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LUNATA

Spiel des Zufalls

Joseph Conrad

Spiel des Zufalls

© 1913 by Joseph Conrad

Erstmals erschienen 1913 unter dem Titel Chance

Aus dem Englischen von Ernst Wolfgang Freissler 1913

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

1. Jung Powell und sein Glück

2. Die Fynes und ihre Freundin

3. Der wirtschaftliche Aufschwung und das Kind

4. Die Erzieherin

5. Der Nachmittagstee

6. Flora

7. Auf dem Pflaster

8. Die »Ferndale«

9. Jung Powell sieht und hört

10. Treue Diener -- und ein Blinkfeuer

11. Anthony und Flora

12. Der große de Barral

13. Eine mondlose Nacht, der Himmel voller Sterne, tiefes Dunkel über dem Wasser

Über den Autor

1

Jung Powell und sein Glück

Er muß uns wohl durch das Fenster gesehen haben, als wir in der Jolle des Vierzehn-Tonnen-Kutters, der Marlow, meinem Gastfreund und Schiffsherrn, gehörte, zum Mittagessen fuhren. Wir halfen dem Jungen, den wir bei uns hatten, das Beiboot am Landungssteg festzumachen und gingen dann zu dem Gasthaus am Strand hinauf. Dort fanden wir unseren neuen Bekannten, der in würdiger Einsamkeit sein Mittagmahl am Kopfende eines langen Tisches verzehrte, weiß und unwirtlich wie eine Schneebank.

Die Röte seines scharf geschnittenen Gesichts mit dem kurzen Backenbart und dem welligen, eisengrauen Haupthaar war der einzige warme Lichtfleck in dem düsteren Raum, der durch das stimmungslose Tischtuch noch kälter wirkte. Wir kannten ihn schon vom Sehen als den Eigentümer eines kleinen Fünf-Tonnen-Kutters, den er offenbar allein segelte; er mochte einer der vielen begeisterten Sportsleute sein, die an der Themsemündung kreuzen. Als er aber zum ersten Male den Kellner scharf als »Steward« anredete, da wußten wir, daß er ein richtiger Seemann war.

Nun nahm er auch noch Gelegenheit, diesem selben Kellner die Langsamkeit vorzuwerfen, mit der das Essen aufgetragen wurde. Er tat es mit bemerkenswertem Nachdruck und wandte sich dann zu uns.

»Wenn wir auf See«, sagte er, »so an unsere Arbeit gingen, wie die Leute an Land, hoch und niedrig, an die ihre, dann könnten wir uns nie unser Brot verdienen. Niemand würde uns anheuern, und überdies könnte kein Schiff, das in der wurstigen Art gesegelt würde, je einen Hafen erreichen.«

Seitdem er das Seefahren aufgegeben, sei er nie aus der Verwunderung darüber herausgekommen, daß die gebildeten Leute nicht viel besser wären als die anderen. Keiner schien richtigen Stolz in seine Arbeit zu setzen: von den Spenglern angefangen, die ja einfach Diebe waren, bis hinauf zu den Zeitungsleuten (diese schien er für besonders gebildet zu halten), die nie und unter keinen Umständen einen zutreffenden Bericht über den geringfügigsten Vorfall geben konnten. Diese allgemeine Minderwertigkeit des »Landvolks«, wie er sich ausdrückte, schrieb er dem Mangel an Verantwortungsgefühl und dem Bewußtsein persönlicher Sicherheit zu.

»Sie wissen gut,« fuhr er fort, »daß, was immer sie auch tun, diese dichte, kleine Insel niemals kentern oder leckwerden und mit ihren Frauen und Kindern unter ihnen wegsacken wird.«

Von da an nahm das Gespräch eine besondere Wendung und drehte sich nun ausschließlich um das Leben auf See. Dabei gewann er sofort enge Fühlung mit Marlow, der zu seiner Zeit auch auf See gefahren war. Sie tauschten angeregt Erinnerungen aus, während ich stumm zuhörte, und waren einig darin, daß sie die glücklichste Zeit ihres Lebens als jüngste Offiziere auf guten Schiffen gehabt hatten, ohne andere Sorge auf der Welt als: auf See keine Freiwache zu versäumen und im Hafen keinen Augenblick Zeit und Gelegenheit, um an Land zu kommen. Sie waren auch einer Meinung über den stolzesten Augenblick in diesem Beruf, der nie aus praktischen oder Vernunftgründen ergriffen wird, sondern wegen seines romantischen Beiwerks. Das war der Augenblick, als sie ihre erste Prüfung bestanden und das Seeamt mit dem kostbaren Streifen blauen Papiers in der Hand verlassen hatten.

