Schattenkinder

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Auftakt

Obwohl er die Nase fest ans Fensterglas der Straßenbahn drückte, um zu erkennen, was da draußen vor sich geht, nahm ­Joshua nur fliehende Schatten wahr. Obwohl er mehrmals mit dem Ärmel den Dunst abwischte, den sein Atem verursacht hatte, blieb die Scheibe beschlagen.

Joshua war früh am Morgen aufgebrochen, weil er mittags in Stoumont2 sein wollte. Die Kleinbahn mit der Nummer 17 hatte nur wenige Fahrgäste und rumpelte durch menschenleere Straßen. Die Straßenbahnen waren erst seit einigen Wochen wieder in Betrieb. Seitdem die Amerikaner eine Notbrücke über die Ourthe geschlagen hatten, war es vom Rathaus in Seraing bis zum Bahnhof Guillemins in Lüttich mit der Straßenbahn nur noch ein Katzensprung.

Zum ersten Mal in seinem Leben war Joshua alleine unterwegs: Es war eine Fahrt in eine Vergangenheit, die teils düster und tragisch, teils unbeschwert und aufregend gewesen war.

Die Reise ging in ein kleines Kaff in den Ardennen, das ihm ans Herz gewachsen war. In dem abgelegenen Dörfchen Stoumont gab es die Ferienkolonie »Au grand Air«3, in der er einige Jahre als Schattenkind gelebt hatte. »Schattenkinder«, so hießen die »unsichtbaren« Kinder, die den Krieg und die deutsche Besatzung mit einer geborgten Identität überlebt hatten. Joshua hatte den Namen Pierre angenommen, wurde aber in der Kolonie Pierrot gerufen.

Während des Krieges gab es in den Ardennen viele solcher Ferienlager. Sie waren ursprünglich als Sommercamps für Kinder in Notlagen vorgesehen, aber als der Bombenkrieg zunahm und die Versorgungslage in den Städten immer kritischer wurde, wurden aus Provisorien häufig dauerhafte Einrichtungen. Wenn jemand Joshua fragte, was das für eine Einrichtung gewesen sei, konnte er keine genaue Auskunft geben, denn es war eine Mischung aus Kinderheim, Jugendherberge und Internat.

Bei der Befreiung Belgiens waren die Brüder Rozenberg zu ihrer Mutter, die als Magd auf einem Bauernhof überlebt hatte, heimgekehrt. In Stoumont waren nur jene Kinder zurückgeblieben, deren Eltern umgekommen oder verschollen waren, oder die keine andere Bleibe hatten.

Die Erinnerungen an die Jahre, die Joshua gemeinsam mit seinem Bruder Mendel in der Kolonie verbracht hatte, waren ihm nicht unangenehm. Es kam ihm vor, als habe er an einem verlängerten Ferienlager teilgenommen, das erst mit der Befreiung des Landes im letzten September zu Ende gegangen war.

Eigentlich war dieses Kapitel seines Lebens abgeschlossen. Aber am Vorabend des Sabbats hatte ihn Marcel Stenne, der Pfarrer von Stoumont, telefonisch über die Gastwirtschaft »Zum Wagemutigen Vogelfänger« in der Rue du Bœuf kontaktiert. Die Kneipe war eine der wenigen Adressen in Joshuas Nachbarschaft, die über einen Telefonanschluss verfügte.

Der Abbé hatte ihn gebeten, über Weihnachten nach Stoumont zu kommen, um in der Pfarrei auszuhelfen. Er benötige ihn als Ministranten und als Sänger im Kirchenchor. Zusammen mit seinem Freund Arnaud, der noch in der Kolonie war, solle er in der Mitternachtsmesse als Solist auftreten. Der Abbé hatte gemeint, es wäre sinnvoll, wenn er ein paar Tage früher käme, um an den Proben teilzunehmen.

Seine Mutter war über Joshuas Absicht, unverzüglich aufzubrechen, nicht sonderlich erbaut. Sie hätte es lieber gesehen, er hätte das Ende des Lichterfestes abgewartet. Gestern hatten sie erst die vierte Kerze des Siebenarmigen Leuchters entzündet. Außerdem würde Joshua in wenigen Tagen seinen dreizehnten Geburtstag feiern. Das war im Leben jedes jüdischen Jungen ein großer Tag, denn an diesem Tag würde er nach dem Gesetz Mose mündig und ein vollwertiges Mitglied der Gemeinde.

