Herr Dis und Fräulein Es

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Herr Dis und Fräulein Es
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Herr Dis und Fräulein Es

Jules Verne

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X


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Impressum

Public Domain

(c) mehrbuch

1828–1905

I

Wir waren an die dreißig Kinder in der Schule von Kalfermatt, etwa zwanzig Knaben im Alter von sechs bis zwölf und rund zehn Mädchen im Alter von vier bis neun Jahren. Wenn ihr wissen möchtet, wo genau sich dieses Nest befindet, so kann ich euch sagen, daß es gemäß meinem Geographiebuch (S. 47) in einem der katholischen Kantone der Schweiz, nicht weit vom Bodensee entfernt, am Fuße der Appenzeller Berge liegt.

»Nun denn, du dort hinten, Joseph Müller!«

»Ja, Herr Walrügis?« antwortete ich.

»Was schreibst du, während ich diese Geschichtsstunde abhalte?«

»Ich mache Notizen, Herr Lehrer.«

»Gut.«

In Tat und Wahrheit zeichnete ich ein Männchen, während der Lehrer uns zum tausendsten Mal die Geschichte von Wilhelm Tell und vom grausamen Gessler erzählte. Niemand beherrschte sie so gut wie er. Der einzige Punkt, den er noch nicht geklärt hatte, war folgender: Zu welcher Sorte, zu den Renetten oder zu den Schlotteräpfeln, gehörte der historische Apfel, den der Held der Eidgenossenschaft auf den Kopf seines Sohnes gelegt hatte und über den ebensoviel diskutiert wird wie über jenen, den unsere Stammutter Eva vom Baum des Guten und des Bösen gepflückt hatte?

Der Marktflecken Kalfermatt befindet sich in vorteilhafter Lage in einer jener Bodensenken, die man als »Wanne« bezeichnet. Die Senke ist auf der Vorderseite eines Gebirges eingebettet, wo sie im Sommer von den Sonnenstrahlen nicht erreicht wird. Das von üppigem Laubwerk beschattete Schulhaus am äußersten Dorfrand sieht keineswegs wie eine grimmige Fabrik für die Ausbildung von Primarschülern aus. Es bietet einen heiteren Anblick, ist von stattlicher Erscheinung mit seinem weiten bepflanzten Hof, einer Spielhalle für Regentage und einem kleinen Turm, in dem die Glocke singt wie ein Vogel im Gezweig.

Herr Walrügis leitet die Schule gemeinsam mit seiner Schwester Lisbeth, einer alten Jungfer, die strenger ist als er. Die beiden bestreiten zusammen den Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen, in Geographie und Geschichte – in der Geschichte und Geographie der Schweiz wohlverstanden. Wir gehen jeden Tag zur Schule, außer am Donnerstag und Sonntag. Man trifft um acht Uhr ein mit einem Korb und den mit einem Riemen zusammengeschnallten Büchern. Der Korb enthält etwas zum Essen: Brot, kaltes Fleisch, Käse, Obst, zusammen mit einer halben Flasche verschnittenen Weines. Die Bücher enthalten etwas zum Lernen: Diktate, Zahlen, Aufgaben. Um vier Uhr trägt man den bis auf die letzten Brosamen leergegessenen Korb wieder nach Hause.

» … Fräulein Betty Clère …?«

»Herr Walrügis …?« antwortete das Mädchen.

»Du scheinst nicht darauf zu achten, was ich diktiere. Wo bin ich stehengeblieben, bitte?«

»Im Augenblick«, sagte Betty stammelnd, »da Tell sich weigert, den Hut zu grüßen …«

»Falsch! Wir sind nicht mehr beim Gesslerhut, sondern beim Apfel welcher Sorte auch immer!«

Betty Clère senkte ganz verwirrt den Blick, nachdem sie mich mit ihren lieben Augen angeschaut hatte, die mir so sehr gefielen.

»Zweifellos«, setzte Herr Walrügis ironisch hinzu, »hätten Sie mit Ihrer Vorliebe für Lieder mehr Freude an dieser Geschichte, wenn sie, statt vorgelesen, gesungen würde! Aber nie wird es ein Komponist wagen, ein solches Thema in Musik umzusetzen!«

Vielleicht hatte unser Schulmeister recht? Welcher Komponist würde sich anmaßen, solche Töne anzuschlagen …! Und doch, wer weiß …? Vielleicht in der Zukunft …?

