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6.
Renates Anfall
Denn am nächsten Morgen, die Sonne schien friedlich in das Zimmer, in dem wir zu dritt geschlafen hatten, schrie uns etwas aus dem Schlaf: «Ich ersticke! Ich ersticke!» Renate. Sie war außer sich. Sie tobte. Sie war in Panik – und schrie, wie ich sie zuvor nie schreien gehört hatte. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib, als sei der Teufel im Begriff, mit ihr wer weiß was zu tun, und sie müsste nicht nur ihren Körper retten, sondern auch noch ihre Seele, nur wüsste sie nicht, in welcher Reihenfolge, bevor er sie würgte, mit Haut und Haar verschlänge, Besitz von ihr nähme und sie zu seinem willfährigen Instrument machte. Sie sprang im Zimmer umher, sprang aufs Bett und vom Bett herunter, rüttelte an der Türklinke, pochte mit den Fäusten gegen die Tür. Vergebens. Sie konnte die Tür nicht öffnen. «Ich ersticke! Ich ersticke!» Dieses Eingesperrtsein, dieses Nicht-fliehen-Können machte sie rasend. Immer und immer wieder sprang sie gegen den Schrank und warf sich gegen die Wände, als könne sie durch sie hindurchspringen wie Armin Dahl im Fernsehen durch eine Glasscheibe, und schrie dabei: «Ich ersticke! Ich ersticke!» Sie schien den Verstand zu verlieren, wenn sie ihn nicht schon verloren hatte, gepeitscht vom Affentanz des Irreseins.
Monika und ich waren hilflos. Wir konnten nichts tun. Hätten wir versucht, sie anzufassen, um sie zu beruhigen, sie hätte uns mit einem Streich zerklatscht wie Fliegen. Noch nie hatte ich einen derartigen Vulkanausbruch eines Körpers erlebt, noch nie eine derartige, von besinnungsloser Angst gepeitschte Panik; es war, als blickte sie dem Tod ins Auge. Meine Schwester war ein Dynamitbündel im Augenblick der Explosion.
Der Anfall dauert bereits einige Minuten, als mein Vater gegen die Tür klopft und brüllt: «Was ist da los?! Verdammt noch mal! Was ist da los?!» Und meine Schwester brüllt zurück: «Ich ersticke! Ich ersticke!» – «Dann macht doch das Fenster auf! Monika, Dieter, seid ihr da?» – «Ja, wir sind hier!», schreit Monika, und ich: «Sie ist verrückt geworden! Vati, hilf uns, hol uns hier raus!» – «Ich ersticke, ich ersticke!» – «Macht verdammt noch mal das Fenster auf!» Monika stürzt zum Fenster, reißt es auf, und meine Schwester, als würde sie sich gleich aus dem Fenster stürzen, brüllt auf die Straße: «Ich ersticke, ich ersticke!» Monika schreit die Tür an, hinter der mein Vater steht und die er mit seinem Körper aufzudrücken versucht, und sie brüllt: «Das Fenster ist auf, das Fenster ist auf, Renate stürzt sich gleich auf die Straße! Hilfe, Hilfe!» – «Dann haltet sie fest, haltet sie fest, damit sie sich nichts antut!», brüllt er zurück, und mich brüllt er an: «Dieter, mach die Tür auf, los, macht die Tür auf!» Derweil hat Monika versucht, Renate vom Fenster wegzuzerren, doch die schleudert sie von sich, gegen mich, der vor der Tür steht, ich falle zu Boden und brülle: «Der Schlüssel ist weg, es gibt keinen Schlüssel» – «Dann such ihn gefälligst und schließ verdammt noch mal diese Scheißtür auf!» Inzwischen muss meine Mutter auf dem Flur erschienen sein, denn auch sie beginnt zu schreien: «Renate, was ist los? Hörst du mich? Antworte! Renate, Renate!» Doch Renate steht schon wieder vor dem geöffneten Fenster und brüllt, dass es die gesamte Nachbarschaft hören muss: «Hilfe, ich ersticke! Hilfe, ich ersticke!»
Auf der Straße haben sich an diesem sonnigen und an sich beschaulichen Sonntagmorgen bereits einige Leute versammelt. Ratlos schauen sie nach oben zum Fenster: «Was ist da los?» – «Nicht springen, nicht springen!» – «Ich ersticke, ich ersticke!» Meine Mutter: «Du erstickst nicht, Renate, du erstickst nicht! Beruhige dich!» In diesem Chaos denke ich, dass uns nur der Schlüssel retten kann, und beginne ihn zu suchen. Doch ich finde ihn nicht, und meine Schwester tobt und brüllt weiterhin. Plötzlich! – Was ist das? Ein ungeheurer Schlag kracht gegen die Tür und – Ruhe. Ruhe.