Aber Joshua hatte sich nicht umstimmen lassen, und da sein Bruder keine Lust gezeigt hatte, ihn zu begleiten, war er alleine aufgebrochen. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Zu groß schien ihm die Bringschuld dem Abbé gegenüber. Wenn Joshua über die Zeit in der Kolonie und den Abbé Stenne nachdachte, fiel ihm das Bild von einem Ast mit vielen Blättern ein. Über all die Jahre hatten er und die anderen Jungen sich wie die Blätter eines Baumes an diesem Ast festhalten können, auch wenn es draußen wehte und stürmte. Der Abbé hatte ihnen immer Halt und Zuversicht gegeben.

Nachdem Joshua sich vergewissert hatte, dass ihn in der Straßenbahn, die nur schwach besetzt war, niemand beobachtete, holte er seinen Stoffhasen aus dem Rucksack hervor. Das Häschen hatte ein hellblaues Fell. Seine Nase war flach, und die hellen Glasaugen, die bei jedem Lichtstrahl aufblitzten und funkelten, gaben ihm ein verschmitztes Aussehen. Besonders drollig war das Schwänzchen, das in der Hasensprache Blume hieß. So lange Joshua zurückdenken konnte, war der Plüschhase sein ständiger Begleiter. Als kleines Kind hatte er ihm den Namen Roro gegeben, weil er so selig wie ein Kater schnurren konnte, wenn er schlief.

Das Häschen war ziemlich abgenutzt und in die Jahre gekommen. Sein Fell war nicht mehr so flauschig wie ehedem, seine Gliedmaßen und Schlappohren waren abgegriffen. Da es im Dezember in den Ardennen kalt ist, hatte er ihm den Pullover angezogen, den seine Mutter ihm gestrickt hatte. Er hatte auch ein Säckchen dabei, in das er ihn stecken konnte, um ihn überall unbemerkt mitnehmen zu können.

Joshua setzte Roro auf den Fensterrand, damit er sich recken und strecken konnte. Der Hase war erfreut gewesen, als er erfahren hatte, dass sie für ein paar Tage dem Schmuddelwetter und dem Smog, der um diese Jahreszeit immer in Seraing herrschte, entfliehen würden, um in den Ardennen frische Luft zu atmen.

Joshua hatte den kleinen Kerl immer dabei. Er war sein Vertrauter und Ratgeber in allen Lebenslagen. Da Joshua wusste, dass viele Menschen es für lächerlich hielten, dass ein großer Junge noch ein Schmusetier brauchte, hielt er ihn vor fremden Augen verborgen. Nur seine Eltern, der Bruder und sein Freund Arnaud wussten von seiner Existenz.

Der Hase war nicht bei allen wohl gelitten. Mendel lästerte gerne, es handele sich nicht um einen Feld- sondern um einen Stallhasen und sprach abfällig von einem Karnickel. Wegen Roro musste Joshua viel Spott und Häme ertragen. Für einen jüdischen Jungen war ein Hase als Kuscheltier insofern ungewöhnlich, weil Hasen bei den Israeliten als unreine Tier gelten und deshalb noch nicht einmal wert waren, in den Kochtopf zu wandern.

Die Mutter, die ihrem Sohn den Plüschhasen zu seinem dritten Geburtstag geschenkt hatte, hatte eine dunkle Ahnung, dass irgendwann irgendetwas Schlimmes passiert sein musste, um die beiden Spielkameraden so eng aneinander zu schweißen. Aber was es war, konnte sie nie herausfinden.

Tatsächlich war der Beginn ihrer unverbrüchlichen Freundschaft ein Ereignis gewesen, das Joshua traumatisiert hatte. Er zählte vielleicht vier oder fünf Jahre. Die Rozenbergs lebten damals noch im polnischen Lodz. Joshua glaubte sich zu erinnern, dass seine Eltern zu einer Hochzeit oder einem Familienfest eingeladen worden waren. Während sie seinen älteren Bruder mitnahmen, ließen sie ihn in die Obhut einer Bekannten zurück. Als die Eltern zur verabredeten Uhrzeit nicht zurückkamen und sich auch Stunden später noch nicht blicken ließen, hatte die Nachbarin ihn einfach vor die Tür des Elternhauses abgesetzt.

