Die Bibel in der Weltliteratur

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Aus mehreren Stellen geht explizit hervor, dass Gott den Menschen als unsterbliches Wesen geschaffen hat, erst durch das Vergehen kommt der Tod – bei Milton buchstäblich als Personifikation – in die Welt. Vor dem Sündenfall haben Adam und Eva etwas Göttliches an sich. Unmissverständlich deutlich ist auch die Abstufung zwischen Mann und Frau, die der traditionellen, auch im 17. Jahrhundert selbstverständlich geltenden Sicht entspricht: Adam ist Eva überlegen, er verfügt über mehr Einsicht und Klugheit, so dass Eva der Versuchung leichter erliegt. Milton lässt Adam aus Solidarität mit der Frau handeln, als er den Apfel isst. Die Schwachstelle des Mannes ist die Liebe zur Frau, die er in dieser Situation über seine Liebe zu Gott – und das heißt über seinen Gehorsam Gott gegenüber – stellt. Im Paradies gehört zu der ehelichen Gemeinschaft Adams und Evas der Genuss von Sexualität, die auch auf Fortpflanzung angelegt ist. Nach dem Sündenfall erhält diese die Qualität von Begierde und Lüsternheit. Dies ist ein Indiz für die durch den Ungehorsam zerstörte Harmonie, die sich im Miteinander Adams und Evas und ihrem Leben in Einklang mit der Natur zeigte.

Meisterhaft löst Milton offene Fragen, die mit der Gestalt der Schlange zusammenhängen. Das Tier kann sprechen, weil Satan sich seiner als Sprachrohr bemächtigt hat. Zugleich bedient Satan sich in Schlangengestalt einer Lüge, indem er behauptet, die Sprachfähigkeit dem Genuss der verbotenen Frucht zu verdanken. Damit gewinnt er überzeugende Argumente, um Eva verführen zu können. Schließlich trifft die Strafe nicht das unschuldige Tier, sondern die dämonische Macht, die ihr vorübergehend innewohnte und die nun in der Hölle schlangengestaltig wird. Das Böse dringt von außen in die perfekt geschaffene Welt ein, und es setzt sich durch, weil der Mensch der Versuchung erliegt: Eva den verführerischen Worten Satans, Adam der abgöttischen Liebe zur Frau.

Miltons SatanMiltons Satan ist die am differenziertesten gezeichnete Gestalt des Epos, an der der Dichter geradezu eine Psychologie des Bösen |46|illustriert. Satan ist ein Zerrissener, der Schönheit und Vollkommenheit immer noch zu schätzen weiß, aber von Ehrgeiz, Neid, Macht- und Rachegelüsten angetrieben auf deren Zerstörung bedacht ist. Den Wunsch, Schaden anzurichten, stellt Satan über alle persönlichen Vorteile, die er erringen könnte. In seinen Reden und Selbstgesprächen zeigen sich die Facetten der Persönlichkeit Satans, die auf spätere Leser eine eigene Faszination ausübte und ihn – gegen die Absicht Miltons – zum heimlichen Helden des Epos werden ließen.

▪ Mary Wollstonecraft Shelley – Frankenstein oder der moderne Prometheus. Der Schauerroman aus der Feder von Mary Shelley (1797–1851) erschien erstmals 1818 anonym. 1831 wurde eine überarbeitete Neufassung gedruckt, von Mary Shelley mit einer Einleitung versehen, in der sie den Anlass zur Entstehung des Romans schildert: Mary und Percy Shelley verlebten gemeinsam mit Lord Byron und Dr. Polidori einen verregneten Sommer am Genfer See. Sie vertrieben sich die Zeit zunächst mit der Lektüre von Schauergeschichten, bis Lord Byron anregte, jeder von ihnen solle selbst eine verfassen. Mary Shelley gewann die Grundidee für ihren Roman, als sie ein Gespräch zwischen Percy Shelley und Lord Byron über Wesen und Ursprung des Lebens verfolgte.

