Читать книгу: «Sommerleithe», страница 3

Шрифт:

Neben einem vom Blitz gespaltenen Baum zu stehen, der in Flammen aufgeht, neben verkohlten Kühen auf der Weide oder zerstörten Häusern, aus denen Menschen flüchten, deren Haare und Kleider brennen und die aussehen wie verzweifelt fortrennende Fackeln auf Beinen – all das wäre mir lieber, als hier oben zu hängen. Bedrängt von grunzenden Schweinefratzen.

Schweine fressen alles. Auch mich? Einst hatten die Tiere, die jetzt tot und in Würste und Schinken verwandelt neben mir hängen, Gesichter und Leben, sind herumgesprungen und haben sich des Lebens gefreut. Nun sind sie tot, doch ihre Geister – so etwas gibt es, wie ich aus den Geschichten meiner Mutter weiß, die sie meiner Schwester, Klaus und mir vor dem Einschlafen vorgelesen hat – leben und wollen sich nun an mir rächen. Aber rächen wofür? Was habe ich ihnen getan? Ich habe sie nicht getötet. Oswald und mein Vater haben sie getötet. Sollen sie doch Oswald und meinen Vater neben sich hängen und für ihre Ermordung bestrafen und quälen.

Ich esse ohnehin lieber frisches Brot, bestrichen mit Butter und bestreut mit Salz oder Schnittlauch, als belegt mit dem Fleisch, das jetzt neben mir hängt. Mit einer Ausnahme: Nichts geht über eine Scheibe Brot mit grober Leberwurst. Wenn man die Leberstückchen im Mund spürt, sie mit der Zunge am Gaumen zerdrückt zu einem feucht-mehligen Brei und die Leber ihren Geschmack entfaltet, dann ist dieser Genuss die Veredlung des altehrwürdigen Fleischerhandwerks in Perfektion. Aber weder können die Würste und Schinken, inmitten derer ich hänge, dieses mein Geheimnis wissen noch ahnen. Wie und woher auch?

Oswald! Vor ihm, der mich zuerst zu meiner Freude, dann zu meiner Trübsal himmelhoch gehängt hatte – so freundlich er mir gegenüber war in Gegenwart meiner Eltern –, hatte ich mich, wenn ich mit ihm allein war, immer ein wenig gefürchtet. Außerdem schien er mir, fühlte er sich von mir unbeachtet, etwas Andersartiges auszustrahlen, etwas Finsteres, Verborgenes. Seinem wulstigen Gesicht, seinen wie mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger nach vorne gekneteten Augenwülsten samt wuscheliger Augenbrauen, seinen nach außen gestülpten, viel zu dicken Lippen, den drahtigen kurzen Haaren – die mich immer an den Dutt aus silbernem Draht erinnerten, mit dem Mutti die Tiegel säuberte –, von denen er, obwohl er jünger war als mein Vater, schon viele verloren hatte und unter denen die Schädeldecke hervorschimmerte, aber ganz besonders seinem Lächeln – konnte ich all dem trauen? Oder war es nur eine Verstellung wie bei Rotkäppchen und dem Wolf?

Nichts half. Weder schlimmere Ängste zu beschwören noch meine verzweifelte Situation mit den bunten Bildern meiner Phantasie zu verzieren und zu beschönigen.

Was nur, was hatte ich getan? Was verbrochen, dass ich sterben musste? Noch nie hatte ich den Tod gefühlt. Jetzt war er da.

4.
«Im Westen ist es kalt»

Da nahmen mich die Hände meiner Mutter, pflückten mich aus der Krone des Fleischbaumes und legten mich behutsam ins warme Wasser einer Mulde, in der sonst Wurstmassen vermengt, der Glitsch vom Naturdarm gespült, Schweinezungen von behaarten Fleischerarmen ellenbogentief in großkalibrige Kunstdärme gestopft wurden, die gefüllt waren mit warmer, noch flüssiger roter und mit weißen Speckwürfeln versetzter Blutwurstmasse – und in welcher zur Vorweihnachtszeit Mutti den Teig für die Christstollen ansetzte.

