Die Bibel in der Weltliteratur

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Kain begreift nicht, was geschehen ist, und kann nicht fassen, dass Abel tot ist[91] – sicher auch deshalb nicht, weil er nicht wahrhaben will, diesen Tod verursacht zu haben. Als Zillah Abel tot findet und ausruft „der Tod ist in der Welt!“ (S. 97 = III 1, 370), muss Kain sich eingestehen:

Wer bracht’ ihn in die Welt? – Ich, – der den Namen

,Tod‘ so verabscheut, daß schon der Gedanke

Mein Leben hat vergiftet, eh’ ich noch

Sein Aussehn kannte. (S. 97 = III 1, 371–374)

Als die Eltern Kains Tat entdecken, verstoßen sie ihn aus dem Familienverband. Nur Adah hält zu Kain und will mit ihm und den beiden Kindern fortziehen.

|60|Konsequenzen für KainIm Schlussteil der Szene erscheint ein Engel des Herrn stellvertretend für Gott selbst. Der knappe Dialog des Engels mit Kain – das kurze Verhör und die Verurteilung – ist zunächst fast wörtlich an Gen 4,9–12 angelehnt. Die Reaktion Kains aus Gen 4,13–14 legt Byron jedoch Adah in den Mund; sie ist es, die um Kains Leben fürchtet, während Kain fragt, wer denn in der noch unbevölkerten Welt ihn töten sollte – eine Frage, die sich auch kritische Bibelleser gestellt haben. Der Engel erwidert daraufhin: „Wer gibt dir Bürgschaft wider deinen Sohn?“ (S. 105 = III 1, 485), und „Wohl zeugt der Brudermörder Elternmörder.“ (S. 105 = III 1, 492). Doch setzt der Engel das Schutzzeichen auf Kains Stirn. Kain würde zwar sein Leben gern hingeben, wenn Abel dafür wieder lebendig würde, aber das ist unmöglich. So nimmt Kain Abschied von dem Toten, und Adah mit ihm:

ADAH.

Friede mit ihm!

KAIN.

Und mit mir? (S. 109 = III 1,561)[92].

Kain als Rebell, Pessimist und ZweiflerKain wird keine Ruhe finden, nicht äußerlich, geschweige denn in seinem Inneren.

Byron gestaltet die Erzählung vom Brudermord in starker Rückbindung an die Sündenfallgeschichte in Gen 3. Die Lebensbedingungen der Menschen, die durch die Verbotsübertretung entstanden sind, vermag Kain nicht zu akzeptieren. Er hat das Paradies noch vor Augen, jedoch als einen für ihn unzugänglichen Ort. Er sieht nicht ein, warum sich das Vergehen seiner Eltern auf ihn, der sich keiner Schuld bewusst ist, auswirkt. Kain scheint geradezu besessen vom Gedanken an den Tod, der bisher noch keinen der Menschen getroffen hat. Indem Kain nach Erkenntnis über das Geheimnis des Daseins und über den Tod strebt, setzt sich gerade in ihm, der den Eltern den Sündenfall vorwirft, das menschliche Streben nach göttlicher Einsicht fort. In diesem Erkenntnisstreben erinnert Byrons Kain an Faust. Kain erscheint als ein Zerrissener, der einerseits das Leben verachtet, andererseits Frau und Kinder liebt und insofern dem Leben doch verhaftet ist. Er ist Pessimist, religiöser Zweifler und Skeptiker, der sich gegen Gott auflehnt, weil er ihn nicht als gerecht und gütig zu erkennen vermag. Deshalb entzieht er sich auch jeglichem religiösen Ritus, schließt sich teilweise aus der menschlichen Gemeinschaft aus und wird zu einem „Nonkonformisten“. |61|Diese innere Verfassung Kains erklärt auch das Motiv für seinen Brudermord. Er handelt nicht aus Neid oder Eifersucht auf Abel, weil Gott dessen Opfer angenommen hat, sondern weil Abel ihn zur Gottesverehrung drängt, der er sich verweigern will. Abel hindert ihn sozusagen an seiner Gottesverachtung. Imgrunde gilt Kains Schlag nicht dem Bruder, sondern Gott.