Renate, Monika und ich starren auf die Tür. Was war das? Es folgt ein weiterer Schlag. Und ein nächster und noch einer und noch einer. Doch die Tür öffnet sich nicht. Das Schloss hält. Das Türblatt muss mit dem Rahmen untrennbar verschweißt sein. Wieder ein Schlag. Jetzt bekommen auch Monika und ich es mit der Angst zu tun. Wir beginnen zu schreien: «Hilfe, Hilfe!», und weil auch wir plötzlich keine Luft mehr bekommen, schreien auch wir: «Wir ersticken, wir kriegen keine Luft mehr! Hilfe! Wir ersticken!», und je lauter und verzweifelter unsere Schreie, umso wütender und kraftvoller die Schläge, mit denen mein Vater die Tür zu öffnen versucht. Doch plötzlich änderte er seine Strategie. Er drosch nicht weiter auf das Schloss ein, sondern seine Attacke galt dem Türblatt selber, und nach zwei, drei weiteren Hieben hatte, unglaublich, der Axtkopf die Tür durchschlagen, blieb eingequetscht im Holz stecken und schaute uns an: Was hatte die Axt vor? Es schien, als suchte sie, als müsste sie herausfinden, hätte sie die Tür erst zertrümmert, wem zuerst, wem danach und wem zuletzt sie den Schädel spalten würde. Mir, Renate, Monika?
Dann nickte die Axt dreimal mit dem Kopf, offenbar hatte sie sich entschieden. Sie wurde aus dem Schlitz, in dem sie steckte, herausgezogen und donnerte mit unglaublicher Wut erneut auf das Holz nieder. Wir schrien. Mit aller Kraft, zu der unsere Stimmen und Körper fähig waren. Jetzt hatten wir alle drei Angst, nicht mehr nur meine Schwester. Doch Angst ist das falsche Wort. Denn Angst hat man vor etwas, das erst noch kommt und nicht schon da ist. Doch das, was wir hatten, war da. Es war in uns. Auch wenn wir es nicht kannten. Es hatte von uns Besitz ergriffen, und wir waren ihm, was immer es war, ausgeliefert. Noch schlimmer: Unser Zustand fütterte das Ungeheuer, vor dem wir uns derart fürchteten, peitschte die Ausgeburt unserer Angst, katapultierte uns in atemlosen Taumel, dass wir herbeisehnten, wovor wir uns fürchteten, damit es endlich verrichte, wovon wir nicht wollten, dass es geschehe, und wovon wir doch wollten, dass es besser sofort geschehe als später: unsere Vernichtung. Der Zustand der uns zerreißenden Kräfte hatte einen Namen. Panik. Besinnungslose, pure Panik.
Schließlich stand er da, unser Vater, die Axt in den Händen, eingerahmt von zersplittertem Holz, in dem Loch, das er selber aus der Tür herausgedroschen hatte. Unser Vater hatte einen Teil des Wohlstands, den er und meine Mutter unter Mühen und mit kontinuierlichem Fleiß aufgebaut hatten, zertrümmert. Sein Blick war nicht weniger wahnsinnig als der meiner Schwester und der von Monika und mir. Er verhieß nichts Gutes. Die zertrümmerte Tür war erst der Anfang einer unbändigen Zerstörungswut. Seiner. Gleich würde er uns in seiner Rage erschlagen und danach das ganze Haus dem Erdboden gleichmachen. Die Axt fest wie eine Waffe vor seiner Brust in den Händen haltend, brüllte er uns an: «Seid ihr verrückt geworden? Seid ihr völlig verrückt geworden?» Ich dachte, unser Vater sei verrückt geworden, wie er dort vor uns stand. In seiner Brutalität und Unberechenbarkeit; ein Vulkan kurz vor dem erneuten Ausbruch, noch zerstörerischer als der erste. So muss er ausgesehen haben im Krieg, von dem er aber nie anders berichten konnte als mit anekdotenhafter Leichtigkeit und einer Gemütlichkeit in der Stimme des noch einmal Davongekommenen.