Mein Körper sog das Wasser auf, pumpte sich voll mit Flüssigkeit, die Haut wurde geschmeidig, Schuhe und Kleider wuchsen aus mir heraus, und ich wurde wieder der, als den ich mich kannte. Muttis Hände hoben mich aus der Mulde, das Wasser troff von mir ab, und ehe ich es mich versah, stand ich auf dem Küchentisch – alles war trocken – und wurde von meiner Mutter angezogen. Doppelte Unterhose, doppeltes Unterhemd, ein Hemd, ein Pullover, eine lange Hose und eine warme Jacke. Wieso das? Es war Sommer. Ich frug Mutti, warum ich die Kleider in Schichten übereinander tragen solle, da würde ich doch bestimmt schwitzen, und bekam zur Antwort, in einem Ton, der keine Nachfrage, geschweige denn Widerspruch erlaubte: «Im Westen ist es kalt.»

Im Westen ist es bestimmt nicht kalt, dachte ich. Denn was sollte ein Urlaub im Westen, bei Onkel Willi und Tante Maria, wenn bei uns zu Hause die Sonne schien?

Mutti öffnete die Haustür. Draußen auf der Straße wartete schon das Taxi. Und Vati, Renate und der Fahrer warteten daneben. Längst war das Reisegepäck im Wagen verstaut. Ich ließ Muttis Hand los und ging zu ihnen. Doch Mutti blieb vor der Haustür stehen und schaute zu uns. Was ist? Will sie nicht mitkommen? Irgendetwas stimmt nicht. Die Urlaubsfreude fehlte. Vati ging zu ihr, flüsterte ihr etwas ins Ohr und schaute Mutti noch einmal an. Sein Blick war streng. Wo blieb seine ausgelassene Fröhlichkeit, mit der er uns sonst beschenkte, wenn wir in den Urlaub fuhren? Dann kam er zurück zum Taxi.

Sie schaute ihm nach. Und blieb vor der Tür stehen. Was war geschehen? Wollte sie nicht mit uns in den Urlaub fahren? War sie misstrauisch, weil das Taxi gar nicht wie ein Taxi aussah? Fürchtete sie sich davor, von Vati und Renate diesmal wirklich zu Tode gekitzelt zu werden, wie es letztes Jahr in den Ferien fast geschehen wäre, wenn ich nicht eingegriffen und es verhindert hätte? Mein Vater hatte das Taxi erreicht und schaute noch einmal zurück. Zu ihr? Zum Haus? Würde er jetzt zornig? Aber nichts dergleichen geschah. Auch er stand da. Wir standen einfach alle nur da: Vati, der Taxifahrer, Renate, ich und Mutti. Nur, dass sie woanders stand als wir. Irgendwie waren wir alle ratlos.

Dann drehte sie sich um und wandte uns den Rücken zu. Was tut sie? Sie schaut auf die Tür. Die sie doch schon so viele Male gesehen hat. Nichts war neu, nichts hatte sich verändert. Die Tür war, was sie immer war. Eine Tür. Eine Haustür. Die Tür zu unserem Haus. Durch die wir nach dem Urlaub unser Haus wieder betreten würden. Und wenn sich sonst nichts verändert hatte – Mutti hatte sich verändert. Mein Vater wurde ungeduldig. Und auch der Taxifahrer wollte nicht länger auf der Straße herumstehen. Er wollte endlich einsteigen und losfahren.

Würde Mutti jetzt den Hausschlüssel aus der Handtasche nehmen, die Tür aufschließen, ins Haus gehen und sie hinter sich verschließen? Für immer darin verschwinden? Würde Vati ihr folgen, und alles würde wieder werden und bleiben, wie es immer war in unserem Haus? Nur ohne Urlaubsreise. Oder würde er ohne sie wegfahren? Und was geschähe dann mit Renate und mir? Wir schauten uns an. Würden wir bei Mutti bleiben oder mit Vati allein in den Urlaub fahren? Oder sollten wir uns trennen, um weder Vati noch Mutti allein zu lassen? Doch wer sollte bei Mutti bleiben, wer bei Vati? Dann geschah die Erlösung. Mutti drehte sich zu uns um, kam durch den Vorgarten zum Taxi, stieg ein, und wir fuhren los.