»An jenem Tage hätte ich die Königin nicht meine Kusine nennen mögen«, rief unser neuer Bekannter begeistert aus.

Zu jener Zeit fanden die Seeamtsprüfungen in St. Catherines Dockhouse auf Tower Hill statt, und er unterrichtete uns davon, daß er eine besondere Vorliebe für jene romantische Stätte habe: links die Gärten, rechts die Hauptfront der Münze, weiter ab die elenden, verfallenden Häuser, dann ein Droschkenstand, ein paar Schuhputzer, die am Rand des Bürgersteigs schwatzten, und ein mächtiges Polizistenpaar, das mit überlegenem Ausdruck nach dem Tor der Gastwirtschaft »Zum schwarzen Roß« jenseits der Straße hinübersah. Dies war der Ausschnitt der Welt, sagte er, der sich seinen Augen am schönsten Tage seines Lebens als erster darbot. Er war aus dem Hauptausgang von St. Catherines Dockhouse herausgetreten, als flügger Zweiter Offizier, nach einer bösen Stunde mit Kapitän R..., dem gefürchtetsten der drei Seeamtsprüfer, die damals für die Zulassung von Handelsmarineoffizieren im Hafen von London verantwortlich waren.

»Wir alle, die vor der Prüfung standen,« sagte er, »zitterten in unseren Schuhen beim bloßen Gedanken, vor ›ihn‹ zu kommen. Mich behielt er anderthalb Stunden in der Folterkammer und tat, als haßte er mich. Er hielt eine Hand über die Augen, ließ sie plötzlich sinken und sagte: ›Das genügt!‹ Bevor ich recht begriffen hatte, was er meinte, schob er mir schon einen blauen Zettel über den Tisch zu. Ich sprang auf, als hätte mein Stuhl Feuer gefangen.

›Danke, Herr‹, sagte ich und erwischte den Zettel.

›Guten Morgen und viel Glück‹, grunzte er.

Der alte Türhüter stürzte aus dem Ankleidezimmer heraus, mit meinem Hute in der Hand. Das tun sie immer. Aber er sah mich scharf an, bevor er in schüchternem Flüsterton zu fragen wagte: ›Gut durchgekommen, Herr?‹ Statt jeder Antwort ließ ich ein Goldstück in seine weiche, breite Hand gleiten; und er, mit einem plötzlichen Grinsen von Ohr zu Ohr: ›Nun, ich weiß mich nicht zu erinnern, daß er einen der Herren je so lange zurückbehalten hätte. Zwei Offiziere hat er heute früh schon geworfen, bevor die Reihe an Sie kam. Keine zwanzig Minuten für jeden; das ist so seine Zeit.‹

Ich fand mich unten an der Treppe, ohne die Stufen gemerkt zu haben, als wäre ich sie hinuntergeschwommen. Der schönste Tag meines Lebens. Der Tag, an dem man sein erstes Kommando bekommt, ist nichts dagegen. Denn erstens einmal ist man dann nicht mehr so jung, und zum zweiten bleibt für unsereinen nachher nicht mehr viel zu erwarten. Ja, ja, der schönste Tag im Leben, ohne Frage. Aber es ist eben auch nur ein Tag und nicht mehr. Was nachher kommt, ist so ziemlich die widerwärtigste Zeit für einen Jungmann. Die Jagd nach einem Offiziersposten, ohne mehr aufweisen zu können als ein nagelneues Patent. Es ist ganz erstaunlich, wie nutzlos einem das Stück Eselshaut vorkommt, um das man sich soviel Mühe gemacht hat. Mir ging es nicht gleich auf, daß ein Zeugnis vom Handelsamt noch nicht den Offizier macht, bei weitem nicht. Die Schiffer aber, die ich mit Fragen bestürmte, wußten es sehr wohl. Heute wundere ich mich nicht mehr darüber und mache ihnen auch keinen Vorwurf daraus. Aber diese ›Suche nach einem Schiff‹ ist für einen Jungmann doch recht hart ...«

Er erzählte dann weiter, wie müde er war und wie entmutigt durch diese Enttäuschung, die so rasch auf den schönsten Tag seines Lebens gefolgt war. Er erzählte uns, wie er durch alle Reedereien der Stadt die Runde machte, regelmäßig von irgendeinem jungen Angestellten ein vorgedrucktes Bewerbungsformular bekam und es dann abends zu Hause ausfüllte. Kurz vor Mitternacht pflegte er auf die Straße zu laufen, um es in den nächsten Briefkasten zu werfen. Und damit hatte es dann sein Bewenden. Mit seinen eigenen Worten: er hätte sie ebensogut sauber adressiert und frankiert in den nächsten Rinnstein werfen können.