Als Joshua mutterseelenallein vor der verschlossen Türe seines Elternhauses hockte, hatte er den Eindruck, von allen verlassen zu sein. Er kam sich vor wie eine überflüssige Bestellung, wie ein Paket, das falsch zugestellt, nicht abgeholt und bei den Remittenden gelandet war. In ihm stieg ein dumpfes Gefühl von Verrat und Untreue auf, denn er hatte mitbekommen, dass seine Eltern Auswanderungspläne schmiedeten. Teile ihres Hausstandes hatten sie schon veräußert. Darum dachte er, dass das mit der Hochzeit nur ein Vorwand, ein Trick, eine Finte gewesen waren, um ihn loszuwerden.

Er war so verzweifelt, dass er noch nicht einmal fähig war zu weinen. Lediglich aufschluchzen konnte er hin und wieder. Er konnte es den Eltern nicht einmal verdenken, dass sie ihn abgeschrieben und alleine zurückgelassen hatten, denn selbst in seinen Augen war Mendel der bessere Sohn.

Wie es sich gehörte, trug Mendel als Stammhalter den Vornamen ihres Großvaters. Zeitlebens hatte Joshua ihn beneidet. Sein Bruder war klüger als er und, wie er meinte, auch hübscher. Mendel hatte von seiner Mutter eine helle Haut und glattes Haar geerbt, sodass er nirgendwo auffiel, während er selber eher nach dem Vater geraten war und sich wegen seiner dunklen Haut und seinem lockigen Haar schämte. Er glaubte, dass jeder, der ihn sah, sofort eine jüdische Herkunft erkennen müsse.

Joshua rechnete damals nicht damit, die Eltern und den Bruder jemals wiederzusehen. Er würde sich zukünftig alleine durchs Leben schlagen müssen. Besonders schmerzte ihn der Verlust der Mutter. Nur Roro war ihm geblieben. In der Stunde der Ungewissheit über ihr künftiges Schicksal hatten sie sich ewige Treue geschworen. Von diesem Tag an war der Hase für Joshua unersetzlich, denn er war bei ihm geblieben, als alle anderen ihn verließen.

Immer wenn Joshua an diese schlimme Erfahrung denken musste, spürte er in der Brust einen undefinierbaren Schmerz. Ansonsten hatte er kaum Erinnerungen an seine frühe Kindheit.

Aufbruch ins Gelobte Land

Im Spätsommer 1942 hatte Joshua Rozenberg zur Tarnung den unverfänglichen Namen Pierre Thonnar angenommen. Mit seinem richtigen Namen, der ihn als Juden auswies, hätte er den Krieg schwerlich überlebt. Vom ersten Augenblick an fand er, dass der neue Name ihm wie ein Handschuh saß. Er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass er ihn am liebsten für immer gegen seinen alten ausgetauscht hätte. Er gab ihm das Gefühl, ein Junge wie alle anderen zu sein.

Joshua hatte immer Merkmale und Auffälligkeiten gescheut, die ihn zum Außenseiter oder Sonderling hätten abstempeln können. Wenn die Familie an hohen Festtagen die Synagoge4 aufsuchte, setzte er die Kippa5 erst beim Betreten des Gotteshauses auf, weil er befürchtete, er könne unterwegs einem Klassenkameraden begegnen, der ihn als Juden identifizieren würde.

 

Joshua Rozenberg alias Pierre Thonnar wurde am 26. Dezember 1931 im polnischen Lodz als zweiter Sohn der Eheleute Ariel und Elsa Rozenberg geboren.

An seine frühe Kindheit in Polen erinnert er sich kaum noch. Vermutlich sind die meisten Erinnerungen und Bilder, die noch in seinem Kopf spuken, das Resultat der Erzählungen seiner Eltern. Manches hat er irgendwann aufgeschnappt und so sehr verinnerlicht, dass er glaubt, es selbst erlebt zu haben. Wenn Vater oder Mutter von ihrer polnischen Heimat erzählten, tauchten in seiner Vorstellung belebte Märkte mit fremdartigen Gestalten auf, die lange Bärte und Hüte aus Zobel trugen.

Lodz war die industrielle Herzkammer Polens. Die Stadt genoss den Ruf eines polnischen Manchester. Nach einer amtlichen Zählung waren mehr als ein Drittel der Einwohner, 230.000 von 670.000, Israeliten. Entsprechend augenfällig und vielfältig war das jüdische Leben: Es gab jüdische Zeitungen, jüdische Schulen, Theater und Sportvereine, Hospitäler und Waisenhäuser. Es gab an die 250 Synagogen.