Da geschieht etwas Unerwartetes. Was hat es zu bedeuten? Wir sind noch nicht lange unterwegs, als der Fahrer ein außerhalb von Gera gelegenes Waldschwimmbad ansteuert und hält. Wir Kinder schauen uns an und sind verunsichert. Jetzt steigen wir aus, bekommen von Mutti zwei Badetaschen in die Hand gedrückt, und Vati kauft an der Kasse vier Eintrittskarten. «Zwei Erwachsene, zwei Kinder.» Renate ist beleidigt. Sie ist kein Kind mehr. Zumindest will sie nicht mit mir auf eine Stufe gestellt werden. Vati zahlt. Er hat passendes Geld.

Man muss sich das vorstellen: Gleich zu Beginn der Reise, lange bevor wir das Urlaubsziel erreichen, gehen unsere Eltern mit uns ins Freibad! Aber weder darf Renate ihren Badeanzug noch ich meine Badehose anziehen.

«Was soll das?», denke ich bei mir, «warum gehen wir dann ins Schwimmbad?»

Und schon kommt die Antwort: «Mutti hat zu Hause etwas vergessen, und da ist es doch besser, hier auf sie zu warten, als mit ihr hin- und herzufahren», sagt unser Vater und fügt hinzu: «zumal, wenn ich euch jetzt ein Eis spendiere.»

Das Eis schmeckt gut. Trotzdem kann ich es nicht genießen. Denn ich befürchte, dass Mutti nicht zurückkommen wird, so komisch, wie sie sich heute früh benommen hat. Sie würde allein in unserem Haus zurückbleiben. Aber warum? Und sie würde traurig sein, dass ich nicht bei ihr bin und sie tröste. Vielleicht würde sie sogar weinen?

Doch kaum haben wir unser Eis beendet, geschieht erneut etwas sehr Merkwürdiges. «Nehmt die Taschen und folgt mir!», spricht mein Vater, kaum sichtbar die Lippen bewegend, und dann, als habe er sich mit dieser Art zu sprechen verdächtig gemacht oder ein Geheimnis verraten – aber welches? –, in einem Tonfall, der entspannt wirken soll, es aber nicht ist: «Wir suchen einen ruhigen Fleck, an dem wir unsere Decke ausbreiten können.»

Renate und ich folgen ihm – und sind überrascht, hinter einer Hecke jenseits des Zaunes, der das Waldschwimmbad umschließt, den Taxifahrer zu sehen, der doch Mutti nach Hause und zurück fahren sollte. Was ist passiert? Ein Unfall? Wo ist Mutti? Ist ihr etwas zugestoßen? Ist sie verunglückt? Ist sie tot?

Der Fahrer nickt meinem Vater zu, und mein Vater nickt zurück. Renate und ich wissen noch immer nicht, was geschehen ist. Der Taxifahrer tritt hinter der Hecke hervor, einer Haselnusshecke, aus deren Ästen und Zweigen sich leicht Pfeil und Bogen schnitzen lassen, geht zu einem Eisentor, schließt es auf, unser Vater befiehlt leise: «Geht!», wir gehorchen, und Vati folgt uns. Der Taxifahrer verschließt das Tor. Vati blickt sich um. Als wolle er sich vergewissern, dass uns niemand beobachtet hat.

Hinter der Wegbiegung steht das Taxi. Mutti sitzt auf der Rückbank. Ich lasse den Badebeutel fallen und laufe zu ihr. Sie öffnet die Wagentür, ich werfe mich in ihren Schoß und weine. Vor Freude. Und aus Angst. Was dieser merkwürdige Tag, der mit keinem bisher erlebten zu vergleichen ist, noch alles bringen wird.

Ich saß vorn zwischen Fahrer und Vater, die beiden Frauen saßen hinten. Es muss ein Wartburg 311 gewesen sein, mit dem wir fuhren. Ich weiß dies, denn der Fahrer erfüllte mehrmals meine Bitte, den Wagen zu beschleunigen, sodass die Tachonadel zu meiner Freude die magische Geschwindigkeit von 100 km/h anzeigte. 100 km/h, welch eine Geschwindigkeit! Unser Dreirad fuhr höchstens 50 km/h, wenn überhaupt, und knatterte dabei mit einem Höllenlärm vor sich hin, der, wenn das Dreirad hätte sprechen können, bedeutet hätte: Bitte, bitte quält mich nicht, ich kann nicht mehr! Außerdem hätten meine Schwester und ich samt unserem Gepäck auf der Ladefläche sitzen und darauf achtgeben müssen, dass nicht nur wir, sondern auch die Koffer und Taschen in den Kurven nicht hinunterrutschten. Denn wenn das Dreirad, das keine Federung zu haben schien, durch Schlaglöcher fuhr, hopsten wir wegen der Erschütterung jeweils für Momente unfreiwillig in die Luft und wären Gefahr gelaufen, dass in der Sekunde, in der wir mit dem Gepäck ohne Kontakt zur Ladefläche in der Luft schwebten, das Dreirad unter uns und den Koffern hinwegführe und wir auf der Straße, oder – wenn eine Kurve hinzukäme – im Straßengraben landeten und unsere Eltern weiterführen, ohne es zu bemerken.