Der Name Prometheus im Alternativtitel verweist auf eine antike mythologische Tradition, die Prometheus die Erschaffung des Menschenkörpers aus Erde zuschreibt, den er mit Feuer belebt[70]. Außerdem stehen als Motto Verse aus Miltons Das verlorene Paradies voran:

Bat ich dich etwa, Schöpfer, mich aus Ton

Zum Menschen zu gestalten, aus dem Dunkel

Mich zu erheben? (10,743–745)[71]

Vor dem Hintergrund abendländischen geistesgeschichtlichen Erbes problematisiert der Roman die Forschungsbegeisterung der Zeit, die durch den Beginn der modernen Naturwissenschaften gekennzeichnet ist. So meinte man etwa, die neu entdeckte Elektrizität mit dem Lebensfunken in Verbindung bringen zu können.

|47|Vorderer Teil der RahmenerzählungIm äußeren Rahmen von Frankenstein tritt der Nordpolforscher Robert Walton als Ich-Erzähler auf. In vier Briefen an seine Schwester in England schildert er Vorbereitungen und Anfang einer Schiffsexpedition ins Eismeer. Von wissenschaftlichem Enthusiasmus getrieben sucht er eine Passage für die Seefahrt zum Nord-Pazifik und will das Geheimnis der Magnetkraft des Pols ergründen. Im vierten Brief berichtet Walton, dass sein Schiff im Packeis eingefroren ist. Die Besatzung beobachtet einen Hundeschlitten, den ein großes menschengestaltiges Wesen lenkt. Bald darauf greifen sie den halb erfrorenen Victor Frankenstein auf, der an Bord des Schiffes gepflegt wird und Walton seine Geschichte erzählt, als er dessen Forscherehrgeiz erkennt. Sein Beispiel soll Walton von seinem Wissenschaftswahn kurieren. Walton zeichnet diese Erzählung Frankensteins auf.

Frankensteins JugendFrankenstein stammt aus einer vornehmen Genfer Familie und verbringt eine glückliche Kindheit von seinen Eltern geliebt und umsorgt[72]. Schon früh verspürte er einen ausgeprägten Wissensdrang und begeisterte sich für Naturwissenschaft. Beim Studium in Ingolstadt spezialisiert er sich auf Physiologie und das Sezieren von Leichen, um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen.

Nach Tagen und Nächten gelang es mir, die Ursache von Fortpflanzung und Leben zu entdecken; ja mehr, es gelang mir, unbelebter Materie Leben einzuhauchen. (S. 68).

Als ich eine so erstaunliche Macht in meine Hand gelegt sah, zögerte ich lange, wie ich sie gebrauchen sollte. Obwohl ich die Fähigkeit besaß, Leben einzuhauchen, stellte mich doch die Anfertigung eines Körpers mit seinem komplexen System von Fasern, Muskeln und Adern vor unvorstellbare Schwierigkeiten und Anstrengungen. Ich war zuerst unschlüssig, ob ich mich an die Erschaffung eines mir ähnlichen oder eines einfacher strukturierten Wesens wagen sollte. Aber meine Phantasie war von meinem ersten Erfolg so beflügelt, daß ich keinen Augenblick an meiner Fähigkeit zweifelte, einem so komplexen und |48|wunderbaren Wesen wie dem Menschen Leben einhauchen zu können. (S. 69).

Diese Überlegungen spielen deutlich auf beide biblische Darstellungen der Erschaffung des Menschen an.

Frankenstein als SchöpferNach fast zweijähriger unermüdlicher Arbeit erweckt Frankenstein sein übergroßes Geschöpf zum Leben. „Eine wieder zum Leben erweckte Mumie hätte nicht abscheulicher aussehen können als das Monster.“ (S. 75). Wegen der Aufregung über seine Errungenschaft befällt Frankenstein ein Nervenfieber, das ihn mehrere Wochen ans Bett fesselt. Indessen flieht das Monster aus seinem Laboratorium. Als Frankenstein nach seiner Genesung aus Ingolstadt in die Schweiz zurückkehrt, ist sein kleiner Bruder auf mysteriöse Weise ermordet worden. Ein Hausmädchen wird der Tat bezichtigt und zum Tode verurteilt – unschuldig, wie Frankenstein weiß; denn sein Geschöpf hat das Kind getötet[73]. In seiner Verzweiflung unternimmt er einen Streifzug ins Gebirge und begegnet dort dem Monster, das er am liebsten „zu Staub zertreten“ (S. 127) würde, aber vergeblich attackiert. Das Geschöpf bittet ihn um Gehör:

„Ich bin dein Geschöpf, und ich will mich meinem angestammten Herrn und König demütig und widerspruchslos fügen, wenn auch du tun willst, was du mir schuldig bist. […] Vergiß nicht, daß ich dein Geschöpf bin; ich müßte dein Adam sein, aber statt dessen bin ich der gefallene Engel, den du grundlos aus dem Paradies verstößt. Überall sehe ich Glückseligkeit, von der ich allein unwiderruflich ausgeschlossen bin. Ich war friedfertig und gut; das Unglück hat mich zum Teufel gemacht. Mach mich glücklich, dann bin ich auch wieder tugendhaft.“ (S. 128–129).