Meine Mutter hat sich durch die zersplitterte Tür gezwängt und umarmt Renate. Und Renate umarmt sie, fest. Und beginnt zu weinen. Und Mutter und Tochter, sich in den Armen liegend, weinen. Mein Vater, noch immer die Axt in den Händen, tritt ans Fenster und schaut zu den Leuten, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt haben und nicht wissen, ob sie soeben Zeugen eines abscheulichen Familiendramas geworden sind: «Alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung. Ich weiß auch nicht, was da passiert ist! Die Kinder hatten sich eingeschlossen und plötzlich keine Luft mehr gekriegt.» Und dann, die Axt zum Beweis aus dem Fenster haltend: «Da musste ich die Tür einschlagen.»
Meine Schwester. Sie fürchtete sich schon immer vor Vögeln und deren Geflatter. Nie hat sie ein Zimmer betreten, in dem auch nur ein Kanarienvogel frei herumflog. Außer, sie wusste es nicht. Hatte sie ihn entdeckt, schrie sie sofort hysterisch und flüchtete aus dem Zimmer. Meine Mutter fürchtete sich vor Schlangen. Und weil ich meine Mutter liebe, fürchtete auch ich mich vor Schlangen. Und fürchte mich noch immer. Ich mag sie einfach nicht. Ehe man es sich versieht, wird man hinterhältig gebissen und stirbt elendig. Am Gift. Oder ein Python fällt vom Baum, umschlingt deinen Körper und erwürgt dich.
Meine Schwester, was sie wohl gepackt hatte in ihrer Not? Als sie schrie, sie bekomme keine Luft und müsse ersticken – während sie, die sich vor flatternden Vögeln fürchtete, selber wie ein flatternder Vogel durch ihr Mädchenzimmer flatterte? War es die Hitze, die Mädchen anfällt und sie zu Frauen macht und sie später – so wie meine Mutter sagte, sie habe die fliegende Hitze, von der ich dachte, sie müsse fliehende Hitze heißen – wieder verlässt und sie in einen Zustand versetzt, gegen den der Arzt Tabletten verschreibt, die Brustkrebs verursachen, an dem die Frauen später sterben – so wie meine Mutter? Wollte Renate das Zimmer ihrer Kindheit verlassen, während sie gleichzeitig Angst hatte, es zu verlassen? Ist das bei Frauen so? In diese Richtung gingen meine Fragen, ohne dass ich sie mir so hätte stellen können, damals.
An diesem Sonntagmorgen gab es bei uns wie üblich zum Frühstück zwei Stück Torte für jeden und anschließend gebratene Eier mit Mettwurst und Kümmel, denn unser Vater behielt lieber den salzigen als den süßen Geschmack im Mund.
7.
Die Tage (Those were the days, my friend)
Die Vorstellung, dass mein Vater mit der Axt die Tür einschlagen musste, weil er sich anders keinen Zutritt in die vom nächtlichen Aus-dem-Fenster-Gucken überhitzte Welt des Kinderzimmers verschaffen konnte, gefällt mir noch heute: der Kampf der Axt gegen die aufschäumenden weiblichen Hormone und ihre Gespinste.
Unsere Gesellen wussten immer, wann «unsere Frauen» und später auch Renate, die eine Lehre zur Fleischfachverkäuferin in der elterlichen Metzgerei begonnen hatte, ihre Tage hatten. Ich wusste nicht, was es heißt, die Tage zu haben. Männer hatten nie ihre Tage. Oder sie hatten sie immer. Sie waren gut gelaunt, schlecht gelaunt, verkatert, je nachdem. Es musste sich also um eine spezifisch weibliche Angelegenheit handeln, die ich nicht verstand. Genauso wenig konnte ich mir einen Reim machen auf einen Spruch, dem ich im von mir geliebten Werbefernsehen begegnet bin und der ein großes Geheimnis barg, das weder ich noch mein Freund Paul, der im selben Haus wohnte wie wir und dessen Eltern anscheinend das Geld für einen eigenen Fernseher fehlte, enträtseln konnten:
«Camelia plus – gibt allen Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen.»
Was ist das, und was hat es zu bedeuten? Hatte es mit Kamillentee zu tun, und wenn es heißt: «plus», mit einem besonders starken? Oder Kamillentee mit einem Zusatz? Aber mit welchem? Mit Traubenzucker? Und wieso sollten nur Frauen davon profitieren? Kamillentee tranken wir doch alle sehr oft abends. Und wenn ich ein Gerstenkorn am Auge hatte, was häufig der Fall war, und es nicht geholfen hatte, durch das Astloch eines Holzstückes zu schauen, dann musste ich mein entzündetes Augenlid mit Kamillentee spülen. Wieso sollte also Camelia plus ausschließlich bei Frauen Anwendung finden und nur ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen geben? Auch enthielt die Werbung keinen versteckten Hinweis auf des Rätsels Lösung, den Paul und ich übersehen hatten, denn der wäre unseren forschenden Blicken irgendwann aufgefallen. Also blieben wir allein mit den zufriedenen Gesichtern der Frauen im Schwarz-Weiß-Fernsehen der frühen 60er Jahre.