Im Wartburg fühlte ich mich sicher, und die schnelle Fahrt bereitete mir Freude. Eigentlich schade, dass Vati keinen Wartburg kaufen konnte, weil der so lange Wartezeiten hatte. Warum uns das Taxi aber nach Ostberlin fuhr und nicht zum Geraer Bahnhof, damit wir von hier mit dem Zug nach Berlin hätten weiterfahren können, blieb trotz der Erklärung der Eltern, so sei es komfortabler, merkwürdig.

Was soll’s. Jedes Mal, wenn die Tachonadel 100 km/h anzeigte, freute ich mich, denn ich zählte mit, wie oft der Wagen diese ungeheure Geschwindigkeit auf unserer Fahrt nach Berlin erreichen würde. Manchmal kam eine Kurve, ein anderes Mal ein entgegenkommendes Fahrzeug, dann eine Ortschaft, der Fahrer musste abbremsen und ich auf den nächsten Höchstgeschwindigkeitsrausch hoffen. Glückte dieser, schaute ich freudig erregt zu meiner Mutter. Sie lächelte mich an. Doch ihr Lächeln war nicht ehrlich. Auch meine Schwester schien die Freude am Rausch der Schnelligkeit nicht zu teilen. Wusste sie, weil sie älter war, mehr als ich? Es herrschte eine gedrückte Stimmung im Wagen. Mein Vater bemühte sich, sie mit Gesprächen aufzulockern, in die er den Taxifahrer zu verwickeln suchte, doch dieser wollte sich nicht mit überflüssigen Gesprächen von der Konzentration auf die Geschwindigkeit ablenken lassen. Da hatte er natürlich recht. Denn reden konnte man ja immer – so schnell fahren nur höchst selten.

Es waren schöne Alleen, durch die wir fuhren. Die Bäume, die Wolken, der Himmel, die Landschaft – alles spiegelte sich auf dem Lack der Motorhaube und in der Windschutzscheibe und rauschte an uns vorüber, ohne dass ich mich daran sattsehen konnte. Irgendwann, ich war wohl eingeschlafen, hielt der Wagen an, und ich erwachte. Pipi machen und Butterbrote essen – und schon ging die Fahrt weiter Richtung Berlin. Wir passierten Leipzig, ohne Tante Marie und Onkel Fritz zu besuchen. Wie lange die Fahrt dauerte, die aus irgendeinem Grund über Landstraßen und nicht über die Autobahn führte, weiß ich nicht, aber irgendwann kamen wir in Berlin an. Ich war wieder eingeschlafen und erwachte erst durch die Stille des Motors, der abgeschaltet worden war oder seinen Geist aufgegeben hatte. Verloren wie ein gejagtes Tier am Ende seiner Kräfte, stand unser Taxi auf einem weiten grauen Platz, sichtbar für alle und zum Abschuss freigegeben. Doch die wenigen Autos, die vorüberfuhren, und die wenigen Menschen, die mehr über den Platz huschten, als dass sie gingen, nahmen von uns nicht die geringste Notiz. Weder schienen wir willkommen zu sein noch zu stören. Wir waren nicht vorhanden. Wir existierten nicht.

Auch den Gebäuden, die mich auf den ersten Blick annehmen ließen, sie umzingelten uns, und wir seien in eine Falle geraten, waren wir gleichgültig – und vielleicht noch nicht einmal das. Wie Verwundete waren sie mit sich selbst beschäftigt. Hilflos. Sollten sie Menschen überhaupt zur Kenntnis genommen haben, dann, um sie abzuweisen. Zu schwer trugen sie an ihrer eigenen Last, als dass sie sich auch noch um Menschen hätten kümmern und sie aufnehmen können. Schon beim Eintreten eines Kindes wären sie in sich zusammengestürzt.