Das Geschöpf bittet ihn um Mitleid und darum, wenigstens seine Geschichte anzuhören. Dieser Bitte gibt Frankenstein nach[74].

Das Geschöpf erzählt von seinen ErfahrungenIm Zentrum des Romans steht dieser Lebensbericht des Geschöpfes (Kap. 11–16), der wie ein Abriss menschlicher Zivilisationsgeschichte und ein kurzer Entwicklungsroman zugleich anmutet. Es lernt, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen (Nahrung, Wärme durch Feuer, Unterschlupf), und erfährt, dass die Menschen Angst vor ihm haben und es vertreiben. Es findet eine |49|Behausung in einem Verschlag bei einer Hütte, deren Bewohner es unbemerkt beobachtet und belauscht. So lernt es menschliche Sprache und Lebensweise kennen. Das Geschöpf Frankensteins entdeckt dabei, dass es selbst weder Verwandte[75] noch Freunde besitzt.

Das Wesen findet einen Koffer mit Kleidern und drei Büchern, aus denen es etwas über menschliches Empfinden (Goethes Die Leiden des jungen Werthers) und über politische Tugenden (Plutarch, Leben) lernt. Am meisten beeindruckt es Miltons Verlorenes ParadiesMiltons Verlorenes Paradies:

Wie Adam verband mich anscheinend nichts mit irgendeinem anderen Lebewesen; aber in jeder anderen Hinsicht unterschied sich seine Lage sehr von der meinen. Er war als vollkommenes Geschöpf, glücklich und gesegnet, beschützt von der ganz besonderen Fürsorge seines Schöpfers, aus der Hand Gottes hervorgegangen; er durfte mit Wesen einer höheren Ordnung sprechen und von ihnen Kenntnisse erwerben, aber ich war elend, hilflos und allein. […] „Verhaßter Tag, an dem ich zum Leben erweckt wurde“, rief ich in meiner Verzweiflung aus. „Verfluchter Schöpfer! Warum hast du ein so abscheuliches Monster geschaffen, daß sogar du selbst dich mit Widerwillen davon abwandtest! Gott machte in seiner Barmherzigkeit den Menschen schön und anziehend nach seinem eigenen Bilde, aber meine Gestalt ist ein scheußliches Abbild von dir, und gerade durch die Ähnlichkeit noch widerwärtiger. Satan hatte seine Gefährten, seine Mitteufel, die ihn bewundern und ermutigen konnten, aber ich bin allein und verabscheut.“ (S. 166–167).

 

So nimmt das Geschöpf die biblischen Schöpfungserzählungen dichterisch vermittelt wahr. Als es versucht, mit den Hüttenbewohnern Kontakt aufzunehmen, reagieren auch diese mit heftiger Abwehr und Zurückweisung. Sie geben diesen Wohnsitz auf, den das Monster in Brand steckt, bevor es sich auf die Reise zu Frankenstein begibt. Beständige Zurückweisung und Vereinsamung haben das gutmütige Wesen bösartig gemacht. Als es in der Nähe von Genf zufällig auf Frankensteins Bruder stößt, tötet es ihn und legt Fährten, die eine Unschuldige in Verdacht geraten lassen. „Ich bin böse, weil ich unglücklich bin.“ (S. 185). Deshalb verlangt es von Frankenstein:Das Geschöpf erbittet eine Partnerin

|50|Du mußt eine Frau für mich schaffen, die mir mit der für meine Existenz nötigen Sympathie begegnet. Nur du bist dazu imstande, und ich verlange es von dir als ein Recht, das du mir nicht verweigern darfst. (S. 185).

Aus einer gewissen Rührung verspricht Frankenstein, die Bitte zu erfüllen unter der Bedingung, dass die beiden in der Einöde fern den Menschen leben werden. Frankenstein zieht sich nach England zurück und macht sich widerwillig an die Arbeit. Er erwägt die Konsequenzen seines zweiten Schöpfungsaktes und zerstört das weibliche Geschöpf kurz vor der Vollendung, vor allem weil er befürchtet, das Monsterpaar könnte Nachkommen zeugen. Das Geschöpf ermordet aus Rache einen engen Freund Frankensteins und seine frisch angetraute Ehefrau. Seither verfolgt Frankenstein sein Geschöpf rund um den Erdball, um es zu töten. So ist er in die Polargegend und auf Waltons Schiff gelangt.

Schlussteil der RahmenerzählungWaltons Tagebuchnotizen bilden den Schlussrahmen. Nachdem Frankenstein am Fieber gestorben ist, überrascht Walton das Geschöpf, als es in der Kabine seinen Schöpfer betrauert. Damit ist für Walton die Existenz des Wesens beglaubigt, das ihm die jüngsten Ereignisse noch einmal kurz aus seiner Perspektive schildert[76], bevor es sich auf einer Eisscholle fort treiben lässt, um den sicheren Tod zu finden.

Die Verantwortung des WissenschaftlersMary Shelleys Schauerroman weist deutliche Bezüge auf die Schöpfungsdarstellungen in der Genesis auf. Frankenstein maßt sich in seinem Wissenschaftseifer an, zu werden wie Gott und ein Geschöpf ins Leben zu rufen. Aber anders als Gott macht er ein hässliches, abstoßendes Wesen. Er hat zudem unbedacht gehandelt. Dieses eigenmächtig erschaffene Wesen ist in der göttlichen Schöpfung nicht vorgesehen; deshalb findet es nirgends Gesellschaft und wird, weil es auf Gemeinschaft hin angelegt ist, unglücklich und verzweifelt. Die ständige Zurückweisung wandelt seine ursprüngliche Gutmütigkeit und Menschenfreundlichkeit[77] |51|in Bosheit. Erst als er die Rache seines Geschöpfes zu spüren bekommt und es seinen Anspruch auf eine Partnerin geltend macht, begreift Frankenstein die Tragweite seines wissenschaftlichen Experimentes. Mit seiner nur dem Forschertrieb folgenden Tat begründet Frankenstein sein eigenes Unglück, in das seine Familie und Freunde hineingezogen werden – bis hin zum Tod. Sein zu wollen wie Gott hat auch hier Tod zur Folge. Neben der angestrebten schauerlichen Wirkung ist Frankensteins Geschichte zunächst als eine Warnung für die Wissenschaftsbegeisterten der Zeit – wie sie der Polarforscher Walton repräsentiert – gedacht. Doch ist die Problematik zugleich aktuell: gefragt ist die Verantwortung des Menschen, die Frage, ob er alles tun darf, was er kann.

1.1.2. Brudermord

Biblisch

Gen 4,1–16 – Kain und Abel. Gen 3 stellte den Ungehorsam Gott gegenüber als das erste Vergehen des Menschen dar. Hier nun geht es um das schwerwiegendste Verbrechen am Mitmenschen, einen Mord. Dieser ist zugleich ein Vergehen Gott gegenüber, der das Leben will und es schützt. Die einleitenden Verse (4,1–2) stellen die zweite Generation des Menschengeschlechtes vor: Eva gebiert zuerst Kain, dann Abel[78]. Abel wird Hirte, Kain Bauer. Die beiden erwachsenen Brüder pflegen die Gottesverehrung, indem sie Erstlingsopfer darbringen, Kain von den Feldfrüchten, Abel von seinen neugeborenen Tieren. „Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ (4,4b-5a) – ein Grund dafür wird nicht genannt. Dies erregt Kains Grimm, und er „senkte finster seinen Blick“ (4,5b). Gott selbst spricht Kain darauf an und zeigt ihm die Alternativen auf (4,7): Kain tötet Abel„Wenn du gut handelst / recht tust[79], kannst du den Blick erheben.“ Andernfalls „lauert die Sünde vor der Tür“, über die Kain die Oberhand gewinnen soll. Gott |52|warnt, dass Kains Zorn sein Gottesverhältnis zu beschädigen droht. Doch Kain erschlägt seinen Bruder Abel (4,8).

Wie in der Sündenfallgeschichte gibt Gott auch hier dem Übeltäter durch eine Frage („Wo ist dein Bruder Abel?“, 4,9a) die Gelegenheit, sein Vergehen einzugestehen. Doch Kain gibt sich trotzig unwissend: „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (4,9b). Gottes Gespräch mit dem Mörder KainGott allerdings hält ihm vor: „Was hast du getan?“ (4,10a). Gott kann Kains Tat nicht übersehen, weil das Blut des erschlagenen Abel zu ihm schreit – im Blut ist nach alttestamentlicher Vorstellung das Leben (vgl. Lev 17,11). Das himmelschreiende Unrecht verlangt nach Ahndung. Gott vergilt allerdings nicht Gleiches mit Gleichem, er tötet Kain nicht. Dennoch hat die Strafe einen Bezug zur Tat: Der Erdboden, in dem das Blut des Erschlagenen versickert ist, wird dem Ackerbauern Kain den Ertrag verweigern. Gott entzieht dem Mörder damit den Segen, der notwendig ist, damit Feldfrüchte gedeihen; weil der Gegensatz zum Segen der Fluch ist, sagt Gott zu Kain: „Verflucht seist du auf der Erde“ (4,11). Kain wird nicht mehr sesshaft sein auf einem Stück Land, sondern rastlos umherziehen. Kain klagt vor Gott über diese Lebensbedingung, denn er fürchtet, rechtlos wie ein Vogelfreier dem Zugriff anderer ausgeliefert zu sein, die ihn töten könnten (4,13–14). Doch Gott versieht ihn mit einem Schutzzeichen, dem KainsmalKainsmal, angesichts dessen ihn niemand erschlagen werde (4,15): „So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.“ (4,16). Trotz seiner Missetat wagt es Kain, Gott anzusprechen und ihm sein Leid zu klagen. Gott erhört gnädig das Klagen des Missetäters und schützt sein Leben – auch das Leben des Mörders –, wenngleich er ihn nicht ungestraft lässt.

Literarisch

Die Erzählung skizziert den ersten Mord der Menschheitsgeschichte als Brudermord. Kain und Abel sind tatsächlich blutsverwandt und so in einem biologischen Sinne Brüder; zugleich steht das Bruderpaar jedoch auch sinnbildlich dafür, dass Menschen grundsätzlich in einem weiteren Sinne als Brüder anzusehen sind und daher jeder Mord ein Brudermord ist.

|53|▪ William Shakespeare – Hamlet. Die Geschichte von Kains Brudermord genoss einen hohen Bekanntheitsgrad im christlichen Abendland, so dass literarische Anspielungen darauf verstanden wurden, ohne dass die Brüder namentlich erwähnt werden mussten. Die in William Shakespeares (1564–1616) Tragödie Hamlet (um 1602) dargestellten Ereignisse sind durch den heimtückisch verübten Brudermord des Claudius an seinem Bruder Hamlet senior ausgelöst. Claudius hat dadurch die Krone Dänemarks ebenso in seinen Besitz gebracht wie die Königin Gertrude, seine Schwägerin, die er geheiratet hat. Der Geist des ermordeten Königs ist seinem Sohn Prinz Hamlet erschienen, hat ihn über den Mord aufgeklärt und ihn mit Rache beauftragt. Nachdem Hamlet eine Theateraufführung vor dem König inszeniert hat, die einen heimtückischen König Claudius bedenkt seinen BrudermordBrudermord auf die Bühne bringt, ist Claudius in seinem Gewissen getroffen. Er zieht sich zurück und beginnt einen Monolog mit den Worten:

O meine Tat ist faul, sie stinkt zum Himmel,

Sie trägt den ersten, ältesten der Flüche,

Mord eines Bruders. (3. Akt, 3. Szene/III 3, 36–38)[80]

Er setzt sich nun mit seiner Schuld vor Gott auseinander:

Wie? Wär’ diese Hand

Auch um und um in Bruderblut getaucht:

Gibt es nicht Regen g’nug im milden Himmel,

Sie weiß wie Schnee zu waschen? Wozu dient

Die Gnad’, als vor der Sünde Stirn zu treten?

Und hat Gebet nicht die zwiefache Kraft,

Dem Falle vorzubeugen und Verzeihung

Gefallnen auszuwirken? Gut, ich will

Emporschaun: mein Verbrechen ist geschehn. (3. Akt, 3. Szene/III 3, 43–51)

Neben Anspielungen auf die Brudermordgeschichte treten solche auf den Sündenfall[81]. König Claudius ringt darum, mit welchen |54|Worten er Gott um Gnade bitten soll, zumal sich der Ertrag seiner Untat – Krone und Königin – noch in seinem Besitz befinden und er insofern seine Mordtat nicht bereut. Schließlich kniet er zum Gebet nieder; doch, wie die Zuschauer am Ende der Szene erfahren, ist es Claudius nicht gelungen, um Vergebung zu beten.

BruderkonflikteDie Geschichte von Kain und Abel bietet allgemeiner betrachtet das Motiv des Bruderkonflikts, der in anderen Spielarten in der Genesis wieder begegnet: zwischen Esau und Jakob sowie zwischen Josef und seinen Brüdern[82]. Dies Motiv begegnet auch außerhalb der Bibel; man denke nur an die aus griechischen Sagen bekannten verfeindeten Brüder Atreus und Thyestes und die gegenseitige Vernichtung der Ödipus-Söhne Eteokles und Polyneikes, die in klassischen griechischen Tragödien dargestellt wurden, oder an Romulus’ Ermordung seines Zwillingsbruders Remus in der römischen Mythologie.

Die Gegensätzlichkeit der Brüder ist in der biblischen Geschichte in den verschiedenen Berufen von Kain und Abel angelegt; doch wurde die Verschiedenheit der Brüder in der Auslegung auch auf ihre Charaktere und Gesinnungen bezogen: Abel zeichne sich im Gegensatz zu Kain durch Frömmigkeit aus.

▪ Charles Baudelaire – Abel und Kain. In Baudelaires (1821–1867) Gedichtsammlung Les Fleurs du mal, „Blumen des Bösen“ (1857), findet sich ein Gedicht mit dem Aufwertung KainsTitel Abel und Kain[83] – schon die Umkehrung der sonst üblichen Reihenfolge der Brüder ist symptomatisch für Baudelaires Aussage. Formal ist das Gedicht einfach, aber streng aufgebaut: Im Wechsel redet der Sprecher in jeweils zwei Versen die Nachkommenschaft Abels bzw. Kains an („Stamm Abels“, „Stamm Kains“). Das Reimschema a b a b verbindet jeweils zwei an Abels Stamm gerichtete Verse mit zweien die Kains Nachfahren gelten. Inhaltlich stehen die Verspaare in einem scharfen Gegensatz zueinander. Die Verse 1–4 mögen dies illustrieren:

|55|Stamm Abels, schlafe, iß und trinke,

Daß Gottes Gunst du dir erwirbst.

Stamm Kains, in Staub und Kot versinke,

Bis daß im Elend du verdirbst. (S. 413)

Aus zwölf solchen Doppelversen besteht der erste Teil des Gedichts. Die Nachfahren der Brüder werden mit Imperativen angeredet, die positiv konnotierte Vorgänge und Bedingungen für Abels und negativ Konnotiertes für Kains Stamm umschreiben. Dies entspricht der traditionellen Betrachtungsweise der Brüder, die in Baudelaires Versen zu Exponenten und Repräsentanten ihrer Nachkommen werden. In scharfem Kontrast zueinander erscheinen zwei Menschentypen, dem einen geht es gut, dem anderen extrem schlecht. Da Kain und Abel als deren Stammväter fungieren, wird die Assoziation geweckt, dass das Ergehen der Nachfahren das Erbe des Charakters und Ergehens des jeweiligen Vorvaters sei. Der zweite Teil, der nur viermal zwei Verse umfasst, bietet formal – abgesehen von den beiden Schlussversen – statt der Imperative Aussagen, inhaltlich die überraschende Wendung:

O Abels Stamm, mit deinen Leichen

Düngst du das eigne Ackerfeld!

Stamm Kains, du wirst dein Ziel erreichen,

Denn du erkämpfst dir deine Welt;

Stamm Abels, niedriges Gewürme:

Dem Knüppel ward dein Schwert zum Spott!

Stamm Kains, die Himmel dir erstürme

Und auf die Erde schmettre Gott! (S. 415)

Kain wird sich durchsetzen – sogar gegen Gott; dem Himmelsstürmer gehört die Zukunft. Damit schwimmt Baudelaire wie auch sonst in dieser Gedichtsammlung gegen den Strom, indem er bestehende Werte verkehrt und dem Bösen, Satanischen den Vorzug gibt.

Insbesondere Kain hat die Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Was geht in ihm vor? Welche psychologische Entwicklung macht er durch? Wie sieht seine Motivation zu dem Mord aus? Diese Fragen sucht George Gordon Lord Byron in seinem Lesedrama Kain zu beantworten.

 

|56|Der Brudermord vor dem Hintergrund des Sündenfalls▪ George Gordon Lord Byron – Kain. Ein Mysterium. Der englische Romantiker Lord Byron (1788–1824) gibt seinem in Blankversen gedichteten, 1821 erschienenen Lesedrama die Bezeichnung „a mystery“. In einer Vorbemerkung[84] erläutert er, dass er damit an die Tradition des mittelalterlichen geistlichen Dramas anschließt, das biblische Gegenstände auf die Bühne brachte[85]. Als Motto stellt er dem Stück die erste Hälfte von Gen 3,1 voran: „Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte“. Insbesondere der Protagonist des Dreiakters, Kain, kommt immer wieder auf die Sündenfallgeschichte zu sprechen. Byron bemerkt überdies im Vorwort, dass er in seiner Jugend häufig Miltons Epos gelesen habe. So darf man mit entsprechenden Einflüssen rechnen.

Kain schließt sich vom Gotteslob ausAußerhalb des Paradieses vollziehen Adam und Eva mit ihren Söhnen Kain und Abel sowie ihren Töchtern Adah und Zillah, die zugleich Ehefrauen ihrer Brüder sind, bei Sonnenaufgang ein Opfer und loben den Schöpfer in einem an Gen 1 angelehnten Gebet. Einzig Kain schließt sich aus, weil er nichts von Gott zu erbitten hat und auch nichts, wofür er ihm danken will[86]. Kains Gedanken sind auf den Tod fixiert; er wirft den Eltern vor, dass sie es versäumten, vom Baum des Lebens zu essen. Eltern und Geschwister vermögen seinen Gram nicht zu zerstreuen. Allein für sich beklagt Kain sein Los:

Und dies ist Leben!

Arbeit! – und warum arbeit’ ich? – Weil sich

Mein Vater nicht behaupten konnt’ in Eden.

Was geht es mich an? Ich war ungeboren,

Ich suchte nicht zu leben, lieb auch nicht

Den Zustand, den mir die Geburt vermachte.

Weshalb wich er der Schlange und dem Weibe?

Und da er wich, weswegen muß er büßen?

Was lag daran? Der Baum war doch gepflanzt?

Und warum nicht für ihn? Wo nicht, weshalb

In seine Näh’ ihn setzen, wo er wuchs?

Der schönst’ im Mittelpunkt? – Sie haben immer

Nur eine Antwort, wenn man fragt: Er wollt’ es,

|57|Und Er ist gut. Wie wissen sie’s? Weil Er

Allmächtig ist, muß drum allgütig folgen?

Ich seh’ die Frucht nur an, und die ist bitter;

Ich muß sie essen, um Verschuldung anderer. (S. 7 = I 1, 64–79)

Dialog Kain – LuciferKain stellt alles in Frage – nicht umsonst besteht der Monolog fast ausschließlich aus Fragen. In dem Augenblick, als Kain die Güte Gottes bezweifelt, tritt Lucifer zu ihm, den Kain als ein Wesen ähnlich den Cheruben, die das Paradies bewachen[87], wahrnimmt, „[d]och ernsteren und trauervollern Ausdrucks“ (S. 7 = I 1, 81). Lucifer stellt sich Kain als einer vor, dem es misslang, Gott zu sein, und als Kains Seelenverwandter; sie beide sind

Seelen, die dem allmächtigen Tyrannen

Ins ew’ge Antlitz schaun und sagen, daß

Sein Böses nimmer gut ist! (S. 11 = I 1, 138–140)[88]

Deshalb weist Lucifer alle Verantwortung für Evas Versuchung Gott zu und bestreitet, sich die Gestalt der Schlange geborgt zu haben. Er weckt Kains Neugier, den Tod zu sehen, von dem er immer nur gehört hat, ohne zu erfahren, was er ist. Lucifer will Kain alles lehren vorausgesetzt, dass er ihn anbetet. Dass Kain noch nie den Gott seines Vaters angebetet hat, betrachtet Lucifer als Erfüllung dieser Bedingung („wer nicht vor ihm kniet, hat vor mir gekniet.“, S. 21 = I 1, 314).

Himmelsreise und Höllenfahrt mit LuciferIm 2. Akt führt Lucifer Kain zunächst in den Weltraum (1. Szene), wo er die Erde als blaue Kugel wahrnimmt, die bei zunehmender Entfernung nur noch als ein Stern unter unzähligen anderen erscheint. In der 2. Szene geleitet er Kain durch das Höllentor in den Hades. Als Kain sich wünscht, Gottes oder Lucifers Wohnsitz zu sehen, weist Lucifer ihn verächtlich darauf hin, dass ein vergängliches Wesen die Gegenwart von Göttern nicht zu ertragen vermag. Kain ist ein Nichts, dem er rät:

Ein Gutes gab der Schicksalsapfel euch, –

Vernunft: – laßt nie sie durch tyrannisch Drohn

Ersticken und zum Glauben zwingen wider

All äußern Sinn und inneres Gefühl.