Dann traf er eines Tages, als er wieder seinen Leidensweg zu den Docks machte, vor dem Fenchurch Street-Bahnhof einen Freund und ehemaligen Schiffskameraden, der um ein paar Jahre älter war. Er winselte um Mitleid, aber sein Freund hatte eben »ein Schiff bekommen«, am selben Morgen, und jagte nun heim, in dem Zustand äußeren Jubels und innerer Unrast, jedem Seemann geläufig, der nach langer Wartezeit plötzlich einen Posten findet. Der Freund hatte nur wenig Zeit, ihn zu bedauern. Er mußte sich beeilen. Während er davonstürzte, rief er ihm aber doch über die Schulter zurück zu: »Warum gehst du nicht zu Herrn Powell im Heuerbureau und redest mit ihm?« Unser Freund wandte ein, daß er Herrn Powell nicht besser kenne als Vater Adam. Und der andere, fast schon um die nächste Ecke, brüllte noch den Rat: »Geh durch den Privateingang des Heuerbureaus gerade zu ihm hin. Sein Tisch ist am Fenster. Geh kalt hin und sage, ich schickte dich!«

 

Unser neuer Bekannter sah uns nochmals an und erklärte: »Meiner Treu, ich war so verzweifelt, daß ich ruhig zum Teufel selbst hingegangen wäre, auf die bloße Andeutung hin, er hätte einen Offiziersposten zu vergeben.« An diesem Punkte seiner Erzählung war es, daß er, ohne den Blick von uns zu wenden, den Fluß seiner Rede unterbrach, um seine Pfeife anzuzünden. Dabei erkundigte er sich, ob wir Powell gekannt hätten. Marlow murmelte mit leisem Lächeln, daß er sich seiner sehr gut erinnern könne.

Dann war es still. Unser neuer Bekannter war mit seiner Pfeife übers Kreuz gekommen. Irgendeine Schwierigkeit hatte plötzlich sein Vertrauen in sie zerstört und seiner Vorfreude auf genießerische Hingabe ein Ende gemacht. Um die Kugel im Rollen zu halten, fragte ich Marlow, ob dieser Powell irgendwie bemerkenswert wäre.

»Nicht gerade das«, gab Marlow mit seiner gewohnten Nachlässigkeit zurück. »Im allgemeinen ist es recht schwierig, bemerkt zu werden. Die Leute beachten einen nie genügend, weißt du. Ich kann mich nur deswegen so gut an Powell erinnern, weil er mir als Heuerbas im Hafen von London öfter als einmal während meiner Pilgerfahrt zur See auf weite Fahrt hinausgeholfen hat. Er erinnerte an Sokrates. Ich meine, im wahren Sinne: im Gesicht. Ein philosophischer Geist ist ja nur ein Zufall. Er glich aufs Haar der bekannten Büste des unsterblichen Weisen, wenn du dir diese Büste mit einem weit aus der Stirne geschobenen Zylinderhut vorstellst und mit einem schwarzen Rock über den Schultern. Da ich ihn nie anders gesehen habe, als von der anderen Seite des langen, niedrigen Schalters her, hinter dem die fünf Schreibtische der fünf Heuerbase aufgestellt waren, so wird mir Herr Powell immer als Büste in Erinnerung bleiben.«

Unser neuer Bekannter hatte seine Pfeife in Ordnung gebracht und kam nun vom Kamin zu uns herüber.

»Das Bemerkenswerteste an Powell war, daß er gerade so hieß«, betonte er gewichtig, während sein Haupt in einer Rauchwolke verschwand. »Sie müssen nämlich wissen, daß ich zufällig auch Powell heiße.«

Es war offensichtlich, daß uns diese Eröffnung nicht aus gesellschaftlichen Gründen gemacht wurde. Jede Antwort darauf erübrigte sich. Wir sahen ihn unverwandt und erwartungsvoll an.