Aber nicht nur der Wartburg bewegte sich nicht mehr und war stumm, sondern auch wir hielten inne und schwiegen. Die Blicke unserer Eltern waren nicht fröhlich – anders als sonst, wenn wir in Urlaub waren. Belastet. Als erwarte uns etwas Schreckliches. Es herrschte eine gespannte Ratlosigkeit. In der jedes Wort tödlich sein konnte. Also dachte ich nur, ohne es auszusprechen: Was war geschehen?

«Sind wir schon im Westen?», frug Renate völlig unbekümmert, und in ihrer Stimme klang mit: hoffentlich nicht!

«Nein. Frag nicht so viel», war die knappe Antwort meines Vaters.

«Aber in West-Berlin?», bohrte ich nach. Und bekam keine Antwort. Und wunderte mich. Aber meine Frage zu wiederholen, traute ich mich nicht. Also schwieg ich und wartete. Wir würden ja wohl nicht die ganze Zeit auf diesem blöden Platz herumstehen. Zumal es zu regnen begonnen hatte. Komisch, dieser Urlaub. Und wieso fahren wir in den Westen, zu Onkel Willi und Tante Maria, wenn es dort kalt ist? An der Ostsee schien fast immer die Sonne. Ich war mir sicher, dass Renate mehr wusste als ich. Aber ich fand keine Gelegenheit, sie zu fragen, ohne dass die Eltern es gemerkt und ihr die Antwort vermutlich verboten hätten.

Und was würde Klaus jetzt denken, wenn er dabei wäre?

5.
Frau Pavel

Bevor ich verraten kann, was es in Walter Diercks Lokal abgesehen von den Kondomen und den paradiesischen Gefilden sonst noch zu sehen gab oder auch nicht zu sehen gab – etwas extrem Augenfälliges und von mir nie Gesehenes –, muss ich mich zuerst dem Balkon von Frau Pavel widmen, dem obersten des Hauses, das die Kneipe Im Pütt und deren Wurmfortsatz, die Kegelbahn, beherbergte.

Das Gebäude war ein Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre errichteter vierstöckiger Neubau und in mehrerlei Hinsicht das genaue Gegenteil des Altbaus, in dem wir wohnten. Dort gab es – jedenfalls stellte ich mir das so vor – gekachelte Bäder mit Dusche, Badewanne und Bidet (wobei ich von einem Bidet nicht die geringste Ahnung hatte, außer dass es, so meine Mutter, «nur etwas für Frauen ist»). Und es gab dort im Gegensatz zu unserem Altbau eine Zentralheizung: keine Ölöfen, wie ich – wer sonst – sie in der kalten Jahreszeit einmal täglich mit je einer Kanne Öl füllen und, waren sie ausgegangen, mit geknickten und aufrecht stehenden wächsernen Ölofenanzünderblättchen neu entzünden musste, ohne dass es dabei zu Verpuffungen, also kleinen Explosionen kam; all dies war nie zu bewerkstelligen, ohne dass ich ein wenig Öl verschüttete und den Rest des Tages mit stinkigen Ölfingern herumlief und den Ölgestank mit den Frühstücksbrötchen und Pausenbroten zerkaute und herunterschluckte.

Neu an den Wohnungen dieses Neubaus, also auch der Pavel’schen, war zudem, dass sie flache Zimmerdecken besaßen, die nicht, wie in Altbauten damals üblich, durch das Einziehen einer Zwischendecke aus Presspappe erst noch verflacht werden mussten. Über Bedeutung und Wichtigkeit dieser Zwischendecken, die sich damals jeder, der es sich leisten konnte, in seinen Altbau einziehen ließ, war ich mir lange nicht im Klaren. Doch mit dem Einsetzen der Pubertät und einer verschärften gesellschaftlichen Empfindung für die Jahre vor ’68, die verlogenen Jahre, kam ich darauf, dass in diesem über unseren Köpfen schwebenden Zwischenreich der Krieg, seine Verbrechen und die Erinnerungen daran weggeschlossen waren – verbannt in luftiges Vergessen, doch jederzeit bereit, durch die dünne, porös werdende und somit nicht erinnerungsresistente Pappe hindurchzurieseln. Und es rieselte. Und rieselte … bis die 68er-Bewegung, vorbereitet und begleitet von der Beatmusik auf BFBS und Hilversum 3 und mitgeschnitten auf dem Grundig TK17L, dieses Provisorium der Verdrängung zum Einsturz brachte.

