Mit den Augen des Westens

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Er ging zum Fenster und stand dort mit leicht geneigtem Kopf in der Erwartung des schwachen Klanges. »Ich bleibe hier stehen, bis ich irgend etwas höre«, sagte er zu sich selbst. Er stand regungslos, das Ohr den Scheiben zugekehrt. Eine grausame, quälende Mattigkeit, mit stechenden Schmerzen im Rücken und in den Beinen, überkam ihn. Er rührte sich nicht. Sein Geist schwankte an der Grenze des Irrsinns. Plötzlich hörte er sich selbst laut sagen: »Ich gestehe«, wie es ein Mensch auf der Folter tun mag; »ich bin auf der Folter«, dachte er. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Der schwache, tiefe Ton der fernen Uhr schien in seinem Kopfe zu explodieren – so deutlich hörte er ihn ... Eins!

Wenn Haldin ausgeblieben wäre, so hätte um diese Zeit schon die Polizei hier sein müssen, um das Haus zu durchsuchen. Kein Laut drang zu ihm. Jetzt war es getan.

Er schleppte sich mühsam zum Tisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Das Buch schleuderte er fort und griff nach einem Bogen Papier. Es war ein Blatt von dem gleichen Format wie die, die mit seiner zierlichen Handschrift bedeckt aufeinander lagen, nur weiß. Hastig ergriff er eine Feder und tauchte sie ein, in der verworrenen Absicht, an seinem Essay weiterzuschreiben. Doch die Feder blieb ruhig über dem Papier. Eine ganze Zeitlang hing sie da, bevor sie sich niedersenkte und lange klobige Buchstaben zu malen begann.

Mit unbewegtem Gesicht und zusammengepreßten Lippen begann Rasumoff zu schreiben. Wenn er groß schrieb, dann verlor seine Handschrift gänzlich ihren Charakter – und wurde unbeholfen und fast kindisch. Er schrieb fünf Zeilen untereinander:

Tradition und nicht Theorie.

Patriotismus und nicht Internationalismus.

Evolution, nicht Revolution.

Aufbau und nicht Zerstörung.

Einigkeit und nicht Auflösung.

Er sah in stummem Brüten auf das Blatt. Dann ging sein Blick zum Bett und blieb endlose Minuten daran haften, während seine rechte Hand den Tisch nach dem Federmesser abtastete.

Endlich erhob er sich, ging mit ein paar ruhigen Schritten zum Bett und heftete mit dem Federmesser das Blatt an die Mörtelwand über dem Kopfende. Hierauf trat er einen Schritt zurück und sah sich mit einer weiten Handbewegung im Zimmer um.

Dann sah er nicht mehr nach dem Bett. Er nahm seinen dicken Mantel vom Nagel, wickelte sich dicht hinein und legte sich auf das harte Roßhaarsofa auf der anderen Seite des Zimmers. Ein bleierner Schlaf schloß ihm sofort die Augen. Zu wiederholten Malen erwachte er in jener Nacht, noch voll Entsetzen über einen Traum, in dem er sich durch Schneewächten arbeitete, in einem Rußland, in dem er so völlig allein war wie nur je ein verratener Autokrat. Ein ungeheuerliches winterliches Rußland, das er aber in seiner ungeheuren Ausdehnung dennoch mit einem Blick umspannen konnte, als wäre es eine Landkarte. Doch nach jedem erschreckten Auffahren fielen ihm die Augen wieder zu, und er schlief weiter.


Bei diesem Punkt von Mr. Rasumoffs Geschichte angelangt, kommt mir einfachem altem Sprachlehrer die Schwierigkeit der Aufgabe mehr und mehr zum Bewußtsein.

Die Aufgabe liegt ja in Wahrheit nicht darin, ein fremdartiges Dokument möglichst sinngetreu in die erzählende Form zu bringen, sondern vielmehr darin, das sehe ich nun klar ein, die moralischen Grundsätze anschaulich zu machen, die einen großen Teil unserer Welt beherrschen; Voraussetzungen, die nicht leicht zu verstehen, geschweige denn im Rahmen einer Geschichte zu entdecken sind, wenn man nicht ein Schlüsselwort findet; ein Wort, das über all den anderen Worten stehen müßte, die die Seiten bedecken, und das, wenn nicht die volle Wahrheit an sich, doch wahr genug wäre, das Verständnis für die Lehre zu erschließen, die die Grundfrage in der Geschichte bilden soll.