Die Gestalt LucifersByron führt die Gestalt Lucifers in die Brudermorderzählung ein; er verkörpert den Widerstand gegen Gott, den auch Kain übt. Mit ihm entfaltet Byron die biblische Warnung Gottes an Kain (Gen 4,7), dass die Sünde vor der Tür lauere und nach ihm verlange. Kains Entrückung durch Lucifer und sein Gespräch mit ihm vermögen seinen Erkenntnisdrang nicht zu befriedigen, bestärken ihn aber in seiner auflehnenden Haltung Gott gegenüber. Kain ist einerseits vom Tod fasziniert, andererseits erfährt er spätestens durch seinen Mord auch dessen Schrecken. Es ist bittere Ironie, wenn nicht Tragik, dass Kain, der selbst eine Todessehnsucht empfindet, seinen Bruder unabsichtlich tötet und damit den Tod in die Welt bringt. Mit seinem Hang zum Hinterfragen und Aufbegehren, der Relativierung von Werten, seinem Streben nach intellektueller Befriedigung und Freiheit, seinem individuellen Selbstbewusstsein repräsentiert Kain einen Freigeist romantischer Prägung. Kain selbst als typischer „Byronic hero“, aber auch Lucifer drücken Gedanken aus, die Byron und gewiss auch manche seiner Zeitgenossen umtrieben.

1.1.3. Die Sintflut

Biblisch

Gen 6,5–9,17. Den Übergang von der Geschichte vom Brudermord und der nächsten längeren Erzählung, der Sintflutgeschichte, schaffen notizenartige Bemerkungen in Gen 4,17–26 sowie ein Anfänge der KulturStammbaum in Gen 5. Gen 4,17–24 benennen in Form einer Abstammungsreihe Nachkommen Kains, in deren sechster Generation sich menschliche Kultur auszudifferenzieren beginnt. Kain selbst hatte eine Stadt erbaut; unter seinen Kindeskindern entstehen neue Berufe: Viehzüchter mit einer nomadischen Lebensweise, Musiker („Flöten- und Zitherspieler“) und Handwerker („Schmiede“). Kains Nachfahre Lamech vertritt den Grundsatz der Blutrache (4,23–24), eine Form der Selbstjustiz, die zur Unverhältnismäßigkeit neigt. Adam und Eva bekommen |62|noch einen weiteren Sohn, Set, der wiederum einen Sohn zeugt (4,25–26a).

GenerationenfolgeDer Stammbaum in Gen 5 knüpft deutlich an die erste Schöpfungserzählung an[93], weshalb man diese Genealogie ebenfalls priesterlichen Autoren zuschreibt. In einem festen Sprachmuster wird die Abfolge von zehn Generationen von Adam bis Noah vorgestellt. Dabei sind die hohen Lebensalter auffällig, die diese Männer erreichen – wenngleich die Zahlen kontinuierlich abnehmen. Für dies Phänomen hat man bisher keine befriedigende Erklärung gefunden, allerdings vermutet, dass die abnehmenden Lebensalter auf eine Verringerung der Lebenskraft oder einen größer werdenden Abstand zu Gott hindeuten sollen. Gen 5 zeigt, dass ein längerer Zeitraum zwischen Menschenschöpfung und Sintflut vergeht. Man könnte die Genealogie als die einfachste Form von Geschichtsschreibung betrachten. Unter den genannten Männern des Stammbaumes beachtet die Bibelauslegung Henoch besonders, weil er nicht stirbt, sondern im Alter von 365 Jahren von Gott entrückt wird (5,24). Henochs Sohn Methuschelach erreicht das höchste Alter und wurde – im Deutschen in der korrumpierten Form „Methusalem“ – sprichwörtlich für einen hoch betagten Menschen.