Ein oder zwei Minuten lang gab er sich stumm und schlemmerhaft dem Genusse seiner Pfeife hin. Dann nahm er den Faden seiner Geschichte wieder auf und erzählte uns, wie er sich geradeswegs nach Tower Hill begeben hatte. Er war seit dem Prüfungstage nicht mehr dort gewesen, jenem herrlichsten Tag seines Lebens, dem Tag übermütigsten Stolzes. Nun sah es sich anders an. Immer noch nicht hätte er die Königin seine Kusine nennen mögen, diesmal aber aus einem Gefühl tiefster Zerknirschung heraus. Er hielt sich nicht mehr für gut genug zu irgend jemandes Verwandtschaft. Er beneidete die blaunasigen alten Droschkenkutscher auf ihrem Stand, die Schuhputzerjungen am Rande des Bürgersteigs, die mächtigen Schutzleute, die langsam das Gitter der Toweranlagen entlang wandelten, im vollen Bewußtsein ihrer Machtfülle; er beneidete die zinnoberroten Schildwachen, die flott vor der Münze auf und ab liefen, neidete ihnen ihre Stellung im Arbeitskomplex der Welt. Er beneidete sogar die elenden, blassen Bettler mit ihren hageren Gesichtern, die aus Lasteraugen blinzelten und ihre schmierigen Schultern gegen die Torpfeiler des »Schwarzen Rosses« rieben, beneidete sie, weil sie zu weit gesunken waren, um ihre Entwürdigung noch zu empfinden. Ich muß es dem Manne unbedingt zuerkennen, daß er es uns wahrhaft nahe zu bringen wußte, wie bitter er in seiner jugendlichen Hoffnungsfreude enttäuscht worden war, als sich der Platz an der Sonne und die Daseinsberechtigung nicht gleich finden wollten.

Er stieg also die Freitreppe zu St. Catherines Dockhouse hinan, gerade die Treppe, von der aus er etwa sechs Wochen früher den Droschkenstand, die Häuser, die Schuhputzer, die Schutzleute, die Malerei, Vergoldung und die Spiegelscheiben des »Schwarzen Rosses« mit Siegermiene überblickt hatte. Damals war er im Grunde seines Herzens überrascht gewesen, daß diese alle ihm nicht mit Gesang und Weihrauch gehuldigt hatten; jetzt aber (er machte kein Geheimnis daraus) drückte er sich ganz verstohlen an den Glasfenstern des Pförtners vorbei.

»Ich hatte kein Goldstück mehr für Trinkgeld übrig«, bemerkte er grimmig. Der Mann lief ihm nach und fragte: »Was wünschen Sie?« Aber mit einem Blick nach dem ersten Stock hinauf, in dankbarer Erinnerung an Kapitän R...s Prüfungszimmer (wie leicht und einfach das alles gewesen war!), rannte er eine Stiege ins Kellergeschoß hinunter und befand sich alsbald an einem Orte voll Dämmern und Geheimnis, mit vielen Türen. Er hatte befürchtet, durch irgendein Eintrittsverbot aufgehalten zu werden. Aber er wurde nicht verfolgt.

Die Kellerräume von St. Catherines Dockhouse sind weitläufig und verwirrend angelegt. Schwache Lichtbündel fallen schräg von oben in das Gewinkel feuchter Gänge. Powell wanderte dort auf und ab wie einer der flüchtigen Urchristen in den Katakomben; und selbst der letzte Rest von Glauben an den Erfolg seines Unternehmens begann ihm nun aus den Fingerspitzen zu entschwinden. An einer dunklen Ecke, unter einem Gasarm, dessen Flamme kleingestellt war, verließ ihn sein Selbstvertrauen ganz und gar.

»Was wollen Sie? Es gehört schon was dazu, einen Wildfremden um einen Gefallen zu bitten! Ich wollte, mein Namensvetter wäre der Teufel selbst gewesen. Ich hatte ein unbestimmtes Gefühl, als wäre mir die Aufgabe dann leichter gefallen. -- Ich habe nie stark genug an den Teufel geglaubt, um ihn zu fürchten. Sehen Sie, ein Mann dagegen kann schon recht unangenehm werden. Ich sah mir die verschiedenen festgeschlossenen Türen an, mit der wachsenden Überzeugung, daß ich nie den Mut aufbringen würde, eine davon zu öffnen. Denken wirkt immer ungünstig auf die Nerven. Ich kam zu dem Entschluß, die ganze Sache aufzugeben. Aber zu guter Letzt habe ich doch nicht nachgegeben, und ich will Ihnen sagen, was mich dazu bestimmte. Es war die Erinnerung an jenen verwünschten Pförtner, der mir nachgerufen hatte. Ich war überzeugt, daß der Kerl oben an der Treppe nach mir Ausschau hielt. Wenn er mich fragte, was ich gewollt hätte, wozu er das volle Recht hatte, und ich wußte keine Antwort, so mußte ich dadurch zum mindesten lächerlich wirken, wenn nicht schlimmer. Es wurde mir sehr heiß. Ich sah keine Möglichkeit, mich aus der Affäre zu ziehen.