Zum hundertsten Male durchblättere ich Rasumoffs Tagebuch, lege es beiseite, nehme die Feder auf und zögere dann doch wieder, schwarz auf weiß das eine Wort festzuhalten, das sich mir immer wieder in die Feder drängen will. Dieses eine Wort aber ist: Zynismus.

Denn dies ist das Kennwort für die russische Autokratie und die russische Rebellion. Der Stolz auf die Zahl, die geheime Freude am Schmerz und der Erniedrigung und das übertriebene Gottähnlichkeitsbewußtsein des einzelnen, diese Tatsachen, die in der jetzigen Strömung Rußlands unverkennbar sind, fallen in ihrer Gesamtheit mit Zynismus zusammen. Zynismus spricht aus den Erklärungen ihrer Staatsmänner, aus den Theorien ihrer Revolutionäre und aus den mystischen Prophezeiungen ihrer Seher, in dem Grade, daß die Freiheit als eine Art Ausschweifung erscheint und die christlichen Tugenden selbst fast unanständig ... Doch ich muß um Entschuldigung bitten, wenn ich vom Thema abgewichen bin. Die Wendung hat mich dazu veranlaßt, die Rasumoffs Geschichte nahm, nachdem seine innere Meinung, die zunächst einen, bei seiner Jugend natürlichen, liberalen Einschlag gezeigt hatte, nach der abschreckenden Berührung mit Haldin zu einem überzeugten Konservativismus erstarrt war.

Rasumoff wachte vielleicht zum zehnten Male auf und bebte vor Kälte. Da er das Tageslicht am Fenster sah, widerstand er der Versuchung, sich wieder niederzulegen. Er erinnerte sich an gar nichts, fand es aber nicht weiter verwunderlich, daß er so in seinem Mantel und durchgefroren bis auf das Mark auf dem Sofa erwachte. Das Licht, das durch das Fenster drang, schien merkwürdig trübe und erweckte keine Hoffnungen, wie es jeder neue Tag bei einem jungen Menschen tun sollte. Es war das Erwachen eines Todkranken oder eines Neunzigjährigen. Er sah auf die Lampe, die ausgebrannt war. Da stand sie nun, der verlöschte Leitstern seiner Arbeit, ein kaltes Ding aus Messing und Porzellan, zwischen den verstreuten Blättern seiner früheren Konzepte und den Bücherstößen. Das Ganze ein Chaos von geschwärztem Papier – tot und abgetan – ohne Bedeutung oder Interesse.

Er stand auf, entledigte sich seines Mantels und hängte ihn an den Rechen, alles mit mechanischen Bewegungen. Eine unglaubliche Stumpfheit, eine tote Ruhe, wie von stehendem Wasser, lag über seinem Begriffsvermögen, als hätte sich das Leben von allen Dingen zurückgezogen und sogar aus seinen eigenen Gedanken. Im Hause gab es keinen Laut.

Dann wandte er sich von dem Rechen ab und dachte in der gleichen leblosen Art, daß es noch recht früh sein müsse. Als er aber nach der Uhr auf dem Tisch sah, fand er beide Zeiger auf zwölf Uhr stehen.

»O ja«, murmelte er vor sich hin und begann, als wäre er erst richtig erwacht, sein Zimmer zu mustern. Das Blatt an der Wand erregte seine Aufmerksamkeit. Er fixierte es von weitem, ohne Zustimmung oder Überraschung; als er aber hörte, wie das Dienstmädchen im Vorraum an dem Samowar zu arbeiten begann, um seinen Frühstückstee zu bereiten, da ging er hin und nahm das Blatt herunter, mit dem Ausdruck größter Gleichgültigkeit.

Dabei sah er auf das Bett, in dem er diese Nacht nicht geschlafen hatte. Die Höhlung, die Haldins Kopf hineingedrückt hatte, war sehr auffallend.

Doch sogar der Ärger, den er angesichts dieses Erinnerungszeichens an die Gegenwart jenes anderen empfand, war stumpf, und er versuchte nicht, ihn heller zu entfachen. Er tat überhaupt nichts an jenem Tag; er unterließ es sogar, sich die Haare zu bürsten. Der Gedanke, auszugehen, kam ihm gar nicht in den Kopf – und wenn er sich auf keinen zusammenhängenden Gedankengang einließ, so war es nicht, weil er unfähig gewesen wäre, zu denken – es interessierte ihn nur nicht genügend.