In der obersten Etage dieses Hauses also, dessen rückwärtige Fassade von unserem Garten, der Wurstküche und dem Hof der Metzgerei aus gut sichtbar war, wohnte Herr Pavel mit seiner Frau. Und einem schwarzen Pudel. Herr Pavel betrieb eine Autohandlung, und sein Bauch war noch kugeliger als sein mit Haaren unterversorgter Kugelkopf. Ob er allerdings die Wohnung mit Balkon in der obersten Etage bekommen hat, weil der Hausbesitzer, wie die Kegelbahn im Erdgeschoss zeigt, ein Faible für Kugeln diverser Größen hatte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war Herr Pavel in meiner Phantasie sagenumwoben.

Erstens hieß niemand damals Pavel, und wenn doch, kannte man so jemanden nicht. Zweitens kam Herr Pavel aus einer anderen Welt. Nicht, weil er irgendwie ulkig aussah, sondern weil er eine Autohandlung betrieb, deren Firmenname kein Mensch aussprechen konnte: Citroën schrieb sie sich und Zitröön wurde sie, wenn man das Wort überhaupt in den Mund nahm, ausgesprochen. Und drittens, weil diese Autofirma, deren Namen niemand annäherungsweise richtig aussprechen konnte, ein sagenumwobenes Auto herausgebracht hatte, das ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte ausdenken können. Sein Aussehen – konnte das ein Auto sein? – war atemberaubend neu und entsprach insofern der Unaussprechlichkeit seines Namens: Citroën. Doch damit nicht genug. Nicht nur für alle in der Metzgerei und alle ihre Kunden, sondern für alle Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenze, also für Gesamtdeutschland, aber auch für Frankreich und den Rest der Welt trug das Modell, von dem ich hier spreche, den Namen Déesse. DIE Déesse.

Atemberaubend wie das Auto war, so unvorstellbar war es, den Eltern auch nur vorzuschlagen, es zu erwerben. Und noch unvorstellbarer, sich Vati hinter dem verbogenen und schräg stehenden Lenkrad einer Déesse sitzend vorzustellen, deren Namen nicht nur er, sondern niemand aussprechen, geschweige denn schreiben konnte – vielleicht mit Ausnahme von Französischlehrerinnen, die sich den Wagen aber nicht leisten konnten. Und wenn dieser unaussprechliche Name eine Bedeutung haben sollte, und wenn man sich vorstellen konnte, dass er eine hätte, wusste man trotzdem immer noch nicht, welche. Und wenn man – was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war – sie herausgefunden haben sollte, dann gäbe es doch wohl zu Recht nur eine, die im damaligen Deutschland eine Göttin sein konnte: die Garbo. «Die göttliche Garbo» – so nannten sie meine Eltern.

Aber der kugelige Herr Pavel fuhr nicht nur eine Déesse, die alles, was auf vier Rädern unterwegs war, alt aussehen ließ, er hatte auch eine Déesse in Gestalt seiner Frau, die unter der Woche, man stelle sich das vor, vormittags, wenn die Sonne schien, in einem weißen Bikini, ja, in einem weißen Bikini, im Liegestuhl auf dem Balkon lag, den schwarzen Pudel ihr zu Füßen, rauchte und sich sonnte, sooft das Wetter es erlaubte.

Sie arbeitete nicht, sie hatte keine Kinder, sie lag rum und blätterte in der Illustrierten, eine Tätigkeit, der tüchtige Frauen nach Auskunft meiner Mutter nur beim Frisör nachgehen. Alle in unserer Metzgerei – die Putzfrauen, die Verkäuferinnen und meine Mutter – waren empört. Auch die Männer waren empört. Aber anders empört. Denn immer, wenn Frau Pavel nahezu nackt im Liegestuhl auf dem Balkon lag, wollten sie erst einmal sehen, und zwar genau sehen, worüber sie anschließend zu Recht empört waren. Ich fand das richtig. Denn grundlos empört zu sein, sich aufzuregen ohne Anlass, wäre in meinen Augen völlig verantwortungslos und unentschuldbar gewesen. Schlagartig, als ob die Kirchenglocken läuteten, hatten sämtliche Männer etwas Wichtiges auf dem Hof zu erledigen, sobald die begnadete, üppige und wohlig rundgeformte Göttin auf den Balkon trat, nein, sobald sie dort erschien.