Viele Juden kamen aus den umliegenden Dörfern, den sogenannten Schtetl6. Die Suche nach Arbeit und Brot hatte sie in die Stadt gelockt. Mit der Unabhängigkeit Polens strömten auch viele Juden aus Galizien und der Ukraine ins Land, von denen viele Analphabeten waren. Sie lebten in geschlossenen Vierteln: entweder in der Altstadt von Lodz oder in Ghettos wie Brzezinv, Stryków oder Zgierz. Dort prägten orientalisch anmutende Basare das Straßenbild. Die ärmsten Juden wohnten in Baluty, einem Slum, der weder über elektrischen Strom noch über eine Kanalisation verfügte.

Die Rozenbergs wohnten in Gorna, einem Viertel mit gemischter Bevölkerung: Neben Juden und Polen gab es dort noch viele Volksdeutsche, im Volksmund Schwob oder Szwaby genannt. Zu diesen zählte auch Joshuas Mutter Elsa, geborene Meyer. Sie war die Tochter eines jüdischen Tuchhändlers und einer deutschen Mutter, die ihrerseits von schlesischen Webern abstammte, die im 19. Jahrhundert eingewandert waren.

Eigentlich hieß sie mit Vornamen Ruth, aber ihre Eltern hatten sie von klein auf Elsa gerufen. Die Meyers waren eine weit verzweigte Familie, die die deutsche Kultur angenommen hatte. Elsa Rozenberg betrachtete sich zwar als Jüdin, war aber nicht sonderlich religiös, was nichts daran änderte, dass sie in allem dem entsprach, was man mit einer »jiddischen Mame« verbindet. Ihr gingen das Wohlergehen und das Glück ihrer Familie über alles.

Joshua liebte seine Mutter abgöttisch. Sie war ein richtiger Wonneproppen. Er erinnerte sich gerne daran, wie er als kleiner Junge bei Gewitter zu ihr ins Bett gekrochen war und sie ihn dann so fest an ihre gewaltigen Brüste drückte, dass er glaubte, ersticken zu müssen. Als er sie einmal fragte, wozu diese schwabbeligen Dinger eigentlich dienten, strich sie ihm sanft durch die Haare und sagte, dass der Allmächtige die Frauen Israels mit großen Busen ausgestattet habe, damit ihre Kinder ein Ruhekissen hätten, wenn das auserwählte Volk auf seiner langen Wanderung durch die Wüste eine Rast einlegte.

Ariel Rozenberg, Joshuas Vater, kam aus Ostpolen und stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er hatte lange um Elsa Meyer geworben. Obwohl sie von kräftiger Statur war, während er eher klein und schmächtig war, hatte sie ihn wegen seines Fleißes und seiner Redlichkeit zuerst schätzen, dann lieben gelernt. Wie es der Anstand verlangte, ließ sie ihre deutsche Herkunft und ihre höhere Bildung nie durchschimmern und ließ ihm in der Öffentlichkeit den Vortritt, obwohl er neben ihr eher wie ein erwachsener Sohn als wie ein Ehemann aussah. Dafür durfte sie in den eigenen vier Wänden nach Gutdünken schalten und walten. Unangefochten schwang sie daheim das Zepter, egal ob es die Form eines Kochlöffels oder eines Staubwedels hatte.

Nach der Neugründung Polens 1920 hatten viele Volksdeutsche das Land verlassen. Viele kultivierte Juden, die zum aufstrebenden Bürgertum gehörten, schlossen sich ihnen an und zogen nach Berlin, Breslau und in andere deutsche Großstädte.

Elsa Rozenberg legte großen Wert darauf, dass ihre Söhne eine deutsche Schule besuchten. Erst als diese wie viele andere im Lande auf Druck der polnischen Kulturbehörde schließen musste, wechselte ihr ältester Sohn Menahim auf eine polnische Schule. Das behagte ihm nicht, denn es kam häufig vor, dass er als »niemiecki Zyd«, als deutscher Jude, von seinen Klassenkameraden gehänselt wurde. Von den Lehrern fühlte er sich benachteiligt.

Die Erziehung der Söhne überließ Rozenberg seiner Frau. Diese bezeichnete ihre Sprösslinge als Beracha, als einen Segen des Allmächtigen. Der Vater griff in die Erziehung nur dann ein, wenn ihm etwas gegen den Strich ging – etwa bei dem Zinnober, das Joshua um seinen Stoffhasen veranstaltete.

