einer Hasenschule handelte. Darin waren putzige Langohren abgebildet, die sich wie Menschen benahmen. Die Hasenkinder hatten ein hübsches Zuhause und gingen morgens zur Schule auf eine Waldlichtung. Wie andere Kinder spielten und rauften sie und trieben allerlei Schabernack. Wie im echten Leben wurden sie zur Bestrafung in eine Ecke gestellt, wo ihnen Schulmeister Lampe die Ohren langzog.

Als Roro das Buch sah, war er begeistert. Immer wieder schaute er sich die bunten Bilder mit den hübschen Häschen an. Da die Mutter ihnen abends im Bett Geschichten aus dem Hasenbuch vorlas, konnten sie vieles auswendig aufsagen. Vor allem die gruseligen Verse mit dem Fuchs waren Roro im Gedächtnis geblieben, weil Joshua sie gerne benutzte, um ihm Angst zu machen: »Von dem alten Fuchs, dem bösen, wird erzählt und vorgelesen, wie er leise, husch, husch, husch, schleicht durch Wiese, Feld und Busch.«

Ein Kapitel handelte vom Osterhasen. Es bestätigte Roros Annahme, dass der Feldhase nicht nur eine noble Herkunft, sondern auch eine besondere Bestimmung hatte. Das habe, so erklärte Joshuas Mutter, mit dem Osterfest zu tun. Bis dahin hatte Joshua wie alle polnischen Kinder geglaubt, dass der Storch es war, der den Kindern bemalte Eier in vorbereitete Nester legte. In Belgien erzählte man sich hingegen, dass die Kirchenglocken am Karfreitag nach Rom zögen und am Ostersonntag schwer beladen mit Ostereiern zurückkehrten. Nun stand in dem Buch aber schwarz auf weiß, dass es die Hasen waren, die sich die Eier in den Hühnerställen besorgten, sie bunt bemalten und im Gras versteckten.

Das Häschenbuch hatte unerwartete Folgen. Roro beschloss, es den putzigen Häschen gleichzutun und sich weiterzubilden. Da es in der Nachbarschaft keine eigene Hasenschule gab, beschloss er, sich Lesen, Schreiben und Rechnen im Selbststudium anzueignen. Joshua war etwas überrascht, welch seltsame Wünsche sein Plüschhase äußerte, war dann aber sichtlich stolz auf den Wissensdurst seines Spielkameraden und besorgte ihm das nötige Lehrmaterial.

Roro hatte nun keine Langeweile mehr, denn er studierte ununterbrochen. Er wollte das Alphabet beherrschen, um in dem Heft, das Joshua ihm gegeben hatte, seine Gedanken und Beobachtungen für die Nachwelt aufzuzeichnen. Da die meisten Menschen ihn nicht beachteten, schnappte er viele Bemerkungen auf, die die Gesprächspartner lieber für sich behalten oder zumindest gerne vertraulich behandelt gesehen hätten. Er würde sich kleine Notizen anfertigen. Die sollten ihm helfen, eines Tages seine eigene Biografie zu schreiben.

Im Laufe des dritten Schuljahres wurde Joshua mit der großen Geschichte seiner neuen Heimat vertraut gemacht. Er erfuhr, dass »die Belgier die tapfersten aller Gallier sind«. Das hatte schon Julius Cäsar erkannt, als er den Stamm die Eburonen und ihren Anführer Ambiorix, der einen großen Aufstand gegen die Römer angezettelt hatte, geschlagen hatte. Joshua kannte diesen Ambiorix, denn er war auf dem Karton eines Markenschuhs abgebildet, den Onkel Nathan in seinem Lädchen verkaufte.

Nachdem die Römer irgendwann verschwunden und die Franken gekommen waren, wurde Kaiser Karl der Große geboren. Das war ganz in ihrer Nähe von Lüttich in Herstal passiert. Leider gab es dort keine Spuren mehr von Charlemagne, vermutlich weil an seiner Geburtsstätte nun ein Hochofen stand.