Er gähnte oft, trank große Mengen Tee, ging ziellos im Zimmer herum, und sooft er sich niedersetzte, blieb er lange Zeit reglos sitzen. – Längere Zeit brachte er damit hin, ruhig mit den Fingerspitzen auf dem Fenster zu trommeln. Bei seinem achtlosen Umherwandern im Zimmer erblickte er plötzlich sein Bild im Spiegel, und das ließ ihn haltmachen. Die Augen, die seinen Blick erwiderten, waren die unglücklichsten, die er je gesehen hatte. Und dieser Eindruck war es, der zuerst die geistige Straße dieses Tages durchbrach.

Er fühlte sich nicht persönlich berührt, er dachte nur, daß Leben ohne Glück unmöglich sei. Was war Glück? Er gähnte und wanderte weiter zwischen den Wänden seines Zimmers herum. Vorwärtsblicken war Glück – nur das – nichts weiter. Vorwärts·blicken auf die Erfüllung eines Wunsches, einer Leidenschaft, Liebe, Ehrgeiz, Haß – zweifellos auch Haß. Liebe und Haß. Und den Gefahren des Daseins entgehen, ohne Angst leben, das war auch Glück, sonst gab es nichts. Keine Angst kennen – und vorwärts blicken. »O über das elende Los der Menschheit!« rief er aus und fügte sofort in Gedanken hinzu; »Ich sollte eigentlich glücklich genug sein, wenn es darauf ankäme.« Diese Versicherung aber erfreute ihn nicht, im Gegenteil, er gähnte wieder, wie er den ganzen Tag über gegähnt hatte. Er war einigermaßen überrascht, als die Nacht hereinbrach. Im Zimmer wurde es rasch dunkel, obwohl die Zeit scheinbar stillgestanden hatte. Wie ging es nur zu, daß er es nicht bemerkt hatte, wie dieser Tag verstrichen war? Natürlich, die Uhr war ja stehengeblieben …

Er zündete die Lampe nicht an, sondern ging zum Bett hin und warf sich ohne jedes Zögern darauf. Er lag auf dem Rücken, legte die Hände unter den Kopf und stierte zur Decke hinauf. Nach einem Augenblick dachte er: »Da liege ich nun wie jener Mensch. Ich möchte wohl wissen, ob er schlief, während ich mich im Schnee durch die Straßen kämpfte. Nein, er schlief nicht. Doch warum sollte ich nicht schlafen«, und er fühlte, wie die Stille der Nacht wie ein Gewicht auf alle seine Glieder drückte.

Durch die Lautlosigkeit der strengen Kälte draußen klangen scharf die Schläge der Stadtuhr, die Mitternacht kündeten.

 

Wieder begann er zu denken. Es waren vierundzwanzig Stunden, seit der andere seine Wohnung verlassen hatte. Rasumoff hatte das bestimmte Gefühl, daß Haldin in der Festung diese Nacht schlafen würde. Diese Gewißheit machte ihn ärgerlich, weil er nicht an Haldin denken wollte. Doch erklärte er es sich mit physiologischen und psychologischen Gründen. Der Kerl hatte seiner eigenen Angabe nach wochenlang nicht geschlafen, und nun hatte alle Ungewißheit ein Ende. Zweifellos sah er dem Ende seines Märtyrertums gern entgegen. Ein Mann, der den Entschluß gefaßt hat, zu töten, hat nicht weit zu dem anderen, selbst zu sterben. Vielleicht schlief Haldin besser als General T., dessen Arbeit – und auch die war hart – noch nicht getan war und über dessen Haupt das Damoklesschwert der Rebellenrache hing.

Rasumoff dachte an den untersetzten Mann, dessen feiste Backen auf dem Uniformkragen ruhten, an diesen Vorkämpfer der Autokratie, der sich kein Zeichen von Überraschung, Ungläubigkeit oder Freude hatte entschlüpfen lassen, dessen Glotzaugen aber einen tödlichen Haß gegen jede Rebellion ausdrücken konnten. Bei diesem Erinnern warf sich Rasumoff unruhig auf dem Bett herum.