Es missfiel ihm, dass der Junge ihn überall mitnahm, sich angeregt mit ihm unterhielt und ihn wie ein menschliches Wesen behandelte. Der Bursche ist nicht leicht zu handhaben, pflegte der Vater zu sagen, womit er das Plüschtier meinte. Er konnte es nicht lassen, sarkastische Bemerkungen über Joshuas ständigen Begleiter zu machen und allerlei Hasenwitze zu erzählen.

Einer handelte von einem Hasen, der in einer Apotheke nach Möhren fragt. »Nein, ich habe keine Möhren«, antwortet der Apotheker. Der Hase kommt tags darauf wieder und fragt: »Had du Möhren?« – »Nein, ich habe keine Möhren.« So geht es die ganze Woche, bis der Apotheker am Ende verzweifelt ein Schild an die Tür hängt: »Möhren ausverkauft!« Der Hase macht dem Mann daraufhin Vorhaltungen: »Ich wusste es, du bist ein schäbiger Lügner. Had du doch Möhren gehad!«

Joshua ließ sich von solchen Hänseleien nicht beeindrucken, aber Roro war jedes Mal beleidigt, weil er es nicht mochte, dass man ihn für blöd hielt. Joshua wunderte sich manchmal, wie eingenommen Roro von sich selbst war. Der Hase ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er etwas Besonderes sei. Angeblich stammte er in direkter Linie von Meister Lampe, dem Stammvater aller Hasen, ab. Er legte Wert darauf, dass Joshua seine einzelnen Körperteile korrekt benannte. Ein Feldhase, belehrte er ihn, habe keine Ohren, sondern Löffel, keine Beine, sondern Sprünge. Statt eines Fells habe er einen Balg, statt Augen Seher. Besonders stolz war er auf seine Hasenscharte, die seine Oberlippe in zwei gleiche Hälften teilte.

Vater Rozenberg unternahm mehrere Anläufe, um seinen Sohn bezüglich des Hasen zur Räson zu bringen. Als das nichts fruchtete, beschlossen die Eltern, ihn für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr zu ziehen.

Tatsächlich war Roro eines Tages spurlos verschwunden. Die Mutter erzählte, der Hase habe beschlossen, sein eigenes Leben zu führen und sei ausgewandert. Doch Joshua durchschaute das Manöver, durchsuchte das ganze Haus und nörgelte so lange, bis die Mutter schließlich nachgab und den Hasen wieder herausrückte. Nach diesem Vorfall fanden die Eltern sich damit ab, dass ihr jüngster Sohn ein problematisches Verhältnis zu einem blauen Stoffhasen hatte.

Von den dreieinhalb Millionen Juden in Polen sprachen die allermeisten Jiddisch, was in polnischen Ohren verdächtig deutsch klang. Nach dem Tod des Staatsgründers Józef Piłsudski, der sich um ein gutes Verhältnis zwischen den verschiedenen Volksgruppen bemüht hatte, kam es zu antisemitischen Übergriffen. Die Israeliten wurden mehr und mehr aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben gedrängt, ihren karitativen und kulturellen Einrichtungen wurde jegliche Unterstützung entzogen.

Für Mendel bedeutete das, dass er aus dem Schachclub Rochade, die ihre wöchentlichen Wettkämpfe in der städtischen Bibliothek austrug, verwiesen wurde. Ab 1935 waren höhere Ränge in der Armee und Karrieren im Staatsdienst den Juden verwehrt. An den Universitäten wurde ein Numerus clausus verhängt.

Joshuas Vater betrieb in Gorna, wo es neben säkularen viele strenggläubige Juden gab, eine koschere7 Metzgerei, die »Kol Tiv – Das Beste für Sie« hieß. Rozenberg war Schächter8 und Metzger in einer Person. Das rituelle Schächten hatte er bei einem Onkel erlernt. Um ein von der Religionsbehörde anerkannter Schochet9 zu werden, bedurfte es einer speziellen Ausbildung. Die Vorschriften für die Ausübung des Berufes verlangten, dass man sich in den Geboten Mose genauso gut auskannte wie im Umgang mit den Schlachttieren. Zur Geschäftsgründung hatte die Mutter dem Vater zwei handgeschnitzte Schächtmesser geschenkt. Die Griffe waren mit Rinderköpfen sowie Gänsen und Truthähnen verziert.