Im Jahre 1099 zog Gottfried von Bouillon in den Ersten Kreuzzug. Nach der Eroberung der Heiligen Stadt wurde er von den Kreuzrittern wegen seiner Tapferkeit zum König von Jerusalem ausgerufen, lehnte aber die Königswürde ab. Nach der Schlacht der Goldenen Sporen im Jahre 1302, als ein belgisches Bauernheer die Blüte der französischen Ritterschaft niedermachte, ging es im Unterricht im Galopp weiter durch vier bis fünf Jahrhunderte, wobei unklar blieb, was die wechselnden fremden Landesherren in Belgien eigentlich verloren hatten.

Im Jahr 1830 erkämpften die Belgier sich ihre Unabhängigkeit von den Holländern. Unter König Leopold II. eroberten sie im Herzen Afrikas ein Kolonialreich, das 80-mal größer als das Mutterland war. Die angeborene Tapferkeit der Belgier hatte die Welt zuletzt 1914 in Staunen versetzt, als ihre Armee sich hinter gebrochenen Deichen verschanzte und diesen Flecken Vaterland vier Jahre lang heldenhaft verteidigte. Joshua war stolz darauf, Belgier zu sein.

Daheim verbrachten Joshua und Roro viele Stunden vor dem Rundfunkempfänger. Es gab zwei Höhepunkte im Wochenprogramm. Mittwochs gab es ein Hörspiel, das sich bis spät in die Nacht hinzog, was öfter zu Streit mit der Mutter führte, die darauf achtete, dass die Jungen rechtzeitig ins Bett kamen. Joshuas Lieblingssendung waren aber die »Schönen Stimmen« an jedem zweiten Freitag. Wenn Joshua das Radio lauter stellte, um besser zu hören, gab es Ärger mit den anderen Familienmitgliedern, weil die sich gestört fühlten.

Danach versuchte Joshua die eine oder andere Arie nachzusingen. Am ehesten war das auf der Toilette möglich, weil man da ungestört war. Eines Tages ertappte ihn ein Aufseher auf dem Schulhof dabei, wie er einige Takte aus dem Sklavenchor von Verdi schmetterte, was ihm unter den Klassenkameraden den Nimbus eines »polnischen Caruso« einbrachte.

Während ihre Eltern sich schwer taten mit der fremden Sprache und der neuen Umgebung, fanden Mendel und Joshua rasch Anschluss. Sie freundeten sich mit den Kindern in der Nachbarschaft an, beteiligten sich an allerlei Kinderstreichen. Einer bestand darin, Laubfrösche einzufangen, sie in trockenes Gras oder Gestrüpp zu setzen, dieses anzuzünden und nachzusehen, wer von ihnen überlebt hatte. Ein anderes Spiel bestand daraus, junge Katzen einzufangen und sie in einen Sack zu stecken, den sie in die Maas warfen, um zu sehen, wie lange sie im Wasserstrudel um ihr Leben kämpfen würden.

Als Joshua davon erzählte, war der Hase empört, denn Frösche und Katzen waren in seiner frühen Kindheit, die er im Schaufenster eines Spielwarengeschäfts verbracht hatte, seine liebsten Spielkameraden gewesen. Er sagte, er schäme sich für Joshua, dass er sich an solchen Schandtaten beteilige und es würde ihn nicht wundern, wenn er eines Tages auch ihn aufspießen und an einem Lagerfeuer braten würde.

Nach dieser heftigen Auseinandersetzung beschloss Joshua, Roro nur noch solche Sachen zu erzählen, von denen er annahm, dass sie ihm gefallen würden.

Auf der Straße herrschte ein rauer Umgangston. Die Jungen beschimpften sich gegenseitig als Korinthenkacker oder Fliegenfotze. Mit jedem neuen Schimpfwort, das sie lernten, verschafften sich die Rozenbergs unter Ihresgleichen etwas mehr Respekt. Ein beliebter Zeitvertreib war das Schwarzfahren mit der Straßenbahn. Die Jungen mischten sich an den Haltestellen unter die Wartenden oder sie sprangen auf die Trittbretter auf, wenn die Tram in einer Kurve ihr Tempo drosseln musste. Joshua und Mendel liebten es, wenn es bergab und in die Kurven ging und der Fahrtwind ihnen um die Ohren pfiff. Einige Schaffner ließen sie gewähren, aber andere drohten ihnen die schlimmsten Strafen an.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»