Ich hatte da unten jede Orientierung verloren. Von den vielen Türen verschiedener Größe hatten einige Oberlichter. Andere aber müssen einfach in Holzräume oder wohin geführt haben; denn als ich es schließlich über mich brachte, eine oder die andere zu versuchen, fand ich sie zu meiner Verwirrung versperrt. Ich stand unentschlossen und unsicher da, wie ein ertappter Dieb. Der gräßliche Keller war still wie ein Grab, und ich hörte mein Herz klopfen. Sehr ungemütlich! Ist mir vorher wie nachher nie wieder geschehen! -- Eine größere Tür zu meiner Linken, mit einem wuchtigen Messinggriff, sah aus, als ob sie vielleicht in das Heuerbureau führen könnte. Ich machte einen Versuch, mit zusammengebissenen Zähnen. ›Vorwärts!‹

Die Türe ging ganz leicht auf, und der Raum, in den sie führte, war kaum größer als ein Schrank. Jedenfalls war er nicht größer als dreieinhalb zu vier Meter, und da ich irgendwie darauf gefaßt war, das Heuerkontor groß, düster, kellerartig zu finden, wie ich es von ein oder zwei früheren Besuchen in schattenhafter Erinnerung hatte, so war ich außerordentlich erstaunt. Ein Gasarm hing von der Mitte der Zimmerdecke über einen dunklen, schäbigen Schreibtisch, der mit einer Menge vergilbter, staubiger Akten bedeckt war. Unter der Flamme des einzigen Gasbrenners, der den Raum mit einer Lichtfülle überflutete, saß ein unscheinbarer, kleiner Mann, eifrig schreibend, die Nase fast auf dem Tisch. Sein Kopf war völlig kahl und von annähernd derselben Farbe wie die Papiere. Auch er machte einen ziemlich staubigen Eindruck.

Ich habe nicht festgestellt, ob er Spinngewebe an sich hatte, aber es hätte mich nicht gewundert, wenn welche da gewesen wären, denn der ganze Mann machte den Eindruck, als sei er seit Jahren in diesem Loche eingekerkert gewesen. Die Art, in der er seine Feder sinken ließ und nach mir schielte, war mir sehr unangenehm. Sein Kerker war heiß und stickig, er roch nach Gas und Pilzen und schien mindestens vierzig Meter unter der Erde zu liegen. Massige Papierstöße füllten alle Ecken des Zimmers an, fast bis zur Decke hinauf. Und als mir plötzlich der Gedanke kam, daß dies die Geschäftsräume des Seeamts waren und daß dieser Mensch irgendwie mit Schiffen, Matrosen und mit der See zu tun hatte, da raubte mir das Erstaunen den Atem. Man konnte sich nicht vorstellen, warum das Seeamt wohl dieses kahlköpfige Geschöpf hier unten fronen ließ. Aus irgendwelchem Grunde empfand ich Bedauern und Beschämung darüber, daß ich ihn in seiner Gefangenschaft aufgespürt hatte. Ich erkundigte mich sanft und bekümmert: ›Das Heuerkontor, bitte!‹

Er krächzte mich mit einer verächtlichen, piepsigen Stimme an, daß ich zusammenfuhr: ›Nicht hier. Versuchen Sie den Gang auf der anderen Seite. Straßenseite. Dies ist die Dockseite. Sie haben sich verirrt ...‹

Er sprach in einem so wegwerfenden Ton, daß ich glaubte, er würde seinen Worten etwa ein ›Sie Idiot‹ folgen lassen, und vielleicht war das wirklich seine Absicht. Aber dann endigte er kurz mit: ›Schließen Sie die Tür ruhig hinter sich!‹