Es musste aber etwas mit dem Schaum in dem Wasserbecken zu tun haben, in dem die Fleischwürste schwammen, damit sie frisch blieben und nicht austrockneten. Denn jedes Mal, wenn sich unbeabsichtigt Schaum auf der Wasseroberfläche bildete, sagten die Gesellen, eine der Verkäuferinnen, die ja ins Wasser greifen mussten, um die Fleischwurstringe zu fassen und herauszuholen, habe ihre Tage. Dieser Schaum im Wasserbecken der Fleischwürste, ob mit oder ohne Knoblauch, schien auch der Geheimpfad zu sein zu einem weiteren ominösen Wort: Die Binde. Bindfäden, auch Wurst- oder Metzgergarn genannt, gab es viele in der Fleischerei, rote, grüne, blau-weiße, naturfarbene und bunt gekringelte. Sie wurden benutzt zum Aufhängen der Ware und zur Markierung unterschiedlicher Zubereitung, also ob zum Beispiel die Fleischwust, der man es ja nicht ansehen konnte, mit oder ohne Knoblauch hergestellt war. Aber die Binde? Die Binde war ein Geheimnis, das ein Junge meines Alters sich nicht erklären konnte. Er – ich – konnte nur darüber spekulieren, und irgendwie landeten die Spekulationen immer wieder in der Hecke hinter unserem Bolzplatz, in der Hecke der irgendwie verschmierten Geheimnisse.
Wir spielten viel Fußball. Zu viert, zu fünft, zu sechst, zu siebt, meist auf ein einziges Tor. Dieses wurde mit zwei Steinen markiert und gab wegen der zu imaginierenden Pfosten und Latte oft Anlass zu Streit. Die Anerkennung eines Tores wurde mal pingelig, etwa bei einer verwandelten Ecke, einem Lupfer, einem Kopfball oder einem Eumeltor, mal großzügig ausgelegt, etwa bei einem Fallrückzieher.
Die unumstrittene Königsklasse eines Tores war der verwandelte Hammerschuss: Der Spieler bombte den anfliegenden Ball direkt, also ohne ihn zu stoppen und ihn maßgerecht für den Schuss zurechtzulegen, mit dem Spann ins Tor oder ließ ihn kurz auf dem Boden aufsetzen, um ihn im Augenblick des Hochspringens mit voller Wucht, ebenfalls mit dem Spann, in den Kasten zu donnern. Dass man die Feinde – in Gestalt der gegnerischen Spieler – und den Gralshüter des Reiches, in das nie, nie der Ball des Feindes eindringen darf – den Torwart –, solchermaßen bezwungen, ja, gedemütigt hatte, brachte Anerkennung und entlockte dem Torschützen fast immer ein befreites Brüllen: «Tor, Tor, Tor!!!» und ein irgendwie in Ziel und Richtung sinnloses, ja besinnungsloses Über-den-Platz-hin-und-her-Rasen, als wäre unser kleiner Schmuddelbolzplatz die ausverkaufte Schalker Glückauf-Kampfbahn mit vor Begeisterung brüllenden Fans.
Doch damit war der Siegestaumel noch nicht beendet, denn jetzt begann ein anderes Spiel: Oft steckte ein solchermaßen gebombter Schuss in der Hecke fest, die ein paar Meter hinter dem Tor den Bolzplatz begrenzte und hinter der ein schmaler Durchgang verlief, jenseits dessen wiederum mit unterschiedlichen Zäunen abgegrenzte Gärten lagen. Dieser Durchgang wurde außer von uns nur selten benutzt – außer, das wussten wir, nach Einbruch der Dunkelheit von Liebespaaren. Was genau sich dort ereignete, davon hatten wir nur eine vage Vorstellung, denn mit Einbruch der Dunkelheit mussten wir zu Hause sein.