HalbgötterWissenschaftlicher Bibelauslegung bereitet Gen 6,1–4 Kopfzerbrechen. 6,1–2.4 erzählen von Verbindungen zwischen Gottessöhnen und Menschenfrauen, aus denen Kinder hervorgehen, „die Riesen auf Erden. Das sind die Helden der Vorzeit, die hochberühmten.“ (6,4). Die Gottessöhne gehören in die Sphäre Gottes – nicht zwingend als leibliche Abkömmlinge Gottes; sie sind aber übermenschliche Wesen, die die schönen Menschentöchter begehren, so dass aus der Vereinigung mit diesen Halbgötter hervorgehen, wie man sie aus der griechischen Mythologie etwa in Gestalt eines Herakles kennt. Diese Vorstellung ist schwerlich mit dem im AT herrschenden Gottesbild vereinbar, weshalb man bei dieser Stelle an ein altes, aber wohl erst spät eingefügtes, polytheistisch-mythologisches Relikt gedacht hat. 6,3 lässt Gott darauf reagieren, indem er die Lebenszeit des Menschen auf 120 Jahre begrenzt; tatsächlich wird niemand mehr jenseits der Urgeschichte ein höheres Alter erreichen. Die Stellung des Abschnittes unmittelbar vor der Sintflutgeschichte hat den Eindruck entstehen lassen, als seien diese „Engelehen“ ein Indiz besonderer Verwerflichkeit und damit eine Begründung für die Sintflut.

|63|Die Erzählung von der Flut und der Arche NoahIn der biblischen Erzählung von der großen[94] Flut ist ein umfangreicherer priesterlicher Erzählfaden mit nicht-priesterlichen Elementen verknüpft, was eine Reihe von Ungereimtheiten erklärt[95]. Die verschiedenen Hände machen sich in der Einleitung und am Ende am deutlichsten bemerkbar, das Geschehen verläuft jedoch einhellig: Wegen der Bosheit der Menschen will Gott sie vernichten – mit einer Ausnahme, dem frommen Noah und seiner Familie. Diesem Auserwählten kündigt Gott die Flut an und erteilt ihm Anweisungen für den Bau eines hölzernen Kastens („Arche“), in der er außer seiner Frau, den drei Söhnen und Schwiegertöchtern Tiere jeder Art in solcher Zahl mitnehmen soll, dass sie sich nach der Flut wieder vermehren können, so dass der Bestand der Tierarten gesichert ist. Noah gehorcht. Als heftige Regenfälle und überquellende Wasser aus Brunnen und Gewässern die Erde überschwemmen, bis auch die Berge davon bedeckt sind, schwimmen Noah und seine Familie sowie die Tiere sicher in der Arche. Als nach einiger Zeit die Flut aufhört und der Wasserspiegel sinkt, bleibt die Arche am Berg Ararat hängen. Noah überprüft, ob es wieder frei liegendes Land gibt, indem er erst einen Raben, dann dreimal eine Taube fliegen lässt. Die zweite Taube bringt einen Ölzweig im Schnabel zurück, die dritte kehrt nicht wieder zurück – ein sicheres Zeichen, dass es wieder trockenen Lebensraum gibt, so dass Noah und die Seinen die Arche verlassen können.

Gottes Vernichtungsbeschluss und neuer SegenDie Bosheit der Menschheit motiviert Gottes Vernichtungsbeschluss. Die nichtpriesterliche Erläuterung (6,5–8) besagt, „dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar.“ (6,5); deshalb bereut Gott, Menschen geschaffen zu haben (6,6). Lediglich Noah soll nicht der Vernichtung anheim fallen. Der priesterliche Verfasser (6,9–12) stellt zuerst den untadeligen Noah vor (6,9–10), bevor er konstatiert: „Aber die Erde war verderbt vor Gottes Augen und voller Frevel.“ (6,11). Der nichtpriesterliche Schluss |64|lässt Noah in 8,20–22 ein Opfer aus reinen Tieren darbringen[96]. Gott reagiert auf dieses Opfer mit dem Entschluss: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ (8,21). Mit diesem Rückbezug auf die Begründung der Flut scheint Gott sich mit dem Wesen des Menschen abzufinden, und trotzdem gibt er eine Bestandsgarantie für den Jahres- und Vegetationszyklus: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (8,22). In der priesterlichen Erzählung hingegen schließt Gott einen Bund mit Noah (9,1–17). Er erneuert den Schöpfungssegen („Seid fruchtbar und mehret euch“; 9,1.7) und legt fest, dass der Mensch nun auch Fleisch essen darf, vorausgesetzt, dass er das Blut nicht mit verzehrt (9,3–4). Außerdem stellt er das Vergießen von Menschenblut unter Todesstrafe aufgrund der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen (9,5). Mit dem Bund gibt Gott auch hier eine Bestandsgarantie und setzt den Regenbogen als Zeichen dieses Bundes in die Wolken (9,12–17).