Bei der Geschäftsgründung hatte Rozenberg sich hoch verschuldet. Da er als Jude von der polnischen Genossenschaftsbank keinen Kredit bekommen hatte, hatte er sich das nötige Kapital bei einem jüdischen Wucherer geliehen. Anfangs verlief alles zu seiner Zufriedenheit, aber nach 1935 verschlechterte sich seine wirtschaftliche Situation, weil viele Kunden auswanderten.

Der traditionelle Antisemitismus schlug hohe Wellen. Immer wieder geschah es, dass Juden auf offener Straße angepöbelt, einige sogar umgebracht wurden, ohne dass die Behörden eingriffen. Als es in Lodz zu Plünderungen jüdischer Geschäfte kam, dachte Rozenberg darüber nach, Polen zu verlassen.

Die Idee nahm mit der Zeit immer konkretere Formen an. Von der allgemeinen Verunsicherung der Juden profitierten vor allem die Zionisten, die kräftig Werbung für eine Auswanderung nach Palästina machten, um Eretz Israel10 wieder aufzubauen. Rozenberg hielt das alles für ein Hirngespinst. Er verspürte keine Lust, »Ananas in der Wüste zu züchten«, wie er es formulierte. Er träumte von einer neuen Existenz in einem zivilisierten Land.

Rasch geriet Belgien in seinen Fokus, weil er dorthin familiäre Beziehungen unterhielt. Vor dem Krieg hatte eine Kusine einen Kantor11 in Lüttich, Nathan Goldstein, geehelicht, einen Mann, den sie nie gesehen hatte, sondern nur von Fotografien her kannte. Das war durchaus üblich. Solche Ehen wurden von Heiratsvermittlern, sogenannten Schadchen, arrangiert. Goldstein war früh verwitwet, und da es sich für einen frommen Juden im besten Mannesalter nicht schickte, lange ledig zu sein, beschloss er, sich in seiner polnischen Verwandtschaft nach einer neuen Ehefrau und einer Ersatzmutter für seine vier unmündigen Kinder umzusehen. Er beauftragte Ariel Rozenberg per Brief mit der Brautschau.

Nach einigem Suchen zeigte sich eine andere Kusine, ein älteres Fräulein um die dreißig, die in einer Spinnerei arbeitete, an einer Ehe mit dem Witwer interessiert. Nach einem kurzen Briefwechsel schlossen sie die Ketubba, den in Aramäisch verfassten Ehevertrag ab.

Mit guten Wünschen versehen trat Hanna Nejmann 1934 die Reise in ein Land an, das der künftige Ehemann als Gelobtes Land beschrieben hatte. Die Ehe schien unter einem guten Stern zu stehen, denn sie war bald mit einem Kind gesegnet. Nach der Geburt eines Sohnes, der den Vornamen Benjamin erhielt, ließ Goldstein seine polnischen Verwandten wissen, er glaube, dass er damit dem göttlichen Gebot, Nachkommen in die Welt zu setzen, um den Fortbestand Israels zu sichern, Genüge getan habe.

In Rozenbergs Auswanderungsplänen nahm der ferne Cousin einen zentralen Platz ein. Er hegte die Hoffnung, dass Goldstein sich wegen seiner Verdienste bei der Ehestiftung revanchieren und ihm bei einer Übersiedlung behilflich sein werde. Er wurde nicht enttäuscht. Nathan Goldstein versprach, ihn nach Kräften zu unterstützen.

Damals wanderten viele Polen nach Belgien aus. Sie ließen sich von staatlichen und privaten Agenturen als Arbeitskräfte für das wallonische Kohle- und Stahlrevier anwerben. Die belgische Schwerindustrie erholte sich nur langsam von den Verlusten und Verwüstungen, die der Weltkrieg angerichtet hatte: Für die Arbeit in den Bergwerken und an den Hochöfen wurden vorzugsweise Italiener und Polen eingestellt, weil die im Ruf standen, genügsame, tüchtige und disziplinierte Arbeiter zu sein. Mitte der 30er Jahre lebten im wallonischen Stahlbecken 60.000 Polen. Den Behörden war es gleichgültig, welcher Konfession und Nationalität die Einwanderer waren, solange sie nur gesund und fleißig waren.

Insofern war Rozenberg guten Mutes, als er im belgischen Konsulat von Krakau vorsprach und einen Antrag auf Einwanderung stellte. Als er im Gespräch freimütig erklärte, er beabsichtige, nicht in einem Bergwerk oder an einem Hochofen zu arbeiten, sondern ein Geschäft zu eröffnen, erfuhr er eine rüde Abfuhr.