Und hier schließt sich der Kreis. Denn der Schütze des Hammertores ließ es sich nicht nehmen, den von ihm selber fest in die Hecke hineingebombten Ball persönlich aus dem Heckengestrüpp herauszuziehen und ihn, die Trophäe seines fußballerischen Könnens, den Mitspielern und Gegnern zu präsentieren, als wäre er der Glücksbringer seines Lebens. Doch bevor er den Ball aus der Hecke befreien konnte, musste er einen Umweg machen, denn die Hecke hatte nur an einer Stelle einen tunnelartigen Durchlass. Und hier begegnete der Torschütze den Relikten der gestrigen Liebesnacht. Oder der vorausgehenden Nächte. Immer, besonders in den wärmeren Jahreszeiten, war die Hecke geschmückt wie zu einem Fest. Nur eben nicht mit bunten Girlanden und Luftballons, sondern mit den inzwischen trüb verklebten Gummischläuchen der Pariser aus Walter Diercks Automat und dem, was die etwas Größeren unter uns die Binde nannten: einem länglichen und einige Zentimeter breiten, gepolsterten Mullbindestreifen an beiden Enden mit Strippen, die aussahen, als könne man sie wie bei einem Verband verschnüren. Diese wattierten Streifen waren unterschiedlich rot gefärbt, mal bräunlich rot, wenn von der Sonne beschienen, mal blass rot, wenn vom Regen verwaschen. Obwohl sie aussahen, als würden sie zum Stillen von Wunden benutzt, besaßen sie aufgrund ihres Vorkommens in der Hecke ein derart abgründiges Geheimnis, dass ich die Eltern nicht nach Herkunft und Zweck zu befragen wagte und dass meine Schwester, von mir darauf angesprochen, irgendetwas daherfaselte, wovon ich mir nicht vorstellen konnte, dass derart Ekliges in jungen Mädchen und Frauen monatlich heranwachsen könne. Klar war nur: Die Binde musste mit den Tagen zu tun haben, die trotz der Kälte im Kühlhaus schäumende Bläschen aus dem Wurstwasser aufsteigen ließen, als befänden sich die Fleischwürste im Zustand der Gärung, und von deren Kunstdarm die Schmiere abgewischt werden musste, bevor sie im Laden verkauft werden konnten.
So wurde die durch den Triumph des Hammertores bedingte Spielpause als Abschluss eines sportlichen Spielzugs auf dem Feld getrübt durch die Befreiung des Balls aus der durchlöcherten und behängten Hecke. Aber der Gang – nicht durch die Tribüne aufs Spielfeld, sondern durch die Hecke zum feststeckenden Ball – mit der Dekoration aus benutzten und schlaff herumhängenden Liebesutensilien, eröffnete den Blick auf ganz andere Spielzüge – Spielzüge, wie Connie Francis sie mit folgendem Refrain besungen hat: «Die Liebe ist ein seltsames Spiel / Sie kommt und geht von einem zum andern / Sie nimmt uns alles, doch sie gibt auch viel zu viel / die Liebe ist ein seltsames Spiel.»
Noch heute blüht diese Hecke in mir auf – bei besonders tollen und spielentscheidenden Fußballtoren.
Die Pariser, die Tage, die Binde, die Bläschen und der Anfall meiner Schwester, all dies hätte mir damals, als ich im Wursthimmel hing, nicht das Geringste gesagt. Doch es war, als hätte ich geahnt, dass das Leben für einen kleinen Jungen wie mich und für das, was aus ihm werden sollte, noch etwas bereithielte, für das es sich lohnte, den Kampf gegen den drohenden Absturz aus dem Himmel zu gewinnen. Je länger ich hing, desto länger wurden meine Arme, und es stand zu befürchten, dass die Gelenke wie auf einer Streckbank – so etwas gibt es in den Folterkammern von Burgen – auskugelten und die Haut riss, ich abstürzte und meine Hände und Oberarme, mittlerweile zu einer Art Leichenstarre verkrampft – auch die gibt es, wie ich seit dem Tod von Opa Nagler wusste –, immer noch den schwarzen Räucherspieß umfasst hielten, während Körper und Kopf auf den Steinkacheln ausbluteten, wo Friedel am nächsten Morgen den Kadaver hätte beseitigen und den Boden schrubben müssen.
Saubermachen, das konnte Friedel wie niemand sonst. Zumindest haben sich meine Eltern nie über sie beschwert. Vielleicht hatte Friedel eine besonders liebevolle Beziehung zum Fußboden, weil sie klein war und ihm so nahe. Außerdem waren Kopf und Hals immer nach vorne gebeugt und zwangen ihren Blick nach unten. Ob sie wohl jemals den Himmel gesehen hat?
8.
Sud und Sühne
Ich brauche sie … sie muss mir helfen. Mich retten. Endlich einmal etwas für mich tun. Mich befreien aus dem Gestänge des Gefängnisses, in dem ich hänge. Jetzt. Jetzt sofort. Sie soll gefälligst auf einem fliegenden Teppich einher schweben, mich aufsteigen, in ein bunt-orientalisches großes Kissen plumpsen lassen und schöne Heimatlieder auf dem Akkordeon spielen, dem schwarz-dunkelrot-perlmuttfarben glänzenden. Endlich wäre ich befreit von meiner Absturzangst, befreit vom einschmeichelnden Feengesang, der mich arglistig und hinterhältig einlullt, um zu töten. Mich zu töten. Unter den vertrauten und lieblichen Tönen der Musik flögen wir heim, als wäre nichts gewesen, und könnten endlich, so wie immer, friedlich zu Hause zu Abend essen. Nur dieses eine Mal soll sie kommen, danach kann sie mich weiterhin drangsalieren, nur dieses eine Mal – und mich retten. Meine Schwester.
Doch das würde nicht geschehen. Es musste eine andere Möglichkeit der Rettung geben. Vielleicht Klaus, mein kleiner Bruder Klaus?
Er war etwa eindreiviertel Jahre jünger als ich. Das ist nicht viel, zu vernachlässigen im Erwachsenenalter, aber mit vier, fünf, sechs Jahren fast ein halbes Leben. Er war dabei und hat mit uns herumgetobt, als wir in der Fleischerküche Fangen spielten, als Oswald mich erwischte, mich an den Oberarmen packte und in den Fleischhimmel hängte. Wir lachten, denn es war ein Riesenspaß. Doch plötzlich waren Vati und Oswald weg. Nur ihre Gesichter schwebten noch einen Augenblick als grinsende Masken im Raum. Dann waren auch sie weg. Verschwunden. Es war dunkel. Ich hing an einem Räucherspieß. Die Tür war verschlossen – und der Spaß nahm ein jähes Ende. Der Schreck fuhr uns beiden in die Knochen. Zumindest mir. Aber ich glaube, ihm auch. Was sollten wir tun? Ich hing im Gestänge unter der Decke, und Klaus stand etwas versetzt unter mir. Ahnte er die Gefahr, dass ich jederzeit abstürzen könnte, und wollte er vermeiden, dass ich auf ihn fallen und ihn verletzen würde? Rechnete er mit meinem Tod?
Wie kann es sein, dass der Tod sich nicht tückisch aus dem Hinterhalt annähert, sondern fröhlich, lachend und mit mir spielend von vorne kommt, sich einen Spaß erlaubt und mich in den Himmel hebt, wo Gott – und nicht der Teufel – wohnt?
Und der erste Zuschauer, der mir beim Sterben zusehen will, hat sich auch schon eingefunden. Er. Mein kleiner Bruder. Mit dem ich immer ein Herz und eine Seele bin. Jedenfalls fast immer.
Er ist zu klein, um mich aus dem Himmel herunterzunehmen, mich vom Fleischbaum zu pflücken, damit ich wieder sicheren Grund unter den Füßen bekomme. Das ist ihm nicht vorzuwerfen – aber dass er aus irgendeinem Grund nicht, wie ich es ihm sage, einen Stuhl vom Küchentisch holt und ihn unter meine Füße stellt, das verstehe ich nicht. Er muss doch die Gefahr erkennen, in der ich mich befinde. Aber er steht einfach nur da und schaut nach oben. Ist er erstaunt, ja, fasziniert davon, wie schnell ein Mensch vom Erdboden verschwinden und sich wenige Sekunden später im Wurst- und Schinkenhimmel wiederfinden kann? Was denkt er wohl? Dass auch ich bald in Wurst und Schinken verwandelt werde und dass das, was neben mir hängt, einst auch lebte, so wie ich jetzt? Noch. Und vielleicht waren die Tiere, denen das Fleisch nach ihrem Tod entnommen wurde, dereinst Menschen wie ich, nur in Tiere verwandelt kurz vor ihrem Tod, weil Menschenfleisch nur Kannibalen essen?
Klaus steht die ganze Zeit unter mir; starr, stumm, versteinert; und glotzt, anders kann ich seinen Blick nicht bezeichnen, als verkünde, was er sieht, eine Botschaft aus einer anderen Welt. Nur welche? Was gibt es da zu sehen, dass er so glotzen muss? Ich, sein verehrter großer Bruder, hänge im Himmel des Fleischerreiches und habe Angst abzustürzen. Das ist alles. Mehr nicht. Aber zu viel, um es noch lange aushalten zu können.
Klaus, lieber Klaus, mein Bruder, bitte hilf mir! Sonst falle ich herunter und muss sterben. Öffne das Fenster, geh auf die Straße und hol Hilfe. Ich kann nicht mehr.
Er hörte mich nicht – oder wollte mich nicht hören. Und was jeder Mensch tut, wenn er schaut, nämlich reflexhaft für den Bruchteil einer Sekunde die Augenlider zu verschließen und sofort wieder zu öffnen, Klaus tat es nicht. Er tat es einfach nicht. Konnte er seinem Blick in diesem Zustand der erwartungsvollen Starre, die herbeisehnt zu sehen, was unaufhaltsam geschehen wird, ohne zu wissen, wann genau, das Augenklimpern verbieten, um dieses Ungeheuerliche, den Sturz vom Leben in den Tod, nur ja nicht zu verpassen?
Er schien darauf zu warten, dass die Schlange endlich das Kaninchen beißt, welches in einer hypnotisierten Bewegungsohnmacht durch den Todesbiss von seiner Angst befreit werden will, denn die Angst vor dem Tod ist schlimmer als der Tod. Und um diesen einmaligen, ja sensationellen Augenblick nicht wegen eines lächerlichen Lidschlags zu versäumen, von dem das Leben unendlich viele, ja zig Milliarden und mehr, bereithält, hatte Klaus seinen Augenlidern befohlen, sich nicht zu schließen. Er war der Zuschauer, der sich den Höhepunkt des Abends unter keinen Umständen entgehen lassen wollte: dabei zu sein und zu sehen, wie ich in den Tod stürze.
Oder wollten umgekehrt seine Augenlider ihn zwingen, etwas zu sehen, wovon sie wussten, dass er es sehen wollte, ohne sich dies allerdings eingestehen zu können? Aber vielleicht war es auch ganz anders: Er sah nicht mich, sondern sich selbst hier oben hängen und wollte dabei zuschauen, wie er selber abstürzen, aufschlagen und sterben würde.
Oder überlegte er, was er wohl tun würde, wenn er hier oben hinge und ich ihn betrachtete, wie er mich jetzt? Doch ich würde ihn nicht betrachten. Ich würde ihm helfen. Ich würde den Stuhl unter seine Füße stellen, hinaufsteigen, die Arme nach ihm ausstrecken und ihm sagen: Jetzt! Er würde in meine Arme fallen, wir beide würden vom Stuhl auf die Kacheln fallen – und wären gerettet. Vielleicht wären wir verletzt, aber tot wären wir nicht.
Klaus war nicht mehr bei sich. War ganz Blick. Doch schaute er nicht mit den Augen, nein, seine Seele schaute durch die Augen aus seinem Körper heraus. Aber was sah sie, verdammt noch mal, dass sie so glotzen musste?
Ich wunderte mich. Wie kann es sein, dass ich mir um ihn mehr Gedanken mache als um mich? Kann er nicht einfach nur aufhören, mich so anzugucken? Bin ich nicht mehr ich? Habe ich mich schon verwandelt? In was denn, um Gottes willen, dass er so gucken muss? Wachsen meinem Kopf Schweineohren, meinem Mund ein Rüssel, grunze ich schon, ohne es selbst hören zu können? Was geschieht mit mir? Bin ich schon tot, und es dauert nur noch eine kleine Weile, bis auch ich es merke?
Doch mit diesen Fragen würde ich mich nicht mehr allzu lange beschäftigen können. Denn ein riesiger Berg, langsam, aber unaufhaltsam, schob sich auf mich zu. Um mich unter sich zu begraben.
Ich versprach Klaus, noch heute Abend im Geheimen mit ihm Westradio zu hören. Aber das bewegte ihn nicht. Ich versprach ihm mein Taschengeld. Auch das überzeugte ihn nicht. Er stand da wie angewurzelt. Schaute in eine andere Welt. Er sah … ja, was sah er? Er sah mich. Inmitten der Sachen, die immer hier oben hängen. Woher also sein geistesabwesender Blick? Und wenn der Geist abwesend war, wo war er anwesend? Was, verdammt noch mal, konnte er sehen, was sich meinen Augen verschloss? Klaus war nicht zu bewegen – und so bewegte er sich auch nicht. Es blieb und es bleibt sein Geheimnis, was er sah. Offenbar etwas zuvor nie Gesehenes.