 

Sintflut als WeltuntergangDie biblische Sintflutgeschichte berührt sich mit mythischen Erzählungen einer vernichtenden Flut, die in vielen Kulturen vorkommt, nicht zuletzt in der Umwelt Israels[97]. Sie drückt die allgemeinmenschliche Furcht vor einer Gefährdung der Lebenswelt durch kosmische Phänomene aus und mag zugleich die Erinnerung an derartige, regional begrenzte Katastrophen bewahren. Wasser wird nicht nur als Leben spendendes Element verstanden, sondern kann zugleich als Chaosmacht Leben bedrohen und zerstören. Die Erzählung beschwört insofern ein Weltuntergangsszenarium herauf. Markante Einzelzüge in Gen 6–9 sind die Gestalt Noahs als eines auserwählten Gerechten, der aufgrund seiner Rechtschaffenheit vom Vernichtungsgericht bewahrt bleibt, die Taube als Sinnbild des heilvollen Neuanfangs, des Friedens sowie der Regenbogen als Symbol des Brückenschlags zwischen Himmel und Erde und der Garantie für den Bestand der Schöpfung.

Literarisch

|65|▪ Alfred de Vigny – Die Sintflut. Der französische Romantiker Alfred de Vigny (1797–1863) bezieht in sein 332 Verse umfassendes Gedicht Le Déluge[98], („Die Sintflut“, 1823) die Engelehen aus Gen 6,1–4 ein. Als Motto stellt er der als „mystère“ („Geheimnis, Rätsel“) untertitelten dreiteiligen Dichtung ein an Gen 18,23 angelehntes Wort voran: „Sollte es gesagt sein, dass du den Gerechten mit dem Gottlosen sterben lässt?“[99].

Aus Liebe zueinander verzichten ein Jüngling und ein Mädchen auf ihre RettungDer erste Teil (V. 1–164) setzt mit einer Schilderung der Schöpfung, der Natur in ihrer Schönheit und Harmonie ein (1–20a), mit der die Bosheit des Menschen kontrastiert (20b). Die Menschheit erscheint reif zum Untergang, sie hat bis zum Überdruss alles erprobt, „Der Tod herrschte schon in den gefrorenen Seelen“ (30). Zum Unglück der Menschen tragen zudem höhere Wesen bei, denn manche Menschenfrau nährt das Kind eines Engels an ihrer Brust (vgl. Gen 6,1–2.4). Es gibt eine Ausnahme von der allgemeinen Verwerflichkeit: einen Hirten und eine Jungfrau, die die Ursprünglichkeit, Einfachheit und Schönheit bewahrt haben und einander in Liebe zugetan sind. Die beiden erklimmen gemeinsam den Berg Ararat, den höchsten Gipfel, fern von den Siedlungen der Menschen. Der junge Mann heißt Emmanuel wie sein Vater, der gleichnamige Engel, das Mädchen ist Sara. Aneinander geschmiegt betrachten die jungen Leute den Sonnenaufgang über der Welt; noch einmal bewundert der Hirte die Schönheit der Schöpfung, über der erste Vorboten des zerstörerischen Unwetters aufziehen, und nimmt Abschied von der vertrauten pastoralen Landschaftsidylle[100]. Weil der junge Hirte aus den Gestirnen die Zukunft lesen kann, weiß er, dass eine Sintflut die Erde vernichten wird. Sein Vater wird ihn retten, wenn er allein auf den Ararat steigt und dort unablässig betet; doch hat der Jüngling eine Frau mitgebracht. Auch Sara hätte eine Möglichkeit der Rettung: Noahs Sohn Japhet wollte sie heiraten und mit in die Arche nehmen, doch sie dachte nur an Emmanuel. Das gemeinsame Gebet des Paares beschließt den ersten Teil des Gedichts.