Sie stützte sich kurz auf das Geländer, beugte sich ein wenig nach vorn – um eigentlich was zu sehen? –, warf dann den Kopf in den Nacken, bevor sie von alledem völlig erschöpft im Liegestuhl versank. Das überirdische Kommando an die Männer hieß nun: nicht mehr arbeiten, sondern gucken. Und da auch das Gucken sehr anstrengend sein kann, wurde an die Arbeitspause und die Guckpause schnell noch eine kollektive Rauchpause angehängt. Leider war mein Vater Nichtraucher. Also muss für ihn das lange Gucken besonders anstrengend gewesen sein. Denn dass ausgerechnet er nicht guckte, existiert in meiner Erinnerung nicht. Oder es taucht nicht auf. Es schien, als hätte er urplötzlich Wichtiges mit den Gesellen zu besprechen. Also gesellte er sich zu ihnen. Und immer wenn ich dem Rudel beim Gucken zuguckte, fiel mir an den Blicken der Männer auf, dass das Wichtige, das es zu besprechen galt, nur eine Zielrichtung kannte: Frau Pavel.

Frau Pavel ging nicht einkaufen. Sie wurde beliefert. Denn eine Göttin stellt sich nicht an, reiht sich nicht ein in die Schlange wartender Hausfrauen, die geräucherten Speck für die Erbsensuppe kaufen. Als sie sich zum ersten Mal Wurst und Fleisch und, für den schwarzen Pudel, gekochte, unglaublich stinkende Kutteln bringen ließ, fiel mir die Aufgabe zu, ihr die Pakete in den vierten Stock zu liefern. Doch danach nie wieder. Es gab Gerangel unter den Gesellen, denn jeder wollte den nächsten Botengang machen. Mein Vater klärte den Konflikt auf seine Weise: Er übernahm die Aufgabe selber. Danach bestimmte die alphabetische Reihenfolge der Vornamen, wer das Fleisch der eigenhändig getöteten Tiere zum Tempel der Mietwohnung in den vierten Stock tragen und den Händen der Angebeteten mit den rot lackierten Fingernägeln darbieten durfte.

Mein Vater hatte ein doppelt schweres Schicksal zu ertragen, denn er war nicht nur der einzige Nichtraucher, sondern auch der einzige Verheiratete in der Männerrunde und bekam von den Frauen, wenn er wieder mal mit seinen Gesellen zum Balkon hochschaute, um Dienstliches zu besprechen, den Spitznamen Hans-guck-in-die-Luft. Er hatte zwar auch noch einen zweiten Vornamen, Herbert, aber der war nicht spitznamentauglich.

Meine Mutter also stand mit den anderen Frauen, die gerade abkömmlich waren, in der Küche. Sie beobachteten die Männer und machten sich lustig über sie, derweil die neue, wassergetriebene Kartoffelschälmaschinentrommel rumpelte und pumpelte, die Kartoffeln von oben nach unten, zur einen, dann zur anderen Seite durcheinanderwirbelte, um ihnen die braune Haut samt ihrer Unreinheiten abzuschleifen. Die Kartoffeln waren mindestens so irritiert wie die Männer, auch sie wussten nicht, wie ihnen geschah. Sie waren es gewohnt, einzeln in die Hand genommen und liebevoll-gekonnt von Hand geschält und nicht grob-maschinell abgerieben zu werden. Also schauten sie sich – jawohl, Kartoffeln besitzen Augen, das sind die Sprossknospen der Knollen – an und fragten sich, was die rumorende Unruhe zu bedeuten habe. Sie redeten durcheinander, ohne sich zu verstehen, polterten lauter und lauter, je schneller die schmirgelpapierraue Drehscheibe sie durcheinanderwirbelte, doch gegen das Durcheinander, das ihren plumpen Knollenkörpern angetan wurde, gab es, dem Gelärme ihres Protestes zum Trotz, kein Ankommen. Also schauten sie hilfesuchend zu den Frauen, die zu den Männern schauten, die zu Frau Pavel schauten, die, um die Gier der Männer und den Neid der langweiligen Haus- und Arbeitsfrauen zu steigern, nach einem Glas griff, die roten Lippen über den Strohhalm stülpte, daran zutschelte und ein rotes Getränk aus dem Glas in ihrem Mund verschwinden ließ. Alle, die das sahen, waren empört. Sie hatte das rote Etwas, das, wie Rudi bemerkte, bestimmt kein Himbeersaft war, ex getrunken!