Lag es daran, dass er von unten heraufguckte, ich jedoch von oben hinunter? Konnte es sein, dass ich genauso schaute wie er und unsere Blicke in Wirklichkeit nicht zwei, sondern ein Blick waren und jeder mit demselben Blick im andern sein eigenes Entsetzen sah und sich fürchtete?
Heißer Dampf steigt auf. Doch trotz der Hitze erfriere ich in der Eiseskälte meiner Angst. Im Brühkessel, ganz nah unter mir, beißen sich Schweineköpfe durch die siedende Metzelbrühe – und Renate spielt eine lustige Melodie. Für einen Augenblick denke ich, vielleicht wird noch alles gut. Die Augen der Schweinsköpfe, die bisher zusammengekniffen waren, öffnen sich, und ihre toten Augen sind nicht tot. Sie beginnen zu leben. Ängstliche, um Hilfe flehende Blicke. Doch wie kann ich helfen, da ich selber gleich in den Brühkessel fallen werde, meine Haut im heißen Wasser verbrennen wird und ich im siedenden Sud ersaufe und elendig verende?
Einige Köpfe beißen sich durch die dampfende Schlachtsuppe, als wollten sie die Wanne, in der sie schwimmen, leer trinken, um die Qualen der heißen, vor sich hin blubbernden Quelle zu beenden, deren Wasser sich mit dem Blut und den aus den abgeschnittenen Köpfen herauslaufenden Säften mischt. Andere prusten die heiße Brühe wie Fontänen in die Luft, um sie aus dem Kessel zu pumpen. Rüssel und Schnauzen, deren Backen frisch gekocht und gesalzen so wunderbar schmecken, beginnen zu quieken, zunächst ganz leise und zart, wie frisch geborene Ferkel, die man am liebsten auf den Arm nehmen möchte, doch dann sich steigernd in den Todeskampf, als sähen sie das Schlachtermesser auf sich zukommen, als spürten sie den Stich, als sähen sie, wie das Messer blutig aus der Wunde herausgezogen wird, verfolgt vom roten sprudelnden Blutstrahl, den das pumpende Herz dem Messer auf seiner Reise zur nächsten Sau hinterherschickt und der nach einiger Zeit gemeinsam mit dem Leben erlischt – ein müdes Rinnsal, das am Boden klebt und sich festhält und bleiben will. Bis es von einem Wassereimer in die Unterwelt der Kanalisation gespült wird.
Doch noch reißen sie die Schnauzen auf, strecken die Zungen hervor, die später zu Zungenwurst verarbeitet werden, und kämpfen und kämpfen, um nicht zu ersticken, zu verbrühen, zu sterben. Will der Gott der Schweine, dass ich geopfert werde, mich selber opfere, um sie zu erlösen? Warten sie darauf, dass ich in den Kessel falle, damit sie mich – ein Opfer ist nur Opfer, wenn es verspeist wird – fressen und sich retten können? Mich, der ich zur Stelle war, wenn Oswald und mein Vater mit nackten Händen die heiße Schwarte des Rüssels und die Schweinebacken vom Schädel streiften, und darauf wartete, dass mir mein Vater, nachdem er es ein wenig gesalzen hatte, vom weichen und sehnigfeuchten Fleisch der Schweinebacke zu probieren gab. Kopffleisch zu essen – war das meine Sünde, für die ich nun büßen musste? Klaus sah, was ich sah, hörte, was ich hörte – und musste mit mir büßen.
Über allem erklang der Lärm von Renates Akkordeon, als ginge es darum, das von heißem Dampf aus dem Brühkessel emporgetragene Sauenquieken in seiner Schrecklichkeit noch zu übertönen. Ich beneidete Renate. Auch wenn die Musik, die sie aus dem Akkordeon quetschte, die Musik der Hölle war. Doch sie spielte und spielte und war nicht hilflos ausgeliefert, so wie ich. Ich war mir sicher, ich wusste: Mit einer anmutigen und lieblichen Melodie, einem einfachen, das Herz berührenden Lied, hätte sie das Schweinegequieke, die Musik der Hölle, verstummen und mich und meinen Bruder in schönere und von einer gütigeren Sonne als der abgestumpften Lampe über dem dampfenden Sudkessel beschienene Gefilde entschweben lassen können.
Начислим
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