Der zweite Abschnitt (V. 165–290) schildert die Flut und ihre verheerende Wirkung auf Natur, Tiere und Menschen. Letztere |66|umkämpfen Reste des Festlandes, werden durch Hunger zu Kannibalen. Das Beispiel von Pharaos buchstäblichem Untergang illustriert Sturz und Tod der Mächtigen. Zweimal wird kurz darauf hingewiesen, dass der Engel auf dem Ararat ausbleibt (223; 279).

Am Ende der Flut sterben beideIm knappen dritten Teil (V. 291–332) ist alles vom Wasser bedeckt, das Unwetter zieht ab und die Sonne bricht durch. Nur das junge Paar auf dem Ararat lebt noch, wenngleich völlig durchnässt. Als Sara die Sonnenstrahlen bemerkt, meint sie, dass sie beide Gnade gefunden haben, zumal sie die Taube mit dem Zweig im Schnabel gesehen hat. Doch Emmanuel glaubt nicht daran – die Taube kommt nicht zu ihnen. Während die Wasser die beiden erfassen, ruft jeder der beiden selbstlos den Engel zu Hilfe, dass dieser den anderen retten möge. Der Jüngling hält Sara über Wasser, bis ihm die Kräfte versagen. Als die beiden ertrunken sind, sieht man nur noch Himmel und Meer. Und es leuchtet der Regenbogen, „da alles vollbracht war“ („tout étant accompli“, V. 332).

Frage nach Gottes GerechtigkeitAbgesehen vom Kontrastieren der geordneten Schöpfung und dem Chaos der Flut thematisiert de Vigny die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Das Paar auf dem Ararat gehört nicht zu den Gottlosen, und doch sterben beide. Beide hatten die Chance auf Rettung, Emmanuel durch seinen Engel-Vater, Sara durch Japhet und die Arche. Wegen ihrer Liebe zueinander verlieren sie diese Möglichkeiten. Gott erscheint als gleichgültig und gefühllos. Von ihm, den die beiden jungen Leute betend anrufen, sagt der Engel Emmanuel zu seinem Sohn:

Der Tod der Unschuld ist für den Menschen ein Rätsel […]

Das Mitleid des Sterblichen ist nicht das der Himmel.

Gott schließt keinen Bund mit dem Menschengeschlecht:

Wer ohne Liebe schuf, wird ohne Hass sterben lassen. (146–150)[101].

Durch einige Details, die auf das Neue Testament anspielen, schafft der Dichter bittere Ironie: Der Engel und sein halb göttlicher Sohn heißen „Emmanuel“, „Gott mit uns“, eine Bezeichnung, die alttestamentlich mit der Erwartung des Heilsbringers verbunden und neutestamentlich auf Jesus bezogen wird[102]. Doch vermögen beide in diesem Gedicht keine Rettung zu bringen. Der letzte Halbvers („da alles vollbracht war“) evoziert Jesu letztes Wort am Kreuz im Johannesevangelium (Joh 19,30). Aber diese |67|Wendung vermittelt hier ebenso wenig den Eindruck, dass sich Heil anbahnt, wie der leuchtende Regenbogen. Denn es überwiegt der Aspekt, dass eben zwei Unschuldige der Flut zum Opfer gefallen sind[103]. Dadurch ist das Gottesbild negativ getönt trotz aller Verweise auf die Schönheit der Schöpfung.