War der Ton bis dahin freundlich gewesen, wurde er mit einem Mal schroff und ablehnend. Man sei nicht gewillt, jüdische Hausierer und Hungerleider ins Land zu lassen. Alle diplo­matischen Vertretungen im Ausland seien angewiesen, ein Einreisevisum nur solchen Kandidaten zu erteilen, die schon einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen der Schwerindustrie vorweisen konnten.

 

Als Rozenberg seinem Cousin von seinem Missgeschick berichtete, ermunterte der ihn, mit seinen Bemühungen fortzufahren und sich nicht entmutigen zu lassen. Es gebe andere, verschwiegene Wege, um nach Belgien zu gelangen. Er habe von gut organisierten Schleusernetzen gehört, die Juden bei der Einreise behilflich seien. Der Kantor versprach, sich bei polnischen Juden umzuhören, die es nach Belgien geschafft hatten, um zu erfahren, wie sie vorgegangen waren. Von ihnen erfuhr er, dass sie die Hilfe deutscher Glaubensbrüder erfahren hatten, die unmittelbar an der Grenze zu Belgien lebten.

Der Kantor lieferte erstaunliche Details über die »Eifeljuden«. Eine Ortschaft namens Hellenthal diente angeblich als Drehscheibe im organisierten Menschenhandel. Dort, schrieb Goldstein seinem Vetter, gebe es einen Viehhändler namens Karl Haas, der schon viele Juden nach Belgien geschleust habe.

Um sich ein genaues Bild über die Eifel und die Situation an der Grenze zu machen, suchte Rozenberg die Bibliothek der Großen Synagoge auf und stöberte in Handbüchern und Atlanten. Eines Tages fand er in einer älteren Ausgabe des »Jiddischen Wortes« einen Beitrag über die ominösen Eifeljuden. Demnach hatten sie sich nach der Bartholomäusnacht im Jahre 1346, als die jüdische Diaspora im Rheinland ausgelöscht wurde, in die Eifel und an die Mosel geflüchtet. Obwohl sie auch dort Verboten unterworfen waren, passten sie sich gut ihrer neuen Umgebung an. Viele wurden wohlhabende Bürger und besaßen Grundbesitz. Als die Eifel 1815 an Preußen fiel, wurden alle Beschränkungen, die ihnen bis dahin noch auferlegt waren, aufgehoben.

Seitdem sie die Bürgerrechte besaßen, gingen sie normalen Berufen nach und genossen besonders als Makler und Händler hohes Ansehen bei ihren christlichen Nachbarn. Auffallend war, dass es unter ihnen viele Metzger und Viehhändler gab.

In dem Heft gab es eine Landkarte mit dem Verzeichnis jüdischer Gemeinden in der Eifel: Münstereifel, Wittlich, Gemünd, Schleiden und Hellenthal waren die wichtigsten. Aber selbst in winzigen Ortschaften wie Kyll oder Blumenthal gab es Synagogen. Erfreut unterrichtete Rozenberg seinen Vetter, dass er nun wisse, welchen Weg er nach Belgien nehmen müsse.

Mendel und Joshua blieben die Pläne, die die Eltern schmiedeten, nicht lange verborgen, denn ihr Vater verbrachte von nun an die Abende damit, Landkarten zu studieren und sich eifrig Notizen zu machen. In der freudigen Erregung, Schlupflöcher an der deutsch-belgischen Grenze gefunden zu haben, übersah Rozenberg, dass die rosigen Zustände, die in der Zeitschrift beschrieben wurden, älteren Datums waren. Das »Jiddische Wort« wusste noch nichts von den Repressionen, denen die Eifeljuden seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ausgesetzt waren. Inzwischen gab es die Nürnberger Gesetze, die darauf abzielten, allen Juden die existenzielle Grundlage zu entziehen und das Zusammenleben zwischen Juden und Ariern unmöglich zu machen.

Um die Jahreswende 1935–1936 traf Rozenberg Vorbereitungen für die Ausreise. Da er ein rechtschaffener Mann war, der sich nicht wie ein Dieb in der Nacht davonstehlen wollte, plante er eine geordnete Übergabe seines Geschäftes. Der Erlös aus dem Verkauf der Schlachterei reichte gerade aus, um die Restschulden bei dem Wucherer zu begleichen. Da er keinerlei finanzielle Reserven besaß, wusste er nicht, wo er die Mittel für eine Existenzgründung in Belgien finden sollte. So sehr er auch rechnete, es langte vorn und hinten nicht.