Denkt und ertragt; schafft eine innre Welt

|58|In eurer Brust, wenn äußre Welt verödet;

So werdet ihr der geistigen Natur

Euch nähern und die eigne überwinden. (S. 75 = II 2, 459–466)

Abel bewegt Kain zum OpfernNach zweistündiger Abwesenheit ist Kain zurück (3. Akt). Währenddessen hat der fromme Abel zwei Altäre gebaut, an denen er gemeinsam mit dem Bruder Opfer darbringen möchte. Kain bewertet das Opfern als „Bestechung des Schöpfers“ (S. 83 = III 1, 102–103); er selbst weiß nicht, wofür er Gott dankbar sein sollte[89]. Abel bemerkt eine unnatürliche Veränderung an dem Bruder und bittet ihn inständig, mit ihm zu opfern, um so Ruhe zu finden. Widerwillig erklärt Kain sich dazu bereit. Während Abel kniend ein Dankgebet spricht, bleibt Kain vor seinem Altar, auf den er einige willkürlich aufgesammelte Früchte gelegt hat, aufrecht stehen. Seine Worte an Gott zeugen von seiner alles relativierenden Skepsis:

Geist, was du oder wer du immer seist,

Allmächtig, es mag sein, – und, wenn du gut bist,

Gut darin, daß dein Tun frei ist vom Bösen – […]

Wenn du versöhnt mußt werden durch Gebet,

Nimm meins! Wenn du beschwichtigt werden mußt

Durch Opfer und Altär’, – empfang die unsren! […]. (S. 91 = III 1, 245–253)

Während die Flamme auf Abels Altar hell aufleuchtet, wirft ein Wirbelwind Kains Altar um und verstreut die Früchte ringsherum. Erschrocken drängt Abel Kain, erneut zu opfern. Doch Kain will nicht, im Gegenteil; er schickt sich an, auch Abels Altar umzureißen. Abel stellt sich ihm in den Weg und bietet Kain seinen Altar für ein neues Opfer an. Doch Kain weist dies zurück.

KAIN.

Wenn du dich selbst liebst,

So steh beiseite, bis ich diesen Rasen

Verstreut auf seiner mütterlichen Erde;

Wo nicht…

ABEL

(ihm wehrend).

Ich liebe Gott mehr als mein Leben.

KAIN.

So bring

(reißt ein Scheit vom Altar und schlägt Abel auf die Schläfe)

dein Leben deinem Gott, der Leben

Ja liebt.

|59|ABEL

(fällt).

Was tatest du, mein Bruder?

KAIN.

Bruder!

ABEL.

O Gott, nimm deinen Knecht auf! Und vergib

Ihm, der mich schlug. Er weiß nicht, was er tut. (S. 95 = III 1, 308–320)

Kain tötet Abel wegen dessen religiösen EifersDas Motiv Kains ist hier nicht die Eifersucht auf Gottes Zuwendung zu Abel, sondern der religiöse Eifer Abels, den Kain nicht teilen kann und dem er sich widersetzt. Letztlich lehnt Kain damit Gott selbst ab. Abel sorgt sich um Kains Beziehung zu Gott. Diese in Ordnung zu bringen, versucht er bis zum letzten Atemzug, indem er noch – wie Christus am Kreuz[90] – Gottes Vergebung erbittet für seinen Mörder. Kain weiß tatsächlich nicht, was er tut. Nach dem Zuschlagen bleibt er wie betäubt stehen, bis er das Blut an seiner Hand wahrnimmt und wie aus einer Bewusstlosigkeit wieder zu sich kommt:

Wo bin ich? Ganz allein.

Wo ist mein Bruder Abel? Wo ist Kain?

Ist’s möglich, daß ich hier bin? O mein Bruder,

Wach’ auf! Was liegst du so auf grüner Erde?

Dies ist nicht Zeit zum Schlaf! Warum so blaß?

Was hast du? Eben warst du noch voll Lebens.

Abel, ich bitte, neck’ mich nicht! Ich schlug

Zu wild, doch nicht verderblich. […]

Du willst mich ängstigen, – es war ein Schlag,

Ein Schlag nur. (S. 95 = III 1, 322–331)

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