Dann schaltete sie das Transistorradio an und hörte Schlager. Doch die Musik hätte es nicht gebraucht. Sie spielte längst in den Männern, deren Blicke Frau Pavel auf sich zog, spielte in allen dieselbe Melodie. Du weißt, ich küsse heiß, du weißt, ich brenne gleich, du weißt, dass ich immer alles, alles erreich, ich bin ein Mann, hey jey jey, ich bin ein Mann! Doch Frau Pavel ließ nicht locker. Sie nahm eine Illustrierte und durchblätterte sie in demonstrativer Langeweile mit lackierten Fingernägeln, Seite für Seite. Die Fotos schauten Frau Pavel an. Doch die Blicke der abgebildeten Frauen interessierten Frau Pavel nicht. Sie war selber eine Frau. Und wusste, was für eine. Also schaute sie die Männer an. Die Männer schauten weg und einander an, dann zu den Frauen im geöffneten Küchenfenster; diese lachten die Männer an, dann schauten auch sie weg und schauten einander an – und mit einem leicht resignierten Blick, in dem ein kleines Fragezeichen zu lesen stand, und einem Seufzer gingen sie wieder an die Arbeit; nur meine Mutter blieb stehen. Sie schaute die Kartoffeln an. Doch die konnten nicht mehr zurückschauen. Die neue Kartoffelmaschine hatte ihnen die Kartoffelaugen abgerieben.

Später musste ich erfahren, dass keine Deutsche, sondern Catherine Deneuve die Ikone der Déesse sei. Welch ein Irrtum! Die wahre Déesse war Frau Pavel auf dem Balkon im Ruhrgebiet, vierter Stock, in Mülheim-Dümpten.

Eines Tages waren Herr und Frau Pavel verschwunden. Die Citroën-Niederlassung war noch da. Sie wird einen neuen Betreiber gefunden haben. So wie die Wohnung mit dem Balkon Nachmieter. Aber keiner hat je wieder hochgeschaut. Und selbst wenn dort oben Catherine Deneuve im Bikini erschienen wäre, in der einen Hand eine Muratti Privat rauchend und mit der anderen in kühler Laszivität aufs Geländer gestützt, gegen Frau Pavel hätte sie keine Chance gehabt. Wer Frau Pavel einmal gesehen hat, trägt sie als Phantom der Erinnerung, als Fata Morgana stimulierender Phantasie, als erotischen Prägestempel und lebenslängliche sexuelle Behinderung durch sein amouröses Leben, sämtlichen Phantasmen und Wirklichkeiten anderer Weiblichkeit haushoch – vier Stockwerke – überlegen. Claudia Cardinale? Sophia Loren? Marilyn Monroe? Nein! Nein! Nein!

Was aus dem Verkäufer der fahrbaren Göttin und aus seiner göttlichen Frau geworden ist, weiß ich nicht, wie ich übrigens auch nicht weiß, was den Diven der Fensterbank, Renate und der schwarzbuschigen Monika, in jener Nacht widerfuhr, in der ich vor ihnen in den Schlaf fiel, während sie noch verträumt «ihre» Gesellen mit den alten oder neuen Eroberungen beobachteten. Es muss Heftiges gewesen sein.

1 529,22 ₽

Начислим

+46

Покупайте книги и получайте бонусы в Литрес, Читай-городе и Буквоеде.

Участвовать в бонусной программе
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
372 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783939483618
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
Аудио
Средний рейтинг 4,6 на основе 205 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,1 на основе 1039 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,8 на основе 5244 оценок
18+
Текст
Средний рейтинг 4,6 на основе 556 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,1 на основе 95 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,7 на основе 7183 оценок
Черновик
Средний рейтинг 4,2 на основе 85 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,7 на основе 1078 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,7 на основе 1855 оценок
Черновик, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,7 на основе 398 оценок
Текст
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок