Reise zum Mittelpunkt der Erde

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Из серии: Jules Verne bei Null Papier #17
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Zweites Kapitel

Die­ses Ka­bi­nett war ein wahr­haf­tes Mu­se­um. Alle Mus­ter­stücke aus dem Mi­ne­ral­reich fan­den sich da mit Eti­ket­ten ver­se­hen in voll­stän­digs­ter Ord­nung ge­reiht, nach den drei großen Ab­tei­lun­gen der brenn­ba­ren, me­tal­li­schen und stein­ar­ti­gen Mi­ne­ra­li­en.

Wie war ich mit die­sem Spiel­zeug der mi­ne­ra­lo­gi­schen Wis­sen­schaft ver­traut! Wie oft hat­te ich, an­statt mit mei­nen Ka­me­ra­den mei­ne Zeit zu ver­tän­deln, mei­ne Freu­de dar­an, die­se Gra­phi­ten, An­thra­ci­den, Ligni­ten, die Stein­koh­len und Tor­fe ab­zu­stäu­ben! Und die Har­ze, Erd­har­ze, or­ga­ni­schen Sal­ze, die vor den ge­rings­ten Stäub­chen zu schüt­zen wa­ren! Und die­se Me­tal­le, vom Ei­sen bis zum Gold, de­ren re­la­ti­ver Wert vor der ab­so­lu­ten Gleich­heit der wis­sen­schaft­li­chen Gat­tun­gen ver­schwand! Und alle die Stei­ne, wo­mit man das Haus an der Kö­nigs­tra­ße hät­te neu auf­bau­en kön­nen, und noch ein hüb­sches Zim­mer dazu, worin ich mich recht hübsch ein­ge­rich­tet hät­te!

Aber als ich in das Ar­beits­zim­mer trat, dach­te ich nicht an die­se Wun­der; mein ein­zi­ger Ge­dan­ke war mein On­kel. Er war in sei­nem großen, mit Ut­rech­ter Samt be­schla­ge­nen Lehn­stuhl ver­gra­ben und hielt ein Buch in den Hän­den, das er mit tiefs­ter Be­wun­de­rung an­schau­te.

»Welch ein Buch! Welch ein Buch!« rief er aus. Die­ser Aus­ruf er­in­ner­te mich, dass der Pro­fes­sor Li­den­b­rock auch zu Zei­ten ein Bü­cher­narr war; eine alte Schar­te­ke hat­te in sei­nen Au­gen nur in­so­fern Wert, als sie schwer auf­zu­fin­den oder we­nigs­tens un­le­ser­lich war.

»Aber«, sag­te er, »siehst du denn nicht? Das ist ja ein un­schätz­ba­res Klein­od, das ich heu­te Mor­gen im La­den des Ju­den He­ve­li­us1 auf­ge­fun­den habe.«

»Pracht­voll!« er­wi­der­te ich mit er­heu­chel­tem En­thu­si­as­mus. Wahr­haf­tig, wozu so viel Lärm um einen al­ten Quar­tan­ten in Kalb­le­der, eine ver­gilb­te Schar­te­ke mit ver­blass­ten Buch­zei­chen.

Der Pro­fes­sor fuhr in­des­sen fort in un­er­schöpf­li­cher Be­wun­de­rung, in­dem er sich selbst frag­te und ant­wor­te­te:

»Siehst du, ist’s nicht hübsch? Ja, wun­der­schön! Was für ein Ein­band! Wie leicht schlägt man’s auf! Wie treff­lich schlie­ßen die Blät­ter, dass sie nir­gends klaf­fen! Und an die­sem Rücken sieht man nach sie­ben Jahr­hun­der­ten noch kei­nen Riss!«

Ich konn­te nichts Bes­se­res tun, als ihn über den In­halt zu fra­gen, ob­wohl der mich we­nig küm­mer­te.

»Und wie ist denn der Ti­tel des merk­wür­di­gen Bu­ches?« frag­te ich has­tig.

»Dies Werk«, er­wi­der­te mein On­kel leb­haft, »ist die Heims­kring­la von Snor­ro Stur­le­son, dem be­rühm­ten is­län­di­schen Chro­nis­ten des zwölf­ten Jahr­hun­derts! Es ent­hält die Ge­schich­te der nor­we­gi­schen Fürs­ten, die auf Is­land herrsch­ten!«

»Wirk­lich!« rief ich so freu­dig wie mög­lich, »und ge­wiss eine deut­sche Über­set­zung?«

»Schön!« ent­geg­ne­te leb­haft der Pro­fes­sor, »eine Über­set­zung! Und was mit der Über­set­zung an­fan­gen? Wer küm­mert sich um eine sol­che? Es ist ein Ori­gi­nal­werk in is­län­di­scher Spra­che, dem präch­ti­gen, rei­chen und zu­gleich ein­fa­chen Idi­om!«

»Wie das Deut­sche«, füg­te ich schmei­chelnd bei.

»Ja«, er­wi­der­te mein On­kel mit Ach­sel­zu­cken, ohne in An­schlag zu brin­gen, dass die is­län­di­sche Spra­che die drei Ge­schlech­ter be­zeich­net, wie beim Grie­chi­schen, und die Ei­gen­na­men de­kli­niert, wie im La­tei­ni­schen!

»Ah!« rief ich, in­dem ich mei­ner Gleich­gül­tig­keit Ge­walt an­tat, »und wie schön sind die Let­tern!«

»Let­tern! Was meinst du, Let­tern? Wie? Du meinst, das sei ge­druckt? Nein, Dum­mer, ’s ist ein Ma­nu­skript, ein Ru­nen-Ma­nu­skript! …«

»Ru­nen!«

»Ja! Be­gehrst du nun eine Er­klä­rung die­ses Worts!«

»Das lass ich blei­ben«, er­wi­der­te ich mit dem Ton ei­nes Be­lei­dig­ten.

Aber mein On­kel fuhr umso eif­ri­ger fort, mich wi­der Wil­len über Din­ge zu be­leh­ren, die ich zu wis­sen gar nicht Lust hat­te.

»Die Ru­nen«, fuhr er fort, »wa­ren Schrift­zü­ge, die von ur­al­ten Zei­ten auf Is­land im Ge­brauch wa­ren und von Odin selbst er­fun­den sein sol­len! Aber schau doch her, be­wun­de­re doch, Gott­lo­ser, die von ei­nem Gott aus­ge­dach­ten Zei­chen!«

Wahr­haf­tig, an­statt zu ant­wor­ten, fiel ich auf die Knie, eine Ant­wort, die Göt­tern und Kö­ni­gen ge­fällt.

Ein Zwi­schen­fall gab der Un­ter­hal­tung eine an­de­re Wen­dung. Ein schmut­zi­ges Per­ga­ment fiel aus der Schar­te­ke her­aus auf den Bo­den.

Mit be­greif­li­cher Gier fiel mein On­kel über die­sen Quark her. Ein al­tes Do­ku­ment, das viel­leicht seit un­vor­denk­li­cher Zeit in ei­nem al­ten Bu­che lag, muss­te un­fehl­bar in sei­nen Au­gen sehr kost­bar sein.

»Was ist das?« rief er aus.

Und zu­gleich ent­fal­te­te er sorg­fäl­tig auf dem Tisch ein fünf Zoll lan­ges, drei Zoll brei­tes Per­ga­ment­stück, wor­auf in Qu­er­zei­len ein un­ver­ständ­li­ches Ge­krit­zel von Schrift­zü­gen sich be­fand.

Ich gebe hier ein ge­nau­es Fak­si­mi­le der­sel­ben. Es ist mir dar­um zu tun, die­se selt­sa­men Zei­chen zur An­schau­ung zu brin­gen, weil sie den Pro­fes­sor Li­den­b­rock nebst sei­nem Nef­fen zu der son­der­bars­ten Un­ter­neh­mung des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts ver­an­lass­ten!


Der Pro­fes­sor be­trach­te­te die­se Zei­chen eine Wei­le; dann sprach er, in­dem er sei­ne Bril­le hö­her rück­te:

»’s ist Ru­nisch; die­se Zei­chen sind de­nen auf dem Ma­nu­skript Snor­ros völ­lig gleich! Aber … was mag das nur be­deu­ten?«

Da es mir schi­en, das Ru­ni­sche sei eine Er­fin­dung der Ge­lehr­ten, um die un­ge­lehr­ten Leu­te zu hin­ter­ge­hen, so war es mir nicht un­lieb, dass mein On­kel nichts da­von ver­stand. Das nahm ich we­nigs­tens aus sei­nen Fin­ger­be­we­gun­gen ab.

»Es ist doch Alt-Is­län­disch«, brumm­te er in den Bart.

Und der Pro­fes­sor Li­den­b­rock muss­te das wohl ver­ste­hen, denn er galt für ein Wun­der von ei­nem Spra­chen­ken­ner. Die zwei­tau­send Spra­chen und vier­tau­send Dia­lek­te, die man auf der Erde kennt, ver­stand er nicht nur ge­läu­fig, son­dern sprach auch de­ren einen gu­ten Teil.

Um die­ser Schwie­rig­keit wil­len war er im Be­griff, sich al­len Stür­men sei­nes hef­ti­gen Ge­fühls hin­zu­ge­ben, als es auf der klei­nen Uhr des Ka­mins zwei schlug, und die gute Mar­tha die Tür mmit den Wor­ten öff­ne­te:

»Die Sup­pe ist auf­ge­tra­gen.«

»Zum Hen­ker mit der Sup­pe«, schrie mein On­kel, »samt der Kö­chin, und wer sie ver­zehrt!«

Mar­tha ent­floh, ich eil­te ihr nach und be­fand mich, ohne zu wis­sen wie, an mei­nem ge­wöhn­li­chen Platz im Spei­se­zim­mer.

Ich war­te­te eine Wei­le. Der Pro­fes­sor kam nicht. Zum ers­ten Mal, mei­nes Ge­den­kens, ließ er sich bei dem Mit­ta­ges­sen ver­mis­sen. Und doch, welch treff­li­ches Es­sen! Pe­ter­si­li­en­sup­pe, Eier­ku­chen mit Schin­ken in Sau­er­amp­fer­sau­ce, Kalbs­nie­ren­bra­ten mit Pflau­men­kom­pott, und zum Des­sert Meer­kreb­schen mit Zu­cker, und dazu ein hüb­scher Mo­sel­wein.

Das al­les ver­säum­te mein On­kel über dem al­ten Pa­pier. Wahr­haf­tig, als er­ge­be­ner Nef­fe glaub­te ich mich ver­bun­den, für uns bei­de zu es­sen. Und ich tat es ge­wis­sen­haft.

»Das hab’ ich nie er­lebt«, sag­te die gute Mar­tha. »Herr Li­den­b­rock nicht bei Ti­sche!«

»Un­glaub­lich.«

»Das hat was Ar­ges zu be­deu­ten!« fuhr die Alte mit Kopf­schüt­teln fort.

Mei­nes Erach­tens be­deu­te­te es nichts an­ders, als eine fürch­ter­li­che Sze­ne, wenn mein On­kel sein Es­sen auf­ge­zehrt fin­den wür­de.

Ich war an mei­nem letz­ten Kreb­schen, als eine lau­thal­len­de Stim­me mich den Genüs­sen des Nach­ti­sches ent­zog. Mit ei­nem Sprung war ich im Ka­bi­nett des Herrn.

1 Jo­han­nes He­ve­li­us (1611–1687) war ein Astro­nom und gilt als Be­grün­der der Kar­to­gra­fie des Mon­des. <<<

Drittes Kapitel

»Es ist of­fen­bar Ru­nisch«, sag­te der Pro­fes­sor mit Stirn­run­zeln. »Aber ich wer­de das Ge­heim­nis, das da­hin­ter­steckt, ent­de­cken, sonst …«

Und er mach­te eine hef­ti­ge Be­we­gung mit der Hand.

»Setz dich da­hin«, fuhr er fort, in­dem er auf den Tisch hin­wies, »und schreib.«

Im Au­gen­blick war ich be­reit.

»Jetzt will ich dir je­den Buch­sta­ben un­se­res Al­pha­bets dik­tie­ren, so­wie er mit ei­nem die­ser Schrift­zü­ge stimmt. Wir wer­den se­hen, was da­bei her­aus­kom­men wird. Aber nimm dich wohl in acht, dass du nichts ver­fehlst!«

Er fing an zu dik­tie­ren, und ich gab mir alle Mühe. Er be­nann­te je­den Buch­sta­ben einen nach dem an­de­ren, und so bil­de­ten sich fol­gen­de un­ver­ständ­li­che Wor­te:

m.rnlls es­reu­el seecJ­de

sgtss­mf un­eei­ef niedrke

kt,samn atra­teS Sao­drrn

emt­na­el nu­aect rrilSa

At­vaar .ns­crc ie­aabs

ccdrmi eeu­tul fran­tu

dt,iac osei­bo Ke­diil

Als dies fer­tig war, nahm mein On­kel has­tig das Blatt, wor­auf ich ge­schrie­ben hat­te.

»Was will das be­deu­ten?« wie­der­hol­te er me­cha­nisch.

Auf Ehre, ich hät­te es ihm nicht sa­gen kön­nen. Üb­ri­gens frag­te er mich nicht, und sprach wei­ter mit sich selbst:

»Das hei­ßen wir eine Ge­heim­schrift«, sag­te er, »worin der Sinn hin­ter ab­sicht­lich durch­ein­an­der ge­misch­ten Buch­sta­ben ver­steckt ist, wel­che in ge­hö­ri­ger Fol­ge ge­ord­net, eine ver­ständ­li­che Phra­se bil­den wür­den. Da­rin steckt viel­leicht die Er­klä­rung oder An­deu­tung ei­ner großen Ent­de­ckung!«

 

Ich mei­nes­teils dach­te, es ste­cke gar nichts da­hin­ter, aber ich hü­te­te mich wohl, mei­ne Mei­nung aus­zu­spre­chen.

Der Pro­fes­sor nahm dar­auf das Buch und das Per­ga­ment und ver­glich sie bei­de mit­ein­an­der.

»Die­se bei­den Schrif­ten sind nicht von der­sel­ben Hand; das Ge­heim­schrift­stück ist spä­tem Ur­sprungs, als das Buch, wie ich das gleich vor­ne aus ei­nem un­wi­der­leg­li­chen Be­weis er­se­he. In der Tat, der ers­te Buch­sta­be ist ein dop­pel­tes M, das in Stur­le­sons Buch sich nicht fin­det, denn es wur­de erst im vier­zehn­ten Jahr­hun­dert dem is­län­di­schen Al­pha­bet hin­zu­ge­fügt. Also lie­gen we­nigs­tens zwei Jahr­hun­der­te zwi­schen dem Ma­nu­skript und dem Do­ku­ment.«

Das schi­en mir al­ler­dings ziem­lich fol­ge­rich­tig.

Gretchen

»Das bringt mich auf den Ge­dan­ken«, fuhr mein On­kel fort, »die­se ge­heim­nis­vol­le Schrift sei von ei­nem Be­sit­zer des Bu­ches ver­fasst wor­den. Aber wer zum Hen­ker war die­ser Be­sit­zer? Soll­te er nicht sei­nen Na­men ir­gend­wo un­ter das Ma­nu­skript ge­setzt ha­ben?«

Mein On­kel setz­te sei­ne Bril­le hö­her, nahm eine star­ke Lupe und mus­ter­te sorg­fäl­tig die ers­ten Sei­ten des Bu­ches durch. Auf der zwei­ten Rück­sei­te ent­deck­te er eine Art Fle­cken, der wie ein Tin­ten­k­leks aus­sah; aber ge­nau­er be­se­hen un­ter­schied man ei­ni­ge halb ver­lo­sche­ne Schrift­zü­ge. Mein On­kel be­griff, dass es auf die­sen Punkt an­kom­me; er mach­te sich also aufs Eif­rigs­te dar­über her, und er­kann­te end­lich mit Hil­fe sei­ner Lupe die fol­gen­den Ru­nen­schrift­zei­chen, wel­che er ohne An­stoß le­sen konn­te:


»Arne Sak­nus­semm!« rief er tri­um­phie­rend aus, »aber das ist ein Name, und noch dazu ein is­län­di­scher Name, ei­nes Ge­lehr­ten des sech­zehn­ten Jahr­hun­derts, ei­nes be­rühm­ten Al­chi­mis­ten.«

Ich schau­te mei­nen On­kel mit ei­ni­gem Stau­nen an.

»Die­se Al­chi­mis­ten«, fuhr er fort, »Avi­ren­na, Ba­con, Lul­lus, Pa­ra­cel­sus wa­ren die ein­zi­gen, die ech­ten Ge­lehr­ten die­ser Epo­che. Sie ha­ben Ent­de­ckun­gen ge­macht, wor­über wir er­staunt sein dür­fen. Wa­rum soll­te nicht die­ser Sak­nus­semm un­ter die­ser Ge­heim­schrift eine auf­fal­len­de Ent­de­ckung ver­hüllt ha­ben? So muss es sein. So ist’s wirk­lich.«

Bei die­ser Hy­po­the­se er­hitz­te sich des Pro­fes­sors Fan­ta­sie.

»Ganz ge­wiss«, er­wi­der­te er keck, »aber was konn­te die­ser Ge­lehr­te für ein In­ter­es­se dar­an ha­ben, eine merk­wür­di­ge Ent­de­ckung ge­heim­zu­hal­ten?«

»Wa­rum? Wa­rum? Ja, weiß ich’s? Hat’s nicht Ga­li­lei eben­so ge­macht in Be­zie­hung auf Sa­turn? Üb­ri­gens, wir wer­den schon se­hen: Ich wer­de das Ge­heim­nis die­ses Do­ku­ments her­aus­be­kom­men, und ich wer­de we­der es­sen noch schla­fen, bis ich’s her­aus­ha­be.«

»O!« dach­te ich.

»Du eben­falls nicht, Axel«, fuhr er fort.

»Teu­fel!« dacht’ ich, »da ist’s gut, dass ich dop­pel­te Mahl­zeit ge­hal­ten habe.«

»Und ernst­lich«, sag­te mein On­kel, »gil­t’s, die Spra­che die­ser Chif­fre auf­zu­fin­den. Das kann nicht schwer sein.«

Bei die­sen Wor­ten hob ich leb­haft den Kopf. Mein On­kel fuhr fort, mit sich selbst zu re­den:

»Es gibt nichts Leich­te­res. Die­ses Do­ku­ment ent­hält hun­dertzwei­und­drei­ßig Buch­sta­ben, wo­von neun­und­sieb­zig Kon­so­nan­ten ge­gen drei­und­fünf­zig Vo­ka­le. Un­ge­fähr die­ses Ver­hält­nis fin­det bei den süd­li­chen Spra­chen statt, wäh­rend die Idio­me des Nor­dens un­end­lich rei­cher an Kon­so­nan­ten sind. Es han­delt sich also um eine Spra­che des Sü­dens.«

Die­se Fol­ge­run­gen wa­ren rich­tig.

»Aber was ist’s für eine Spra­che?«

»Die­ser Sak­nus­semm«, fuhr er fort, »war ein un­ter­rich­te­ter Mann; wenn er also nicht in sei­ner Mut­ter­spra­che schrieb, muss­te er der un­ter den ge­bil­de­ten Geis­tern des sech­zehn­ten Jahr­hun­derts ge­läu­fi­gen Spra­che den Vor­zug ge­ben, der la­tei­ni­schen näm­lich. Irre ich dar­in, so kann ich mit dem Spa­ni­schen, dem Fran­zö­si­schen, Ita­lie­ni­schen, Grie­chi­schen oder He­bräi­schen den Ver­such ma­chen. Aber die Ge­lehr­ten des sech­zehn­ten Jahr­hun­derts schrie­ben im All­ge­mei­nen la­tei­nisch. Ich darf also als selbst­ver­ständ­lich an­neh­men, es sei La­tein.«

Ich sprang von mei­nem Stuhl auf. Mei­ne Erin­ne­run­gen aus der La­tein­schu­le sträub­ten sich ge­gen die Be­haup­tung, die­se Grup­pe selt­sa­mer Wor­te kön­ne der sanf­ten Spra­che Vir­gils an­ge­hö­ren.

»Ja! La­tein«, fuhr mein On­kel fort, »aber ver­wor­re­nes La­tein.«

»Das mag sein!« dach­te ich. »Wenn du es ent­wirrst, lie­ber On­kel, bist du ein fei­ner Kopf.«

»Un­ter­su­chen wir ge­hö­rig«, sag­te er, und nahm das von mir be­schrie­be­ne Blatt wie­der zur Hand. »Hier ist eine Grup­pe von hun­dertzwei­und­drei­ßig Buch­sta­ben, die wir in voll­stän­di­ger Ver­wor­ren­heit fin­den. Da sind Wor­te, worin nur Kon­so­nan­ten vor­kom­men, wie das ers­te ›rnlls‹, an­de­re da­ge­gen, worin die Vo­ka­le über­wie­gen, z.B. das fünf­te: ›u­ne­ei­e­f‹, oder das vor­letz­te: ›o­sei­bo‹. Nun ist of­fen­bar die­se Grup­pie­rung nicht so zu­sam­men­ge­setzt wor­den; sie wur­de ma­the­ma­tisch ge­ge­ben durch ein uns un­be­kann­tes Ver­hält­nis, nach wel­chem die An­ein­an­der­rei­hung die­ser Buch­sta­ben be­stimmt wur­de. Ich hal­te für ge­wiss, dass die ur­sprüng­li­che Phra­se re­gel­mä­ßig ge­schrie­ben, so­dann nach ei­nem Grund­ge­dan­ken, den man auf­fin­den muss, um­ge­bil­det wur­de. Wer den Schlüs­sel die­ser ›Chif­fre‹ be­sä­ße, wür­de sie ge­läu­fig le­sen. Aber was ist das für ein Schlüs­sel? Axel, hast du ihn?«

Auf die­se Fra­ge wuss­te ich nicht zu ant­wor­ten, und aus gu­tem Grund. Mei­ne Bli­cke wa­ren auf ein rei­zen­des Por­trät, das an der Wand hing, ge­hef­tet, das Por­trät Gret­chens. Die Mün­del mei­nes On­kels be­fand sich da­mals zu Al­to­na bei ei­ner Ver­wand­ten, und ich war über ihre Ab­we­sen­heit sehr be­trübt, denn, jetzt kann ich’s ge­ste­hen, die hüb­sche Vier­län­de­rin und der Nef­fe des Pro­fes­sors lieb­ten sich mit echt deut­scher Herz­lich­keit und Aus­dau­er. Wir hat­ten uns ohne Wis­sen un­se­res On­kels ver­lobt, der all­zu viel Geo­log war, um für sol­che Ge­füh­le einen Be­griff zu ha­ben. Gret­chen war eine rei­zen­de Blon­di­ne mit blau­en Au­gen, von et­was ge­set­zem Cha­rak­ter und erns­tem Sinn; aber sie lieb­te mich dar­um nicht min­der. Ich mei­ner­seits be­te­te sie an, so­fern die­ser Be­griff im Alt­deut­schen exis­tiert! Das Bild mei­ner klei­nen Vier­län­de­rin ver­setz­te mich also auf ein­mal aus der wirk­li­chen Welt in die Welt der Träu­me, der Erin­ne­run­gen.

Ich er­blick­te in die­sem Bild die treue Ge­nos­sin mei­ner Ar­bei­ten und Freu­den. Sie half mir tag­täg­lich die köst­li­chen Stei­ne mei­nes On­kels ord­nen, die­sel­ben mit Eti­ket­ten ver­se­hen. Fräu­lein Gret­chen war in der Mi­ne­ra­lo­gie sehr stark! Sie hät­te dar­in mehr als einen Ge­lehr­ten zu­recht­wei­sen kön­nen. Sie be­fass­te sich ger­ne da­mit, schwie­ri­ge Fra­gen der Wis­sen­schaft zu er­grün­den. Wel­che süße Stun­den hat­ten wir mit ge­mein­sa­men Stu­di­en hin­ge­bracht! Und wie oft be­nei­de­te ich die fühl­lo­sen Stei­ne um das Glück, von ih­ren rei­zen­den Hän­den be­tas­tet zu wer­den!

Her­nach, wann die Er­ho­lungs­zeit kam, wan­del­ten wir mit­ein­an­der durch die be­laub­te Als­te­r­al­lee und be­such­ten zu­sam­men die alte be­teer­te Müh­le, die sich am Ende des Sees so gut aus­nimmt; un­ter­wegs plau­der­ten wir Hand in Hand. Ich er­zähl­te ihr Din­ge, wor­über sie herz­lich lach­te. So ka­men wir bis zum El­bu­fer und nach­dem wir den Schwä­nen, die zwi­schen den großen wei­ßen See­ro­sen schwim­men, gute Nacht ge­sagt, be­ga­ben wir uns mit dem Dampf­boot wie­der zum Kai.

Als ich in mei­nem Träu­men hier an­kam, ward ich von mei­nem On­kel durch einen Faust­schlag auf den Tisch ge­walt­sam in die Wirk­lich­keit zu­rück­ge­ru­fen.

»Se­hen wir«, sag­te er, »die ers­te Idee, die sich dem Geist dar­bie­tet, um die Buch­sta­ben ei­ner Phra­se aus ih­rer Ord­nung zu brin­gen, be­steht, dünkt mir, dar­in, dass man die Wor­te, an­statt ho­ri­zon­tal, ver­ti­kal schreibt. Wir müs­sen an­schau­en, was da­bei her­aus­kommt. Axel, schreib ir­gend­ei­nen Satz auf die­sen Zet­tel, aber an­statt die Buch­sta­ben ne­ben­ein­an­der zu stel­len, set­ze sie in ver­ti­ka­len Rei­hen einen nach dem an­de­ren, und zwar in Grup­pen von fünf bis sechs.«

Ich be­griff, wie es ge­meint war, und schrieb so­gleich von oben nach un­ten:


»Gut«, sag­te der Pro­fes­sor, ohne ge­le­sen zu ha­ben. »Jetzt schrei­be die­se Wor­te in eine ho­ri­zon­ta­le Zei­le.«

Ich ge­horch­te und be­kam fol­gen­de Phra­se:

Jermtt chd­zeech li­li­se ichinGn eh­ch­gr! be,ue

»Ganz recht«, sag­te mein On­kel, und riss mir den Zet­tel aus der Hand, »das sieht schon aus wie das alte Do­ku­ment: Die Vo­ka­le ste­hen so wie die Kon­so­nan­ten in der näm­li­chen Un­ord­nung grup­piert; da sind selbst An­fangs­buch­sta­ben so­wie Kom­ma in der Mit­te der Wor­te, ganz wie in dem Per­ga­ment des Sak­nus­semm!«

Ich konn­te nicht um­hin, die­se Be­mer­kung für recht sinn­reich zu hal­ten.

»Nun«, fuhr mein On­kel fort, »um die Phra­se, wel­che du ge­schrie­ben hast, und de­ren In­halt ich nicht ken­ne, zu le­sen, brauch’ ich nur zu­erst den ers­ten Buch­sta­ben je­des Wor­tes zu­sam­men­zu­rei­hen, dann je­den zwei­ten, her­nach den drit­ten usw.«

Und mein On­kel las zu sei­nem und mei­nem größ­ten Er­stau­nen:

Ich lie­be dich herz­lich, mein gu­tes Gret­chen!

»Oho!« sag­te der Pro­fes­sor.

Ja, un­ver­se­hens hat­te ich als ver­lieb­ter Töl­pel die­se ver­rä­te­rische Zei­le ge­schrie­ben!

»So! Du liebst Gret­chen?« fuhr mein On­kel in ech­tem Vor­mün­der­ton fort.

»Ja … Nein …«, stot­ter­te ich.

»Du liebst also Gret­chen!« wie­der­hol­te er ma­schi­nen­mä­ßig. »Nun, wen­den wir mein Ver­fah­ren auf das frag­li­che Do­ku­ment an.«

Mein On­kel war schon wie­der in das Nach­sin­nen, wel­ches ihn ganz in An­spruch nahm, ver­sun­ken, dass er be­reits mei­ne un­vor­sich­ti­gen Wor­te ver­gaß. Ich sage un­vor­sich­ti­gen, denn der Kopf des Ge­lehr­ten konn­te die Her­zens­an­ge­le­gen­hei­ten nicht be­grei­fen. Aber zum Glück hat­te die große An­ge­le­gen­heit des Do­ku­ments das Über­ge­wicht.

Im Be­griff, sei­nen Haupt­ver­such zu ma­chen, sprüh­ten des Pro­fes­sors Au­gen Blit­ze durch sei­ne Bril­le hin­durch. Mit zit­tern­den Hän­den nahm er das alte Per­ga­ment wie­der zur Hand. Er war von erns­ter Be­we­gung er­grif­fen. End­lich hus­te­te er tüch­tig und dik­tier­te mir mit wür­di­gem Ton, in­dem er der Rei­he nach zu­erst den ers­ten Buch­sta­ben, dann den zwei­ten je­des Wor­tes zu­sam­men­nahm, die fol­gen­den Grup­pen:

mmes­sun­kaSen­rA.icef­doK.seg­nit­ta­murtn

ecerts­er­ret­te,ro­taivsa­dua, ednec­sed­sad­ne

la­cart­nll­luJ­si­ra­tracSarb­mu­ta­bi­led­mek

me­re­tar­c­si­lu­col­slef­fenSnl

Als ich sie fer­tig hat­te, war ich, of­fen ge­stan­den in Ge­müts­be­we­gung. In die­sen Buch­sta­ben hat­te ich gar kei­nen Sinn zu er­ken­nen ver­mocht; ich war also dar­auf ge­spannt, des Pro­fes­sors Lip­pen wür­den statt­lich eine Phra­se pracht­vol­len La­teins hö­ren las­sen.

Aber wer hät­te das ge­dacht! ein hef­ti­ger Faust­schlag er­schüt­ter­te den Tisch, dass die Tin­te em­por­spritz­te, die Fe­der mei­nen Hän­den ent­fiel.

»Das ist’s nicht!« schrie mein On­kel, »das hat kei­nen Sinn!« Da­rauf stürz­te er rasch wie eine Ku­gel durch das Ka­bi­nett, wie eine La­wi­ne die Trep­pe hin­ab, auf die Kö­nigs­tra­ße und ent­floh aus Lei­bes­kräf­ten.

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