Aber Herr Walrügis fährt mit seinem Diktat fort. Ob groß oder klein, wir sind ganz Ohr. Man könnte den Pfeil von Wilhelm Tell durch das Klassenzimmer schwirren hören … das hundertste Mal seit den letzten Schulferien.

II

Mit Sicherheit räumt Herr Walrügis der Musik lediglich einen sehr untergeordneten Rang ein. Hat er recht? Wir waren damals zu jung, um uns darüber eine Meinung zu bilden. Denkt bloß, ich gehörte zu den Großen und war noch keine zehn Jahre alt. Und doch liebte ein gutes Dutzend von uns die Heimatlieder, die alten Abendlieder und auch die kirchlichen Festhymnen sowie die Wechselgesänge aus dem Chorgesangbuch, wenn die Orgel der Kalfermatter Kirche sie begleitete. Dann erzittern die Glasscheiben der Fenster, die Kinder des Schülerchors lassen ihre Stimmen im Falsett ertönen, die Weihrauchkessel schwanken hin und her, und es ist, als ob die Liedstrophen, die Motetten, die Wechselgesänge inmitten der duftenden Dämpfe davonschweben würden …

Ich möchte mich nicht selbst rühmen, das ist eine Untugend, und obwohl ich zu den Besten der Klasse gehörte, ist es nicht an mir, das zu sagen. Wenn ihr mich jetzt fragt, weshalb man mir, Joseph Müller, dem Sohn des Wilhelm Müller und der Margarete Haas, heute als Nachfolger seines Vaters Posthalter in Kalfermatt, den Übernamen Dis gab und weshalb Betty Clère, Tochter des Hans Clère und der Jenny Rose, Gastwirte am genannten Ort, den Übernamen Es bekam, so kann ich euch antworten: »Geduld, ihr werdet es gleich erfahren. Geht nicht schneller voran, als es sich gehört, meine lieben Kinder.« Sicher ist, daß unsere beiden Stimmen sich vortrefflich miteinander vermählten, während wir darauf warteten, uns selbst miteinander zu vermählen. Und zu dem Zeitpunkt, da ich diese Geschichte aufschreibe, bin ich schon in einem schönen Alter, meine lieben Kinder, und weiß Bescheid über Dinge, die ich damals – sogar auf musikalischem Gebiet – noch nicht wußte.

Ja, Herr Dis hat Fräulein Es geheiratet, und wir sind sehr glücklich geworden, und unsere Geschäfte waren dank Fleiß und gutem Benehmen erfolgreich! Wenn ein Posthalter sich nicht zu benehmen wüßte, wer weiß …

Also, vor etwa vierzig Jahren sangen wir in der Kirche, denn ich muß euch sagen, daß die kleinen Mädchen wie auch die kleinen Knaben der Singschule von Kalfermatt angehörten. Man fand dies nicht unpassend, und das mit Recht. Wer hat sich schon je darüber Sorgen gemacht, ob die Engel im Himmel männlichen oder weiblichen Geschlechts sind?

III

Der Schülerchor unseres Marktfleckens war dank seinem Leiter, dem Organisten Eglisack, weitherum bekannt. Was war er doch für ein Meister im Solfeggieren, und mit wieviel Geschick ließ er uns Stimmübungen machen! Erstaunlich, wie er uns den Takt, die Notenlänge, die Klangfarbe, den Grundton, die Tonleiter beibrachte! Sehr tüchtig war er, wirklich sehr tüchtig, der ehrenwerte Eglisack … Man sagte von ihm, er sei ein genialer Musiker, ein unübertroffener Kontrapunktist, und er habe eine außergewöhnliche Fuge, eine vierstimmige Fuge komponiert.

Da wir nicht so recht wußten, was das war, fragten wir ihn eines Tages danach.

»Eine Fuge«, antwortete er und hob seinen Kopf, der die Form einer Baßgeige hatte.

»Ist es ein Musikstück?« fragte ich.