Und Sie können mir glauben, ich habe sie ruhig hinter mir geschlossen. Ruhig und rasch. Der ungebrochene Geist des Burschen machte mir Eindruck. Ich denke manchmal, ob er es wohl fertiggebracht hat, sich Freiheit und eine Pension zu erschreiben, oder ob er aus seinem gaserleuchteten Grab geradeswegs in jenes andere, dunkle gehen mußte, wo niemand würde eindringen wollen. Es war mir eine Freude, zu sehen, daß er noch soviel Schneid hatte, aber ich selbst war nicht im geringsten getröstet. Ich bedachte, daß, wenn Herr Powell ein ähnliches Temperament an den Tag legte ... Doch nahm ich mir keine Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen, und eilte über den Platz am Fuße der Treppe in den Gang, in den man mich gewiesen hatte. Ich versuchte gleich die erste Türe, zu der ich kam, ohne jedes Zögern, denn vom oberen Gang drang laut eine erstaunte, fast empörte Stimme zu mir, die wissen wollte, was ich eigentlich da unten triebe: ›Wissen Sie denn nicht, daß dort der Zutritt verboten ist?‹ donnerte es. Dem Weiteren entzog ich mich hastig, indem ich durch eine Tür trat, die die Aufschrift ›Privat‹ trug. Ich befand mich in einem schmalen, etwa zwei Meter breiten Raum, den eine lange, niedrige Schalterwand von einem geräumigen Zimmer mit gewölbter Decke abtrennte. Das Tageslicht drang nur durch ein vergittertes Fenster ein und durch eine Glastür am anderen Ende des Raumes. Das erste, was ich unmittelbar vor mir sah, waren drei ältere Männer, die eine Art Spiel zu treiben schienen, rund um einen anderen Kerl herum, mit langem, dünnem Hals und hängenden Schultern; dieser stand an einem Pult und schrieb unaufhörlich auf einen großen Bogen, ohne den Dreien anders als durch ein Lächeln Beachtung zu schenken. Sobald ich eintrat, wurden sie alle sehr förmlich, und ich hörte, wie der eine murmelte: ›Nanu, was haben wir denn da?‹

›Ich möchte Herrn Powell sprechen, bitte‹, sagte ich höflich, aber bestimmt. Nichts sollte mich jetzt noch abschrecken können. Dies war ohne Zweifel das Heuerkontor. Es war nach drei Uhr nachmittags, und der Betrieb schien für den Tag beendigt zu sein. Der langhalsige Kerl fuhr unbeirrt in seiner Schreiberei fort. Ich bemerkte, daß er nun nicht mehr lächelte. Die drei anderen steckten am anderen Ende des Zimmers die Köpfe zusammen, wo ein fünfter Mann ihren Sprüngen von einem hohen Stuhle aus zugesehen hatte. Auf ihn ging ich zu, mutig, als sei er der Teufel selbst. Er hatte den einen Fuß auf dem Querholz seines Stuhles aufgestützt und schwang unaufhörlich den anderen, der ein gutes Stück von dem Steinboden entfernt war, hin und her. Er hatte seine Weste oben aufgeknöpft und seinen hohen Hut weit auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Er hatte ein rundliches, runzelloses Gesicht und so lebhafte Augen, daß sein grauer Bart wie eine Verkleidung wirkte. Sie sagten eben, er sähe Sokrates ähnlich, nicht wahr? Ich weiß nicht recht. Dieser Sokrates war, glaube ich, ein weiser Mann?«

»Das war er,« stimmte Marlow bei, »und ein wahrer Freund der Jugend. Er predigte ihr in einer besonders aufreizenden Weise. Das war so seine Art.«

»Dann ziehe ich Powell unbedingt vor«, erklärte sofort unser neuer Bekannter. »Er hat mir in keiner Weise gepredigt, alles eher. Er sagte auf mein schüchternes Gemurmel hin ganz freundlich: ›Guten Tag‹. Und dann, mich musternd: ›Ich glaube nicht, daß ich Sie kenne, -- oder?‹

 

›Nein‹, sagte ich, und schon rutschte mir das Herz in die Stiefel hinunter, gerade in dem Augenblick, wo ich alle meine Kaltblütigkeit nötig gehabt hätte. Es gibt nichts Jämmerlicheres in der Welt als Unverschämtheit, die nicht vollendet durchgeführt wird. Aus Angst, schüchtern zu erscheinen, legte ich so selbstverständlich los, daß ich vor mir selbst förmlich erschrak. Er hörte eine Weile zu, sah mir erstaunt und neugierig ins Gesicht und hob dann die Hand. Ich sage Ihnen, ich war herzlich froh, abbrechen zu können.

›Na, Sie sind mir ja ein kalter Junge,‹ sagte er, ›Sie und Ihr Freund! Er saß mir im Genick und kam zwei Wochen lang täglich, bis ein mir befreundeter Kapitän so gut war, ihn anzunehmen. Und kaum ist er versorgt, da schickt er Sie her! Euch Anfängern scheint es egal zu sein, wem ihr die Suppe versalzt!‹

Nun war es an mir, ihn voll Neugierde und Staunen anzusehen. Er hatte nicht sehr laut gesprochen, jetzt aber dämpfte er seine Stimme noch mehr. ›Wissen Sie nicht, daß es gegen das Gesetz ist?‹

Ich fragte mich, wo er eigentlich hinaus wollte, als ich mich plötzlich erinnerte, daß es gesetzlich verboten war, einem Seemann eine Heuer zu verschaffen. Diese Klausel richtete sich natürlich gegen den Schwindel, den die Matrosenmakler betrieben. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, daß diese Regel für alle galt, ohne Rücksicht auf die Gründe, denn ich nahm damals eben noch an, daß die Leute an Land ihre Arbeit mit Sorgfalt und Bedacht tun.