Sintflutmotiv und Erster WeltkriegEin Schwerpunkt der Rezeption der eigentlichen Sintfluterzählung bildet sich im Zusammenhang mit den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges. Stefan Zweig (1881–1942) veröffentlicht im Dezember 1916, also mitten im Krieg, Die Legende der dritten Taube[104], die als mythisches Geschöpf die Zeiten überdauert bis hin zum Weltkrieg, der sie aufschreckt. Er gleicht der universalen Vernichtung durch die Sintflut in der Urzeit. Ernst Barlachs (1870–1938) 1923 geschriebenes fünfteiliges Drama Die Sündflut[105] illustriert vor allem die Bosheit der Menschen und ihre Zweifel an Gott. Er verarbeitet dabei ebenso die Eindrücke des Ersten Weltkrieges wie Hemingway.

▪ Ernest Hemingway – In einem andern Land. Hemingway (1899–1961) lässt in seinem 1929 veröffentlichten InhaltsabrissRoman[106] den Protagonisten und Ich-Erzähler Frederic Henry seine persönlichen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg in Norditalien schildern. Der amerikanische Architekturstudent dient freiwillig als Sanitätsoffizier in der italienischen Armee und ist für Krankentransporte zuständig. Als er schwer verwundet wird, pflegt ihn die britische Krankenschwester Catherine Barkley, und aus der zuvor lockeren Bekanntschaft entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Zurück an der Front gerät Henry mit seiner Wagenkolonne in eine Rückzugsbewegung. Er verliert die Orientierung und büßt Fahrzeuge und Männer ein. Als er allein weiter flieht wird er nachts an einer Brücke von italienischer Feldpolizei aufgegriffen und soll als vermeintlicher Deserteur erschossen werden. |68|Durch einen Sprung in den Fluss rettet er sein Leben und schlägt sich ins Lazarett zu Catherine durch. Mit ihr, die indessen ein Kind von ihm erwartet, lebt er eine Weile unerkannt in Stresa am Lago Maggiore. Rechtzeitig durch einen Barkeeper gewarnt, entgeht er seiner Verhaftung, indem er nachts in einem Ruderboot mit Catherine in die Schweiz flieht. Sie verbringen in den winterlichen Bergen einige glückliche Monate, bis Catherine nach der schwierigen Entbindung von einem toten Jungen stirbt.

Regen als Begleiterscheinung und Indiz von SchicksalsschlägenHemingway verarbeitete in diesem Werk eigene Kriegserfahrungen und vermittelt Eindrücke von der Front und dem Leben an den von Kriegshandlungen unberührten Orten. Die zahlreichen Gespräche, die Frederic Henry mit Kameraden, Krankenschwestern, Ortsansässigen und in Italien weilenden Fremden führt, vermitteln Einblicke in Stimmung und Atmosphäre dieser Zeit. Zugleich lassen sie den Protagonisten über den Krieg, das Leben, Gott und die Welt nachdenken. Einen wichtigen Bestandteil der Darstellung bildet das Erwähnen der jeweils herrschenden Wetterverhältnisse, das man zunächst für beiläufig halten mag, dessen inhaltliche Bedeutung jedoch zunehmend erkennbar wird. Denn es wird offensichtlich, dass Hemingway alle negativen Erfahrungen und Schicksalsschläge von heftigen Regenfällen und Unwetter begleitet sein lässt. Dies gilt insbesondere für den letzten Einsatz Henrys, bei dem er seine Fahrzeuge verliert und alle Kameraden außer ihm selbst sterben (Kap. 27–28), ebenso für seine nächtliche Festnahme als vermeintlicher Deserteur (Kap. 30). Der Hinweis des Barkeepers auf die drohende Verhaftung findet bei stürmischem Regenwetter statt (Kap. 36); auch während der Überfahrt in die Schweiz stürmt und regnet es heftig, so dass nicht nur die Orientierung erschwert, sondern auch das Boot gefährdet wird (Kap. 37). Als Catherine im Sterben liegt, regnet es, und als sie gestorben ist, schließt der Roman mit dem lapidaren Satz: „Nach einer Weile ging ich hinaus und verließ das Krankenhaus und ging im Regen ins Hotel zurück.“ (Kap. 41, S. 224). Im Zentrum des Romans erfolgt zudem eine Vorausdeutung auf Catherines Tod „im Regen“, da sie in einer Regennacht ihrem Partner gesteht, dass sie Angst vor dem Regen habe: „Ich hab Angst davor, weil ich mich manchmal tot im Regen liegen sehe.“ (Kap. 19, S. 88). Der Regen nimmt überdies im Verlauf des Romans zu. Als Henry erfahren hat, dass das Kind tot zur Welt gekommen ist, denkt er:

|69|Einmal, im Lager, legte ich einen Balken ins Feuer, der voller Ameisen war. Als er zu brennen begann, schwärmten die Ameisen aus und liefen zuerst nach der Mitte, wo das Feuer war; dann wandten sie sich zurück und rannten dem Ende zu. Als genug am Ende waren, fielen sie ab und ins Feuer. Manche kamen raus mit verbrannten abgeplatteten Körpern und liefen los und wußten nicht, wohin sie liefen. Aber die meisten liefen ins Feuer und dann zurück zu den Enden und schwärmten auf dem kühlen Ende und fielen schließlich hinunter ins Feuer. Ich erinnere mich, daß ich damals dachte, daß es das Ende der Welt sei und eine hervorragende Gelegenheit, den Messias zu spielen und den Balken aus dem Feuer zu heben und ihn dorthin zu werfen, wo die Ameisen den Boden erreichen konnten. Aber ich tat nichts dergleichen, sondern goß eine Blechkanne mit Wasser auf den Balken, um die Tasse leer zu haben, um Whisky hinein zu tun, bevor ich Wasser dazu goß. Ich glaube, daß die Tasse Wasser auf dem brennenden Balken nun die Ameisen dämpfte. (Kap. 41, S. 221).

Pessimistisches GottesbildIn dieser gleichnishaften Erinnerung an eine für ihn unerhebliche Begebenheit fühlt sich der Erzähler in der Position Gottes gegenüber der Menschheit. Er beobachtet eine Katastrophe, die er selbst unabsichtlich und unachtsam herbeigeführt hat. Doch unternimmt er nichts zur Rettung der Geschöpfe, im Gegenteil, er verschärft ihr Leiden noch. Auf diese Weise drückt der Protagonist – und mit ihm vermutlich der Autor – sein pessimistisches Gottesbild aus. Es bestätigt sich, als er wenig später im Krankenhausgang betet, dass Catherine nicht sterben möge („Oh, Gott, bitte lass sie nicht sterben.“, S. 223, wiederholt er immer wieder), was aber kurz darauf doch geschieht.

 

Regen begleitet sowohl kollektive Katastrophen des Kriegsverlaufes als auch besonders individuelle Schicksalsschläge. Hemingway bedient sich des Unwetters, das in der Sintflutgeschichte das Instrument zur Vernichtung der Menschheit bildet, um unausgesprochen assoziativ eine religiöse Dimension einzubeziehen: Der Krieg und seine Auswirkungen erscheinen als ein Weltuntergang, den Gott duldet, ohne einzugreifen. Ebenso wenig kümmert ihn das individuelle Geschick, denn er lässt nicht nur das Kind sterben, sondern nimmt dem Protagonisten auch die geliebte Frau.

Schriftsteller des 20. Jahrhunderts greifen somit die Sintfluterzählung nicht wegen des vorbildlichen Gerechten Noah auf, sondern wegen der universalen Dimension der vernichtenden Katastrophe, die auf menschliche Verfehlungen zurückzuführen ist, ein Muster, das sie in den Ereignissen des Ersten Weltkrieges wiedererkennen. Die Verweise auf die biblische Sintflut helfen, |70|eine Weltuntergangsstimmung zu schaffen. Die Verwerflichkeit des Menschen stellt zweifellos eine Ursache der Katastrophe dar, Gottes Rolle steht hingegen zur Diskussion.

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