»Er hatte mich im Verdacht«, dachte er, »ich glaube, ihm ist jedermann verdächtig. Seine eigene Frau hätte es werden können, wenn Haldin mit seiner Beichte in ihr Boudoir gegangen wäre.«

Rasumoff setzte sich angstvoll auf. »Sollte er für immer ein Verdächtiger bleiben? Sollte er durch sein Leben gehen als ein Mann, dem nicht völlig zu trauen war? Durch eine schlechte Zensur der Geheimpolizei gebrandmarkt? Welch einer Zukunft sollte er entgegenblicken?«

»Ich bin nun verdächtig«, dachte er wieder; aber die Gewohnheit geistiger Überlegung und der Wunsch nach Sicherheit, nach einem geordneten Leben, der so stark in ihm war, kamen ihm im Verlaufe der Nacht zu Hilfe. Sein ruhiges, geregeltes und arbeitsames Leben würde schließlich doch für seine Loyalität zeugen. Es gab viele erlaubte Wege, dem eigenen Land zu dienen. Es gab eine Betätigung, die den Fortschritt förderte, ohne revolutionär zu sein. Das Wirkungsfeld war groß und unendlich verschieden – wenn man sich erst einen Namen gemacht hatte.

Seine Gedanken kehrten wie ein Vogel, der im Kreise fliegt, nach vierundzwanzig Stunden zu der Silbernen Medaille zurück und setzten sich daran fest.

Als der Tag anbrach, hatte er nicht geschlafen, keinen Augenblick. Doch stand er nicht sehr müde auf und hinlänglich gekräftigt für jedes Vorhaben.

Er ging aus und hörte während des Vormittags drei Vorlesungen. Nachher in der Bibliothek aber war seine Sammlung nur ganz äußerlich. Er saß da mit vielen offenen Bänden vor sich und versuchte Notizen und Auszüge zu machen. Seine neu gewonnene Ruhe glich einem losen Gewand, das jedes zufällige Wort aufflattern machte. »Verrat! Wieso denn! Der Kerl hatte doch alles nur Erdenkliche getan, um sich selbst zu verraten. Es war wirklich nicht viel notwendig gewesen, um ihn zu täuschen.«

»Ich habe kein Wort zu ihm gesagt, das nicht absolut wahr gewesen wäre. Nicht ein Wort«, hielt Rasumoff sich selbst vor.

Da er sich einmal auf diese Gedanken eingelassen hatte, so konnte von irgendwelcher brauchbaren Arbeit keine Rede mehr sein. In ewiger Wiederholung gingen ihm die gleichen Gedanken durch den Kopf, und er sagte sich im Geiste ewig die gleichen Worte. Endlich schlug er alle Bücher zu und stopfte mit hastigen Bewegungen seine Papiere in die Tasche, in heller Wut gegen Haldin.

Als er die Bibliothek verließ, gesellte sich ein langer, knochiger Student in einem fadenscheinigen Überzieher zu ihm und schritt düster neben ihm her. Rasumoff erwiderte seinen gemurmelten Gruß, ohne ihn anzusehen.

»Was will er nur von mir«, fragte er sich mit einer merkwürdigen Furcht vor dem Unerwarteten, die er mit aller Macht abzuschütteln trachtete, damit sie sich nicht für immer und ewig in seinem Leben festsetzte. Der andere murmelte vorsichtig und mit gesenkten Augen die Frage, ob der Kamerad schon davon gehört habe, daß P.s Nachrichter – er brauchte diesen Ausdruck – vorgestern nacht verhaftet worden wäre ...

»Ich war krank, kam nicht aus dem Zimmer«, stieß Rasumoff zwischen den Zähnen hervor.

Der lange Student zog die Schultern hoch und bohrte die Hände tief in die Taschen. Er hatte ein haarloses, viereckiges, finniges Kinn, das leicht zitterte, wenn er sprach, und seine Nase, die der scharfe Frost grellrot gefärbt hatte, sah zwischen den eingefallenen Wangen wie eine falsche Nase aus angemaltem Pappendeckel aus. Seine ganze Erscheinung erweckte zwingend den Eindruck von Kälte und Hunger. Er schritt bedächtig an Rasumoffs Seite, die Augen zu Boden geschlagen.