»Ein Stück erhabener Musik, mein Kind.«

»Wir möchten es gerne hören«, rief ein kleiner Italiener namens Farina, der eine hübsche Altstimme besaß, die hinaufstieg … und hinaufstieg … bis zum Himmel.

»Ja«, fügte der kleine Deutsche Albert Hockt hinzu, dessen Stimme hinabstieg … und hinabstieg … bis auf den Grund der Erde.

»Bitte, Herr Eglisack …!« wiederholten die anderen kleinen Knaben und Mädchen.

»Nein, Kinder. Ihr werdet meine Fuge erst kennenlernen, wenn sie vollendet ist …«

»Und wann wird das sein?« fragte ich.

»Nie.«

Wir blickten uns an, und er lächelte hintergründig.

»Eine Fuge ist nie vollendet«, sagte er zu uns. »Man kann immer neue Stimmen hinzufügen.«

Also bekommen wir die berühmte Fuge des weltlichen Eglisack nie zu Gehör; aber er hatte den Hymnus zu Ehren des heiligen Johannes für uns in Musik umgesetzt, ihr wißt ja, jenen Psalm, dessen Anfangssilben Guido d'Arezzo zur italienischen Bezeichnung der Töne verwendete:

Ut (Do) queant laxis

Resonare fibris

Mira gestorum

Famuli tuorum,

Solve polluti,

Labii reatum,

Sancte Joannes.

Das Si existierte zur Zeit von Guido d'Arezzo noch nicht. Erst im Jahr 1026 ergänzte ein gewisser Guido die Tonleiter, indem er den siebten Ton hinzufügte, und nach meiner Meinung hat er gut daran getan.

Wirklich, wenn wir diesen Hymnus sangen, waren die Leute von weither gekommen, nur um ihn zu hören. Was aber die Bedeutung dieser merkwürdigen Worte anbelangt, so kannte sie an der Schule niemand, nicht einmal Herr Walrügis. Man nahm an, es handle sich um Latein, aber das war nicht so sicher. Immerhin soll dieser Psalm am Tag des Jüngsten Gerichts gesungen werden, und sehr wahrscheinlich wird der Heilige Geist, der alle Sprachen kennt, ihn in das Idiom des Paradieses übersetzen.

 

Und trotzdem galt Herr Eglisack als ein großer Komponist. Unglücklicherweise litt er jedoch an einem sehr bedauernswerten Gebrechen, das die Tendenz hatte, sich zu verschlimmern: er wurde im Alter schwerhörig. Wir bemerkten es, aber er wollte es nicht zugeben. Übrigens schrien wir, wenn wir mit ihm sprachen, um ihm keinen Kummer zu bereiten, und es gelang uns, sein Trommelfell mit unseren Falsettstimmen in Schwingung zu versetzen. Aber die Stunde seiner völligen Taubheit nahte.

Es geschah an einem Sonntag, nach der Vesper. Der letzte Psalm der Komplet war soeben beendet, und Eglisack gab sich auf der Orgel den Launen seiner Phantasie hin. Er spielte, er spielte, und das wollte nicht mehr aufhören. Man wagte die Kirche nicht zu verlassen aus Furcht, ihn in Verlegenheit zu bringen. Aber da setzte der Balgtreter aus, ihn hatten die Kräfte verlassen. Der Orgel geht die Luft aus … Eglisack hat es nicht bemerkt. Seine Finger schlagen die Akkorde an, breiten die Arpeggien aus. Kein einziger Ton kommt heraus, und doch hört er sich immer noch in seiner Künstlerseele … Man hat begriffen: er ist vom Unglück getroffen worden. Niemand wagt es ihm zu sagen, obwohl der Balgtreter die enge Treppe von der Empore herabgestiegen ist …

Eglisack hörte nicht zu spielen auf. Und den ganzen Abend ging es so weiter, auch die ganze Nacht hindurch, und noch am nächsten Tag bewegte er seine Finger auf der stummen Tastatur. Man mußte ihn wegschleppen … Der Arme wurde sich endlich bewußt, daß er taub war. Aber das hinderte ihn nicht daran, seine Fuge zu vollenden. Er würde sie nie hören, das war alles.

Seit jenem Tage spielte in der Kirche von Kalfermatt die große Orgel nicht mehr.

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