Ich war förmlich zerschmettert bei dem Gedanken; aber Herr Powell machte mir sehr bald klar, daß eine Parlamentsakte an und für sich gar keinen Sinn hat. Sie hat nur den Sinn, den man hineinlegt, und der ist mitunter sehr gering. Er habe gar nichts dagegen, hie und da einem jungen Manne zu einem Schiff zu verhelfen, sagte er, aber wenn wir nun so täglich daherkämen, würde es sich bald herumsprechen, daß er es gegen Bezahlung täte.

Das wäre dann recht nett! Der erste Heuerbas im Hafen von London polizeilich vorgeführt und zu fünfzig Pfund Strafe verurteilt ..! ›Ich muß noch vier Jahre dienen,‹ sagte er, ›bevor ich die volle Pension bekomme. Man könnte die Sache sehr zu meinen Ungunsten auslegen, darüber besteht gar kein Zweifel‹, sagte er. Und dabei hielt er fortwährend das eine Knie hochgezogen, schlenkerte mit dem anderen Bein, wie ein Junge auf dem Gartenzaun, und sah mir mit seinen glänzenden Augen scharf ins Gesicht. Ich war sehr bestürzt, sage ich Ihnen. Die bloße Andeutung, daß irgend jemand es wagen würde, ihn anzuzeigen, machte mich ganz krank.

›Aber nein, so gemein wird doch niemand sein‹, stammelte ich entsetzt. Ich nahm ihm die bloße Annahme einer solchen Möglichkeit fast übel. ›Niemand?‹ sagte er leise vor sich hin. ›Der erstbeste, vielleicht einer der Amtsdiener. Ich habe mich zum Senior dieser Kanzlei hochgearbeitet, und wir sind alle die besten Freunde. Aber glauben Sie nicht, daß mein Kollege dort am nächsten Pult es begrüßen würde, wenn er vier Jahre vor der bestimmten Zeit auf diesen Platz am Fenster vorrücken könnte? Oder auch nur ein Jahr früher, vielleicht? Es ist einfach menschlich!‹

Ich konnte nicht umhin, mich nach den anderen umzusehen. Die drei alten Knaben, die bei meinem Eintritt gefaulenzt hatten, unterhielten sich nun ganz ernsthaft, und der langhalsige Mensch schrieb immer noch. Er schien mir der gefährlichste von allen zu sein. Ich sah ihn von der Seite, und seine Lippen waren fest zusammengepreßt. Nie zuvor hatte ich mir ein menschliches Wesen daraufhin angesehen. Solange man jung ist, will man von der Menschennatur nichts wissen. Meine Beobachtungen fanden ein plötzliches Ende, als ich sah, wie sich die Tür, durch die ich eingetreten war, langsam öffnete und sich ein Kopf mit Dienstmütze hereinschob. Es war der verwünschte Pförtner von der Eingangshalle. Er hatte mich zu Bau gejagt und wollte mich nun wohl auch wieder sprengen. Er kam durch die Kanzlei daher, mit selbstgefälligem Schmunzeln, und spielte mit der Mütze zwischen den Fingern.

›Was gibt's, Symons?‹ fragte Herr Powell.

›Ich habe mich nur umsehen wollen, wo der Herr da hingehen wollte, Herr.‹

›Schon gut, Symons, ich kenne den Herrn‹, erläuterte Herr Powell, ernst wie ein Richter.

›Sehr wohl, Herr. Natürlich, Herr! Aber ich sah den Herrn hier unten mit den Türen Verstecken spielen, und so ...‹

›Es ist schon gut‹, unterbrach Herr Powell seinen Redeschwall und winkte ihm mit der Hand ab; erst als der alte Wicht hinausgegangen war, blickte er zu mir auf. Ich war stark im Zweifel, was ich tun sollte: dableiben, oder fortlaufen, oder mich entschuldigen.

›Nun also,‹ sagte er, ›wie war doch Ihr Name?‹

Sie müssen nun wissen, daß er mich überhaupt noch nicht nach meinem Namen gefragt hatte, und die Frage setzte mich in neue Verlegenheit. Ich konnte mich nicht entschließen, ihm seinen eigenen Namen sozusagen an den Kopf zu werfen. So zog ich denn als Antwort meinen neuen Prüfungsschein aus der Tasche und legte ihn aufgeschlagen in seine Hand, so daß Charles Powell deutlich zu lesen war.

