Die Bibel in der Weltliteratur

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Neutestamentliche AspekteDem negativen Befund setzt der Erzähler positiv eine „Denküberlieferung“ entgegen, „entsprungen in frühen Tagen, als Erbgut eingegangen in die Religionen“ (S. 27). Diese „betrifft die Gestalt |85|des ersten oder des vollkommenen Menschen, […] zu fassen als ein Jünglingswesen aus reinem Licht, geschaffen vor Weltbeginn als Urbild und Inbegriff der Menschheit“ (S. 27–28). Dieser „urmenschliche Gottessohn“ agiert anfangs als „Streiter Gottes im Kampf gegen das in die junge Schöpfung eindringende Böse“ (S. 28). Die Geschichten um diesen zeigen ein „erlösungs-religiöses Element“ – die Schilderung enthält gnostisch eingefärbte Bezüge zum Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1–18) und spielt insofern auf Jesus Christus an. Die eigene Gründungstheorie des Erzählers arbeitet mit den Prinzipien von Seele, Materie und Geist und deutet mit deren Hilfe den Mythus von Paradies und Sündenfall (Vorspiel 8 und 9)[132].

Die Betrachtungen haben außerdem eine für das Erzählen bedeutsame Dimension. Denn den überlieferten Menschheitssagen, dem Mythus, ist eine Zeitlosigkeit eigen, eine Aufhebung der Zeit

[…] das Wesen des Geheimnisses [ist und bleibt] zeitlose Gegenwart […]. Das ist der Sinn des Begängnisses, des Festes. Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren. Und wenn Joseph zu Sichem oder Beth-Lahama um die Mittsommerzeit beim ›Fest des Lampenbrennens‹, dem Tammuzfest den Mordtod des ›vermißten Sohnes‹, des Jüngling-Gottes, Usir-Adonai’s, und seine Auferstehung unter viel Flötengeschluchz und Freudengeschrei in ausführlicher Gegenwart erlebte, dann waltete ebenjene Aufhebung der Zeit im Geheimnis, die uns angeht, weil es alle logische Anstößigkeit entfernt von einem Denken, welches in jeder Heimsuchung durch Wassersnot einfach die Sintflut erkannte. (S. 22–23).

Die Zeitlosigkeit mythischen ErzählensDer Mythus ist „das Kleid des Geheimnisses […]; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks.“ (S. 39). Und so führen die Überlegungen dieses Vorspiels zu einem Musenanruf eigener Art, der die Ergebnisse des vorausgehenden Gedankenganges zusammenfasst:

Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart! Todesfest, Höllenfahrt, |86|bist du wahrlich ein Fest und eine Lustbarkeit der Fleischesseele, welche nicht umsonst dem Vergangenen anhängt, den Gräbern und dem frommen Es war. Aber auch der Geist sei mit dir und gehe ein in dich, damit du gesegnet seiest mit Segen von oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt! (S. 39).

Also schloss die Frage nach dem Anfang auch ein erzählerisches Problem ein, nämlich das des Beginns eines epischen Werkes. So mündet das Vorspiel in die Bestimmung von Zeit und Raum, in denen Josephs Geschichte angesiedelt ist: Der Erzähler stürzt sich mit dem Leser in den Brunnen[133]: Es geht „[n]icht viel tiefer als dreitausend Jahre tief“ in den Brunnen der Vergangenheit, in ein Mittelmeerland, eine „schattenscharfe Mondnacht über friedlicher Hügellandschaft“ (S. 39).

Der erste Band der Tetralogie entfaltet Die Geschichten Jaakobs ausgehend von einem Gespräch zwischen Joseph und seinem Vater in besagter Mondnacht am Brunnen in der Nähe eines heiligen Baumes. Vater und Sohn werden hier charakterisiert, auch in ihrem Verhältnis zueinander, zu den übrigen Söhnen bzw. Brüdern und zur Religion. Jakobs Geschichten präsentiert der Roman nicht in der biblischen Abfolge und mischt ihr zudem immer wieder Erzählungen von Abraham und Isaak bei. Aus der Fülle des Gebotenen seien Beispiele herausgegriffen, um Manns Umgang mit der biblischen Vorlage, auch unter Berücksichtigung des Vorspiels, deutlich zu machen.

Abrahams GlaubensprüfungAls Jaakob gedankenversunken die Hand auf Josephs Kopf legt und dabei an Abraham denkt, durchzuckt es ihn plötzlich, und er zieht die Hand zurück:

„Ich gedachte Gottes mit Schrecken“, sagte er, und seine Lippen schienen schwer beweglich. „Da war mir, als sei meine Hand die Hand Abrahams und läge auf Jizchaks Haupt. Und als erginge seine Stimme an mich und sein Befehl …“ (S. 76).

Jaakob erzählt Joseph von der Prüfung Abrahams, nicht wie in Gen 22 in dritter Person, sondern aus der Ich-Perspektive, so dass sich die Gestalten Abrahams und Jaakobs überlagern, ebenso wie Isaak und der zuhörende Joseph, den der erzählende Jaakob durchweg in der zweiten Person anspricht und ihn so in die Erzählung einbezieht. Jaakob fügt in die zunächst kaum erweiterte biblische Geschichte kommentierend ein:

|87|Denn du warst Isaak, mein Spätling und Erstling, und ein Lachen [[134]] hatte der Herr uns zugerichtet, als er dich anzeigte, und warst mein ein und alles, und auf deinem Haupte lag alle Zukunft. Und nun forderte er dich mit Recht, wenn auch gegen die Zukunft. (S. 76).

Den aus Gen 22 bekannten Schluss – als Abraham das Messer hebt, um Isaak zu töten, hindert ein Engel ihn am Zustechen – erzählt Jaakob allerdings anders. Der erhobene Arm sinkt herab und das Messer entgleitet ihm. Er wirft sich zu Boden und ruft Gott an, dieser möge das Kind schlachten, „denn er ist mein ein und alles, und ich bin nicht Abraham, und meine Seele versagt vor dir!“ (S. 77). Joseph erinnert den Vater an sein Wissen, dass doch der Engel ihn im nächsten Augenblick zurückgerufen hätte – so wird der biblische Schluss der Erzählung zusätzlich präsentiert. Jaakobs Antwort zeigt jedoch, dass er die eigentlich bekannte Geschichte selbst durchlebte: „Ich wußte es nicht […] denn ich war wie Abraham, und die Geschichte war noch nicht geschehen.“ (S. 77). Joseph wendet ein: „Warst du aber nicht er, so warst du Jaakob, mein Väterchen, und die Geschichte war alt, und du kanntest den Ausgang.“ (S. 77). Jaakob erwidert:

„wenn ich denn Jaakob war und nicht Abraham, so war nicht gewiß, daß es gehen werde wie damals […] Was wäre meine Stärke gewesen vor dem Herrn, wenn sie mir gekommen wäre aus der Rechnung auf den Engel und auf den Widder […] Zum dritten aber – hat denn Gott mich geprüft? Nein, er hat Abraham geprüft, der bestand. Mich aber habe ich selbst geprüft mit der Prüfung Abrahams, und mir hat die Seele versagt, denn meine Liebe war stärker denn mein Glaube“ (S. 77–78).

Joseph hat das letzte Wort: Ihm scheint, dass Jaakob, wenn er sich selbst prüfte, der Herr war, „der Jaakob prüfte mit der Prüfung Abrahams“ (S. 78). Der Dialog zwischen Vater und Sohn treibt ein subtiles Spiel mit der Vergegenwärtigung des Mythus im Erzählen, wie es im Vorspiel beschworen wurde. Diese Episode illustriert zudem die im Roman herrschende Auffassung des Mythisch-Typischen: die Vätergestalten sind Typen – dies gilt etwa auch für den typischen ältesten Knecht, Eliezer[135] (S. 312–316)|88| –, die Geschichten, die von ihnen handeln, sind letztlich feste Erzählmuster. Namensgleichheit oder -ähnlichkeit von Personen befördert die Übertragung von Älterem auf Spätere. Damit wird die Individualität[136] mythischer Figuren aufgehoben.

Erzählmuster in den VätergeschichtenDas Typische der Gestalten und die Musterhaftigkeit der Geschichten führen zu festen Rollen der Personen und einer gewissen Zwangsläufigkeit des Geschehens. Dies macht der Erzähler in seinen Betrachtungen über die dreifach in der Vätergeschichte überlieferte Erzählung von der „Gefährdung der Ahnfrau“ deutlich (S. 91–95). Abrahams Reise nach Ägypten (Gen 12,10–20) dient dazu, den Erwerb seines Reichtums zu erklären. Dass sie variiert ein zweites Mal berichtet wird (Gen 20), begründet der Erzähler folgendermaßen: „Die Wiederholung eines Berichts als Mittel zu dem Zweck, seine Wahrhaftigkeit zu betonen, ist ungewöhnlich, ohne sehr aufzufallen.“ (S. 92). Dafür, dass dasselbe Geschehen beim dritten Mal Isaak zugeschrieben werde (Gen 26,1–11), erwägt der Erzähler drei Möglichkeiten: Ein „mythisches Schema, das von den Vätern gegründet wurde“ (S. 94), sei im Falle Isaaks vergegenwärtigt worden; Isaak habe die Geschichte nicht selbst erlebt, aber als zu seiner Lebensgeschichte gehörig betrachtet, oder aber es liege ein weiterer Fall offener Identität wie bei Eliezer vor. Als Fazit hält der Erzähler fest:

Wir geben uns keiner Täuschung hin über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind; aber wir zweifeln nicht an der Notwendigkeit, mit einer solchen schwankenden Bewußtseinslage zu rechnen, wenn der Isaak, der Abrahams ägyptisches Abenteuer wiedererlebte, sich für den Isaak hielt, den der Ur-Wanderer hatte opfern wollen, so ist das für uns kein bündiger Beweis, daß er sich nicht täuschte – es sei denn, die Opfer-Anfechtung habe zum Schema gehört und sich wiederholt zugetragen. (S. 94).

Durch seine Auffassung des Mythischen und dessen Aneignungsmechanismen gelingt es dem Erzähler, die in der Genesis gebotene Mehrfachüberlieferung auf seine Weise zu erklären, ohne |89|das bibelwissenschaftliche Modell verschiedener literarischer Quellen bemühen zu müssen.

Jaakobs Flucht vor EsauDen freien, schöpferischen Umgang Thomas Manns mit der biblischen Vorlage illustriert die Geschichte von der Weitergabe des Vätersegens an Jakob (Gen 27). Auffällig ist hier zunächst die abweichende Anordnung des Geschehens. Im zweiten Hauptstück des Romans wendet sich Mann der auf den „Segensdiebstahl“ folgenden Flucht Jaakobs zu. Er erfindet eine Episode, in welcher Esaus Sohn Eliphas (Gen 36,4) Jaakob verfolgt, um ihn zu töten[137] (S. 98–103). Doch Jaakob gelingt es, durch Flehen und Selbsterniedrigung dem Eliphas gegenüber sein Leben zu retten. Eliphas beraubt ihn jedoch seiner üppigen Reiseausstattung, die Rebekka ihm mitgegeben hatte. Das anschließende Kapitel Haupterhebung (S. 103–107) schildert Jaakobs Traum von der Himmelsleiter in Luz / Beth-el (vgl. Gen 28,10–19). Darauf folgt die Darstellung der Versöhnung der Brüder (Gen 33) nach Jaakobs Aufenthalt bei Laban, also ein Zeitsprung. Nachdem das dritte Hauptstück sich mit der Geschichte Dina’s (Gen 34) befasst hat, beschreibt der Anfang des vierten Hauptstücks den Tod Isaaks (Gen 35,29). Seine letzten Worte „in hohen und schauerlichen Tönen, seherisch und verwirrt“ (S. 138) vereinen in sich Rückblick auf Isaaks Vergangenheit, sein – offenbar traumatisches – Erlebnis, beinahe geopfert worden zu sein, und verschlüsselten Ausblick auf die Zukunft, das Geopfert-Werden Jesu – zum dem in christlicher Tradition Gen 22 ein typisches Vorbild darstellt – und den Ritus des Abendmahls. Er sprach

 

von ›sich‹ als von dem verwehrten Opfer und von dem Blute des Schafbocks, das als sein, des wahrhaften Sohnes, Blut habe angesehen werden sollen, vergossen zur Sühne für alle. […] „Einen Gott soll man schlachten“, lallte er mit uraltpoetischem Wort und lallte weiter […], daß alle sollten eine Festmahlzeit halten von des geschlachteten Widders Fleisch und Blut, wie Abraham und er es einst getan, der Vater und der Sohn, für welchen eingetreten war das gottväterliche Tier. „Siehe, es ist geschlachtet worden“, hörte man ihn röcheln […] „der Vater und das Tier an des Menschen Statt und des Sohnes, und wir haben gegessen. Aber wahrlich, ich sage euch, es wird geschlachtet werden der Mensch und der Sohn [[138]] statt des Tieres und an Gottes Statt, und aber werdet ihr essen.“ Dann blökte er noch einmal naturgetreu und verschied. (S. 138–139).

|90|Damit liegt ein weiteres Beispiel der zeitübergreifenden Natur des Mythus und der Sicht der Väter als Typen vor. Zugleich lockert der Erzähler den Ernst der Sterberede Isaaks durch Komik auf, indem das Gesicht des Sterbenden eine erschreckende Ähnlichkeit mit einem Widder („Widdervisage“, S. 139) annimmt „oder vielmehr war es so, daß man auf einmal dessen gewahr wurde, daß diese Ähnlichkeit immer bestanden hatte“ (S. 138).

Der VätersegenAls Jaakob gemeinsam mit Esau den Vater begräbt, erinnert er sich an die Vergangenheit, namentlich die Segnung durch Isaak, die den Bruderkonflikt aufbrechen ließ. Diesen Rückblick leitet ein Abschnitt über den Roten, Esau, ein. Der Erzähler problematisiert die Verbindung, die die biblische Überlieferung zwischen dem Jakobbruder Esau und Esau als Stammvater der Edomiter herstellt (Gen 36,1): „Das Edomitervolk war viel älter als Josephs Oheim“ (S. 141). Wiederum ist die Erklärung eine

zeitlose und überindividuelle Zusammenfassung des Typus. Geschichtlich und also individuell genommen war des Ziegenvolkes Stammbock [[139]] ein unvergleichlich älterer Esau gewesen, in dessen Fußstapfen der gegenwärtige wandelte – recht ausgetretenen und öfters nachgeschrittenen Fußstapfen […]

Hier mündet unsere Rede nun freilich ins Geheimnis ein, und unsere Hinweise verlieren sich in ihm: nämlich in der Unendlichkeit des Vergangenen, worin jeder Ursprung sich nur als Scheinhalt und unendgültiges Wegesziel erweist und deren Geheimnis-Natur auf der Tatsache beruht, daß ihr Wesen nicht das der Strecke, sondern das Wesen der Sphäre ist. […] Die Sphäre rollt: […] Oben ist bald Unten und Unten Oben […] Nicht allein, daß Himmlisches und Irdisches sich ineinander wiedererkennen, sondern es wandelt sich auch, kraft der sphärischen Drehung, das Himmlische ins Irdische, das Irdische ins Himmlische, und daraus erhellt, daraus ergibt sich die Wahrheit, daß Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können. (S. 141–142).

Was aber ebenfalls schwingt, das ist das Wechselverhältnis von Vater und Sohn, so daß nicht immer der Sohn es ist, der den Vater schlachtet, sondern jeden Augenblick die Rolle des Opfers auch dem Sohn zufallen kann, welcher dann umgekehrt durch den Vater geschlachtet wird. (S. 143).

[…] und oft sind sie Vater und Sohn, die Ungleichen, der Rote und der Gesegnete, und es entmannt der Sohn den Vater, oder der Vater schlachtet den Sohn. Oft aber wieder […] sind sie auch Brüder, wie Set und Usir, wie Kain und Habel, wie Sem und Cham […]. (S. 145).

|91|In griechischen, ägyptischen, biblischen Mythen trifft man also dieselben Muster an. Thomas Mann kommt auf dies Sphärenprinzip wieder zurück und erläutert, dass Vätergeschichten Varianten von Göttersagen sein können[140].

Esau ist ein Vertreter „Typhon-Sets, des Mörders, des bösen Bruders Usiri’s. Ja, er ist der Böse, er ist der Rote“ (S. 144). Schon früher hatte der Erzähler dargelegt, dass Esaus Charakter, „das heißt seine Rolle auf Erden, von langer Hand her festgelegt, und er sich ebendieser Charakterrolle von jeher vollkommen bewußt gewesen war.“ (S. 99). Es ist die KainKainsrolle, und deshalb fühlte Esau sich entlastet, als sein Sohn Eliphas sich erbot, den Segensraub an Jaakob zu rächen (S. 100). Außerdem klang dort bereits an, „daß es sich bei Segen und Fluch nur um Bestätigungen handelte“ (S. 99), nämlich von ohnehin bereits vorliegenden Bedingungen.

Jizchaks Blindheit als VerdrängungVor seiner Bearbeitung von Gen 27 beschäftigt sich Thomas Mann noch mit Jizchaks Blindheit, die er als auf Verdrängung beruhend beurteilt:

Ist es möglich, daß jemand erblindet oder der Blindheit so nahe kommt, wie Jizchak ihr im Alter wirklich war, weil er nicht gern sieht, weil das Sehen ihm Qual bereitet, weil er sich wohler in einem Dunkel fühlt, worin gewisse Dinge geschehen können, die zu geschehen haben? (S. 148).

Weil die Segnung Jaakobs statt Esaus zwangsläufig geschah, wurde niemand betrogen, auch Esau nicht[141] (S. 149), zumal |92|auch die Verteilung der Sympathie der Eltern keineswegs so einfach war, wie es Gen 25,28 glauben macht (S. 146–148). Esau

wußte fromm und genau, daß alles Geschehen ein Sicherfüllen ist und daß das Geschehene geschehen war, weil es zu geschehen gehabt hatte nach geprägtem Urbild: Das heißt, es war nicht zum ersten Male, es war zeremoniellerweise und nach dem Muster geschehen, es hatte Gegenwart gewonnen gleichwie im Fest und war wiedergekehrt, wie Feste wiederkehren. (S. 150).

Deshalb kann das Kapitel, das Gen 27 um zahlreiche Einzelzüge erweitert wiedergibt, den Titel Der große Jokus (S. 149–159) tragen. Anschließend tritt Jaakob die Flucht an und muss nach dem schon geschilderten Überfall des Eliphas (S. 100–103) durch Geschichten-Erzählen seinen Lebensunterhalt verdienen: „denn um zu essen, mußte er sprechen, erzählen, die Leute mit der Schilderung des argen Abenteuers unterhalten, durch das er, so guten Hauses Sohn, in Armut verfallen war.“ (S. 163). So wird Jaakob auch zu einem ironischen Reflex des epischen Erzählers[142].

Charakterisierung JospehsDie Geschichten Jaakobs enden mit der Geburt Benjamins und dem Tod Rahels (Gen 35,16–20). Der zweite Band Der junge Joseph verarbeitet Genesis 37 und führt anfangs Aspekte von Josephs Persönlichkeit aus, die im weiteren Verlauf des Romans bedeutsam sind: seine Schönheit, seine praktische Tätigkeit[143], seine Ausbildung, seine Beziehung zu den Brüdern und dem Vater. Das dritte Hauptstück entfaltet zudem Josephs besonders innige Beziehung zu Benjamin, dem er Träume anvertraut, die er sonst für sich behält. Dazu gehört auch Der Himmelstraum, eine |93|Himmelsreise, die in einer Gottesschau gipfelt, in welche Mann Elemente u.a. aus Jes 6 und Ez 1 bzw. 10 einbezieht.

Der Gott der VäterVon grundsätzlicher Bedeutung ist der Abschnitt Wie Abraham Gott entdeckte (S. 316–324). Abraham suchte nach dem Höchsten, hielt zuerst die Erde, dann die Sonne, dann den Mond dafür, bis er entdeckte, dass der Höchste der sei, der über alle diese gebiete. So versammelte er die Mächte zur Macht und nannte sie Herr[144]. Der eine Gott war ein unfehlbar anzuredendes Gegenüber des klagenden und lobenden Menschen, weil er für alles zuständig ist. Der Herr schloss einen Bund mit Abraham – durch den Bund entsteht etwas, „was die Völker nicht kannten: die verfluchte Möglichkeit des Bundesbruches, des Abfalles von Gott.“ (S. 321). Außerdem bedeutet dieser Monotheismus, dass dieser eine Gott sowohl gut als auch böse ist – „Er war nicht das Gute, sondern das Ganze.“ (S. 320). Und weil dieser Eine keine Herkunft und weder Frau und Kinder noch Verwandte besitzt, gibt es von ihm keine Geschichten (S. 321) wie von anderen Göttern (S. 323), jedenfalls noch nicht; denn für die Zukunft lässt Gottes „Zug von Erwartung und unerfüllter Verheißung“ (S. 322) ein Erzählen von ihm vermuten; damit zeichnen sich neutestamentliche Erzählungen vom Gottessohn Jesus ab. Der eine Gott hat auch Gefühle; dieser Zug schlägt eine Brücke zur Erwählungsvorstellung, die Jaakob in seiner Stammesüberlieferung findet, eine Vorstellung

von Gottes eigener Unenthaltsamkeit und majestätischer Launenhaftigkeit in Gefühlsdingen und Dingen der Vorliebe: El eljons Auserwählung und Bevorzugung einzelner ohne oder jedenfalls über ihr Verdienst war großherrlich, schwer begreiflich und nach menschlichem Begriffe ungerecht […]; und Jaakob, selbst ein bewußter […] Gegenstand solcher Prädilektion, ahmte Gott nach […] (S. 60–61),

indem er nämlich Joseph den anderen Söhnen vorzog. Bei Joseph findet sich dies Streben nach Höherem ebenfalls, allerdings auf ganz weltlicher Ebene (S. 509).

Im Weiteren folgt dieser Band relativ nah Gen 37, wie überhaupt der Aufriss der biblischen Josefserzählung die Struktur der drei Joseph-Bände bestimmt. Damit trägt Thomas Manns Bearbeitung der Eigenart der biblischen Vorlagen Rechnung bzw. ist von dieser geprägt: Die episodenhafte Anlage der Erzvätergeschichten erlaubt eine freiere Relecture als die novellenhaften |94|Kapitel über Josef. Mit dem dritten Teilband Joseph in Ägypten, der Gen 39 – Josef im Hause Potifars – umsetzt[145], erfolgt der Übergang aus der Hirtenwelt der Väter in Kanaan in die verfeinerte Kultur Ägyptens, eines Landes, das Jaakob negativ bewertet[146]. Ägypten ist in einem umfassenden Sinne gleichbedeutend mit dem Ägypten als TotenreichTotenreich, in das Joseph damit eintritt – auch sein dreitägiger Aufenthalt im Brunnen, in den die Brüder ihn warfen[147] (S. 422), sowie die drei Jahre im Gefängnis (S. 965–1017) entsprechen einem vorübergehenden Weilen in der Unterwelt[148]. Die Assoziation von Ägypten und Unterwelt kommt in den Überschriften Die Reise hinab[149] und Der Eintritt in Scheol[150] zum Ausdruck, wird aber auch von Joseph selbst so verstanden:

Er hatte erfahren, daß er unterwegs ins Totenreich war; denn die Gewohnheit, Ägypten als Unterweltsland und seine Bewohner als Scheolsleute zu betrachten, war mit ihm geboren, und nie hatte er’s anders gehört, besonders von Jaakob. Ins traurig Untere sollte er also |95|verkauft werden, […] der Brunnen war stimmigerweise der Eingang dazu gewesen. (S. 512).

Deshalb gibt Joseph sich den Namen „Usarsiph“ (S. 518) oder „Osarsiph“ (S. 1082) – eine Verbindung aus Osiris und Joseph –, einen Totennamen, wie Pharao feststellt (S. 1082); er kommentiert: „Hält dich dein Vater für tot, so bist du’s doch nicht.“ (S. 1084).

Der vierte und letzte Teilband Joseph der Ernährer bietet eine literarische Entsprechung zu Gen 40–50. Während die Identität Pharaos in der Bibel offen bleibt, gelangt Thomas Manns Joseph an den Hof des Amenhotep IV. (1368/ 63–1351/ 45), d.h. Identifikation Pharaos mit EchnatonEchnatons. Damit gibt es in dem sonst allgemein-ägyptisch zeitlos gezeichneten Königreich eine historisch verortbare Gestalt, die gewählt wurde, weil dieser Pharao eine monotheistische Verehrung des Sonnengottes Aton durchzusetzen bestrebt war. Dies berührt sich mit Abrahams Gottesentdeckung, über die Joseph mit Pharao spricht und ihn zugleich warnt, dem Volk den Glauben an Usir zu nehmen (S. 1080–1089). Damit ist einmal mehr auf den in Ägypten verwurzelten Osiris-Mythus verwiesen.

Jaakob in ÄgyptenDer Schluss des Romans bringt Joseph und Jaakob wieder zusammen, und zwar in Ägypten, wohin die Sippe übersiedelt. Für Jaakob bedeutet dies „zu seinem verstorbenen Sohn in die Unterwelt hinabzusteigen“ (S. 1288); er überwindet die Vorbehalte gegen Ägypten mit Hilfe des Gedankens an Abraham, der ja ebenfalls wegen einer Hungersnot nach Ägypten reiste (S. 1288). Ihn tröstet also die Wiederholung des Mythus. Derartige Wiederholung setzt Jaakob an seinem Lebensende bei der Segensweitergabe selbst ins Werk, so dass dies Geschehen etwas Zwanghaft-Zwangsläufiges erhält: Jaakob sieht schlecht „und machte es sich des feierlichen Ausdrucks wegen zunutze, indem er sich Isaak, den blinden Segensspender, dabei zum Muster nahm“ (S. 1323). Und der Erzvater segnet seine Nachkommen, zuerst Josephs, dann seine eigenen zwölf Söhne. Er inszeniert einen Segensbetrug, als er Ephraim und Menasse, Josephs Söhne, segnet und dem Jüngeren den stärkeren Segen durch Auflegen der rechten Hand erteilt[151]. Und er zelebriert die Segnung der Zwölf auf dem Sterbebett öffentlich (Die Sterbeversammlung), wobei Juda den Vorzugssegen erhält. Den Segensbetrug vollzieht Jaakob an Josephs |96|Söhnen; denn Joseph, Jaakobs Liebling, dem er insgeheim die erste Stelle unter den Söhnen einzuräumen gedachte[152], ist von der Sippe losgelöst, wie Jaakob ihm erklärt:

 

Das Reis hat Er vom Stamm genommen und es ist in die Welt verpflanzt […] Gott hat dich gegeben und genommen [[153]] […], und doch bist du nicht wie Isaak, ein verwehrtes Opfer. […] Aber erhöht hat er dich über sie [die Brüder] auf weltliche Weise, nicht im Sinne des Heils und der Segenserbschaft – das Heil trägst du nicht, das Erbe ist dir verwehrt. (S. 1305)[154].

Josephs SonderstellungJoseph ist innerlich Ägypter geworden („der Gesonderte dachte ägyptisch“, S. 1351), er schert aus den Prinzipien des Mythisch-Typischen und der rollenden Sphäre aus, die die Väterwelt bestimmen. Das Arrangement von Jaakobs Begräbnis illustriert Josephs Ägyptisierung: Zwar erfüllt er Jaakobs Wunsch, im kanaanäischen Familiengrab die letzte Ruhe zu finden, doch unterzieht er den väterlichen Leib der Prozedur der Mumifizierung, die Herzstück des von jenem verhassten ägyptischen Totenkultes ist. Darüber hinaus zeigt sich Josephs Sonderstellung unter den Brüdern im Bewusstsein seiner Individualität, seiner Selbst, das ganz am Schluss überdies auch das erzählende Medium selbst erfasst:

Bin ich denn wie Gott? Drunten, heißt es, bin ich wie Pharao, und der ist zwar Gott genannt, ist aber bloß ein arm, lieb Ding. Geht ihr mich um Vergebung an, so scheint’s, daß ihr die ganze Geschichte nicht recht verstanden habt, in der wir sind. Ich schelte euch nicht darum. Man kann sehr wohl in einer Geschichte sein, ohne sie zu verstehen. Vielleicht soll es so sein, und es war sträflich, daß ich immer viel zu gut wußte, was da gespielt wurde. Habt ihr nicht gehört aus des Vaters Mund, als er mir meinen Segen gab, daß es mit mir nur ein Spiel gewesen sei und ein Anklang? […] er war auch im Spiel, dem Spiele Gottes. Unter seinem Schutz mußt’ ich euch zum Bösen reizen in schreiender Unreife, und Gott hat’s freilich zum Guten gefügt […]. Aber wenn es um Verzeihung geht unter uns Menschen, so bin ich’s, der euch darum bitten muß, denn ihr mußtet die Bösen spielen, damit alles so käme. (S. 1362).

So gestaltet Thomas Mann einen Midrasch eigener Art, der durch die prophetische Dimension die Brücke zum Neuen Testament schlägt und dessen hermeneutischen Schlüssel er eingangs liefert und den er (selbst)ironisch in Erinnerung hält.

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