»Es ist eine amtliche Bekanntmachung«, fuhr er mit dem gleichen vorsichtigen Murmeln fort, »es kann eine Lüge sein. Irgend jemand wurde aber in der Nacht vom Dienstag zwischen zwölf und ein Uhr verhaftet, das ist gewiß.«

Und während er nach außen hin seine harmlose Maske wahrte, erzählte er Rasumoff mit fliegenden Worten, daß man dies durch einen untergeordneten Regierungsbeamten aus dem Zentralsekretariat erfahren habe. »Dieser Mann gehört einem der revolutionären Vereine an, demselben, dem auch ich angehöre«, bemerkte der Student.

Sie kreuzten einen großen viereckigen Platz. Eine unendliche Traurigkeit überkam Rasumoff, lähmte seine Tatkraft, und vor seinen Augen erschien alles verworren und wie entschwindend. Er wagte es nicht, den Menschen einfach stehenzulassen. »Er könnte zur Polizei gehören«, fuhr es ihm durch den Kopf! »Wer kann das wissen?« Nach einem Blick auf die elende, verhungerte und verfrorene Erscheinung seines Gefährten kam ihm aber die Unhaltbarkeit dieser Vermutung zum Bewußtsein.

»Ich aber – müssen Sie wissen –, ich gehöre keinem Verein an. Ich ... «

Er wagte nicht mehr zu sagen, noch auch wagte er es, zu verlangen, daß der andere ihn in Ruhe lasse. Der hob seine elend beschuhten Füße und setzte sie nieder, bedächtig und taktfest, und versicherte dabei halblaut, daß es nicht für jedermann nötig sei, einer Organisation anzugehören. Die wertvollsten Persönlichkeiten blieben außerhalb. Die beste Arbeit würde außerhalb der Organisation vollbracht. – Dann plötzlich sehr rasch, mit flüsternden, fiebrigen Lippen:

»Der Mann, den man in der Straße verhaftet hat, war Haldin.«

Und da er Rasumoffs trübes Schweigen ganz natürlich fand, so versicherte er ihm, daß jeder Irrtum ausgeschlossen sei. Jener Regierungsschreiber hätte im Sekretariat Nachtdienst gehabt. Als er in der Vorhalle großen Lärm von Schritten hörte, öffnete er plötzlich die Tür seines Arbeitszimmers, da er wohl wußte, daß zuweilen politische Gefangene nachts aus der Festung herübergebracht wurden. Bevor noch der diensttuende Gendarm ihn zurückstoßen und ihm die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, hatte er gesehen, wie ein Gefangener von einer Schar von Schutzleuten durch die Halle halb getragen und halb gezerrt wurde. Man behandelte ihn sehr roh, und der Schreiber hatte Haldin mit Gewißheit erkannt. Kaum eine halbe Stunde später erschien General T. im Sekretariat, um den Gefangenen persönlich zu verhören.

»Sind Sie nicht überrascht, verwundert?« schloß der Student.

»Nein«, sagte Rasumoff barsch und bereute seine Antwort sofort.

»Alle Welt glaubte doch, daß Haldin in der Provinz sei, bei seinen Leuten. Sie nicht auch?«

Der Student richtete seine großen tiefliegenden Augen auf Rasumoff, der unvorsichtig zurückgab:

»Seine Leute sind verreist.«

Er hätte sich die Zunge abbeißen mögen vor Wut.

Der Student sagte in schwer bedeutungsvollem Ton: »So! Sie allein wußten ... « und brach ab.

»Sie haben mein Verderben geschworen ... «, dachte Rasumoff. »Haben Sie mit irgend jemand anderem darüber gesprochen?« fragte er dann laut, in bitterer Neugier.

Der andere schüttelte den Kopf.

»Nein, nur mit Ihnen. In unserem Verein dachte man, da Haldin sich öfters mit warmer Anerkennung über Ihren Charakter geäußert hatte, daß ... «

Rasumoff konnte eine Bewegung wütender Verzweiflung nicht unterdrücken, die aber der andere mißverstanden haben mußte, denn er hörte auf zu sprechen und wandte seine schwarzen Augen ab.