Er sah auf das Pergament und legte es nach einer Weile ruhig vor sich hin. Ich wußte nicht, ob er eine Bemerkung über den Zufall machen wollte. Bevor er jedoch Zeit hatte, irgend etwas zu sagen, öffnete sich die Glastür mit einem Ruck, und ein großer, lebhafter Mann eilte mit langen Schritten herein. Sein Gesicht unter dem Glanzhut war hochrot. Man konnte sofort erkennen, daß es der Kapitän eines großen Schiffes sein mußte.

Herr Powell flüsterte mir zu, ein wenig zu warten, und begrüßte dann den Fremden.

›Kapitän, ich habe alle Augenblicke erwartet, daß Sie sich Ihre neuen Musterrollen holen. Hier liegen sie alle bereit.‹ Damit wandte er sich zu einem Stoß von Papieren, die neben ihm lagen, und nahm die obersten zur Hand. Ich konnte von meinem Platz aus die Worte ›Schiff Ferndale‹ lesen, die in Rundschrift auf der ersten Seite geschrieben standen.

›Nein, Herr Powell, leider sind sie noch nicht erledigt‹, sagte der Kapitän. ›Ich muß Sie bitten, meinen Zweiten Offizier von der Liste zu streichen.‹ Er schien aufgeregt und besorgt und erklärte, daß sein Zweiter Offizier den ganzen Morgen über an Bord gearbeitet habe. Um ein Uhr sei er an Land gegangen, um etwas Essen zu kaufen, und sei um zwei Uhr noch nicht zurück gewesen. Statt seiner sei ein Bote vom Krankenhaus gekommen, mit einem von einem Arzte unterzeichneten Bericht: Schlüsselbein und einen Arm gebrochen. Hatte sich einfach von einem Zweispänner vor dem Hafentor überrennen lassen, als er über die Straße ging, als hätte er weder Ohren noch Augen im Kopfe. Dabei liege das Schiff klar zur Abfahrt für den nächsten Morgen sechs Uhr.

Herr Powell nahm seine Feder und begann in den Papieren zu blättern. ›Dann müssen wir eben seinen Namen streichen‹, sagte er scheinbar unbekümmert vor sich hin.

›Aber was soll ich tun?‹ platzte der Kapitän los. ›Dieses Amt schließt um vier Uhr. Ich kann nicht in einer halben Stunde einen Offizier finden.‹

›Dieses Amt schließt um vier Uhr‹, wiederholt Herr Powell, überfliegt dabei die Seiten und ergänzt da und dort einen Buchstaben.

›Selbst wenn ich es fertig brächte, heute noch einen Mann zu finden, der in so kurzer Frist antreten könnte, so könnte ich ihn doch hier nicht mehr regelrecht anmustern, nicht wahr?‹ Herr Powell war eingehend damit beschäftigt, die Eintragungen über jenen unglücklichen Zweiten Offizier mit seiner Feder zu durchkreuzen und eine Bemerkung an den Rand zu schreiben.

›Sie könnten ihn selbst an Bord einstellen,‹ sagte er, ohne aufzublicken, ›aber ich bezweifle, daß Sie so leicht einen Offizier finden werden, der so Hals über Kopf zu haben ist.‹

Auf diese Mitteilung, hin blickte der nette Kapitän sehr bestürzt drein. Das Schiff durfte auf keinen Fall die Morgenflut versäumen. Er sollte vor der Ausfahrt in See irgendwo unten an der Flußmündung noch 40 Tonnen Dynamit und 29 Tonnen Sprengpulver an Bord nehmen. Alles war schon für den nächsten Tag festgesetzt. Es würde unglaublichen Wirrwarr und Krach geben, wenn das Schiff nicht rechtzeitig an Ort und Stelle wäre ... Ich konnte nicht umhin, dies alles mit anzuhören, und wünschte dabei den Schiffer ungeduldig fort, denn ich brannte darauf, zu wissen, warum Herr Powell mich hatte warten lassen. Nach allem, was er mir gesagt hatte, schien es zwecklos, mich noch länger da herumzudrücken. Hätte ich mein Ausweispapier in der Tasche gehabt, dann hätte ich versucht, mich unauffällig davonzumachen. Aber Herr Powell hatte wieder die gleiche Stellung eingenommen wie vorher und schwang das eine Bein hin und her. Mein Papier lag offen auf dem Pulte unter seinem linken Ellbogen, so daß ich nicht gut hingehen und es wegnehmen konnte.

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