Da er mit seinem Schicksal haderte, schlug ihm seine Frau vor, ihre Verwandtschaft in Deutschland zu kontaktieren. Einer ihrer ausgewanderten Verwandten hatte in der Freien Hansestadt Bremen mit dem Handel von Kaffee ein Vermögen gemacht. Sie schlug vor, sich mit ihrem Halbvetter Siegmund Meyer in Verbindung zu setzen, in der Hoffnung, dass er ihnen finanziell unter die Arme greifen werde.

In Erwartung einer Antwort schwankte die Stimmung im Hause Rozenberg für einige Wochen zwischen Hoffnung und Entmutigung. Groß war die Erleichterung, als der Bremer Kaffeebaron wohlwollend auf die Anfrage der polnischen Kusine reagierte. Er lud sie ein, auf der Durchreise nach Belgien mit der Familie in Bremen Station zu machen. Dort würde man in aller Ruhe die Angelegenheit bereden und das Finanzielle regeln.

Im Frühsommer des Jahres 1936 war es soweit. Da die Reichsregierung im Rahmen ihrer Bemühungen um eine Revision des Versailler Vertrages gerade einen Schmusekurs mit dem polnischen Nachbarn fuhr, stellte sie problemlos Touristenvisa für die Dauer der Olympischen Spiele aus. Als im Hause bereits riesige Unordnung herrschte, weihten die Eltern ihren ältesten Sohn in ihre Reisepläne ein, während sie den jüngeren weiterhin im Ungewissen ließen, um das Projekt nicht zu gefährden.

Mendel wollte von den Eltern wissen, warum die Reise ausgerechnet über Deutschland erfolgen sollte. Die polnischen Klassenkameraden würden so schlecht über die Deutschen reden. Der Vater antwortete, das sei der direkte Weg, um nach Belgien zu gelangen. Außerdem redeten nicht nur die Deutschen, sondern auch die Polen schlecht über die Juden. Insofern solle er sich keine Sorgen machen. Es gebe überall gute und böse Menschen. Rozenberg hatte eine positive Sicht der Welt, und die wollte er sich nicht vermiesen lassen.

* * *

Am Hauptbahnhof gab es einen tränenreichen Abschied. Alle Freunde und Verwandten hatten sich auf dem Bahnsteig eingefunden. Sogar der Rabbi war gekommen, um ihnen seine Beracha, seinen Segen, für die Reise mitzugeben. Elsa Rozenberg fiel der Abschied von ihren Geschwistern und besonders von der hoch betagten Mutter schwer. Es war, als ahne sie, dass sie sie in diesem Leben nicht wiedersehen würde.

Bis auf zwei Koffer mit persönlichen Sachen ließen die Rozenbergs alles andere in Polen zurück. Alles sollte so aussehen, als ginge es auf eine Urlaubs- und Vergnügungsreise. Die Einrichtung seiner Metzgerei hatte der Vater unter der Hand verkauft. Möbel und sonstige Geräte und Wertsachen waren in der Verwandtschaft verteilt worden. Von ihrem Hausstand durfte die Mutter nur einige Familienfotos mitnehmen. Die beiden Brüder mussten sich mit einem Spielzeug und einem Buch ihrer Wahl begnügen. Nachdem er sich mit Roro beraten hatte, entschied Joshua sich für ein Bilderbuch mit Burgen und Rittern, während Mendel seinem pragmatischen Temperament entsprechend ein Handbuch für Modelleisenbahnen auswählte.

Der Vater bestand darauf, die Trompete mitzunehmen, die er sich vom Munde abgespart hatte. Seine beiden Schächtmesser, die unentbehrlichen Werkzeuge seines frommen Gewerbes, hatte die Mutter ins Futter eines der beiden Koffer eingenäht, um Schwierigkeiten am Zoll zu vermeiden.

Von Lodz aus ging es über Posen nach Frankfurt an der Oder und von dort weiter nach Berlin. Die Passkontrolle an der deutsch-polnischen Grenze bei Neu Bentschen erfolgte reibungslos. Die Schaffner waren höflich und zuvorkommend. Der Vater musste allerdings seinen gepolsterten Trompetenkasten öffnen, weil der Beamte sichergehen wollte, dass es sich wirklich um einen Behälter für ein Instrument handelte und nicht um ein Versteck für illegale Waren.

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