Sie gingen schweigend nebeneinander weiter. Da begann der lange Student wieder mit abgewandtem Blick zu flüstern:

»Da wir augenblicklich keinen Verbündeten in der Festung haben, der Haldin vielleicht ein Päckchen mit Gift zuschmuggeln könnte, so haben wir schon überlegt, ob wir nicht eine Art Racheakt möglichst rasch folgen lassen sollen ... «

Rasumoff unterbrach ihn:

»Waren Sie mit Haldin bekannt, wußte er Ihre Wohnung?«

»Ich hatte das Glück, ihn zweimal sprechen zu hören«, gab sein Begleiter zurück, mit dem fieberhaften Flüsterton, der so seltsam von der düsteren Apathie seines Gesichtes und seiner Haltung abstach. »Er wußte nicht, wo ich wohne ... ich lebe sehr ärmlich... bei einer Handwerkerfamilie – ich habe nur eine Ecke in einem Zimmer. Es ist nicht sehr ratsam, mich dort aufzusuchen, sollten Sie mich aber zu irgend etwas brauchen, so bin ich bereit ... «

Rasumoff zitterte vor Wut und Angst. Er war außer sich, hielt jedoch seine Stimme gedämpft.

»Sie haben mir nicht in die Nähe zu kommen, Sie haben nicht mit mir zu sprechen, richten Sie nie ein einziges Wort an mich. Ich verbiete es Ihnen.«

»Sehr recht«, sagte der andere unterwürfig und zeigte über dieses unmotivierte Verbot keinerlei Überraschung. »Sie wünschen es nicht, aus geheimen Gründen ... ganz recht ... ich verstehe.« Er brach sofort ab und blickte nicht einmal auf, und Rasumoff sah die lange schäbige verhungerte Gestalt die Straße überqueren, mit gesenktem Kopf und der merkwürdig exakten Bewegung der Beine.

Er beobachtete ihn, wie man eine nächtliche Vision beobachten mag, setzte dann seinen Weg fort und versuchte, nicht zu denken. In seinem Vorraum schien ihn seine Hausfrau erwartet zu haben. Sie war eine kleine dicke, formlos üppige Frau mit einem gelben Gesicht, das über und über in einen schwarzen wollenen Schal gehüllt war. Als sie ihn den letzten Treppenabsatz heraufkommen sah, warf sie erregt beide Arme hoch und schlug dann die Hände vor ihrem Gesicht zusammen.

»Kyrill Sidorowitsch – Väterchen –, was haben Sie getan? Und so ein ruhiger Mann noch dazu! Gerade den Augenblick sind die Polizisten weggegangen, die bei Ihnen Haussuchung gehalten haben.«

Rasumoff sah mit schweigender, forschender Aufmerksamkeit auf sie herunter. Ihre Fettmassen bebten vor Erregung. Sie hob beschwörend die Augen zu ihm auf.

»So ein gefühlvoller Mann, jedermann kann sehen, daß Sie gefühlvoll sind, und jetzt so – jetzt so – ganz auf einmal ... was haben Sie denn davon, sich mit den Nihilisten einzulassen? Lassen Sie das bleiben, Väterchen. Es sind unglückliche Leute.«

Rasumoff zuckte leicht die Schultern.

»Oder hätte Sie irgendein geheimer Feind verleumdet, Kyrill Sidorowitsch? Heutzutage ist die Welt voll von schwarzen Herzen und falschen Anzeigen. Alles ist voll Angst.«

»Und haben Sie gehört, daß ich von jemand denunziert worden bin?« fragte Rasumoff, ohne den Blick von ihrem bebenden Gesicht zu wenden.

Doch sie hatte nichts gehört. Sie hatte versucht, etwas herauszubringen, indem sie den Polizeihauptmann fragte, während seine Leute das Zimmer durchsuchten. Der Polizeihauptmann des Bezirkes kannte sie elf Jahre lang und war ein umgänglicher Herr. Er hatte ihr aber geantwortet, hier im Vorhaus – und hatte ganz finster und verärgert ausgesehen dabei:

»Meine liebe Frau, fragen Sie nicht. Ich weiß selbst nichts. Der Befehl kommt von höherer Stelle.«

Und tatsächlich war kurz nach der Ankunft der Polizeileute vom Bezirk ein sehr feiner Herr erschienen in Pelz und Glanzhut und hatte sich im Zimmer hingesetzt und alle Papiere selbst durchgesehen. Er war allein gekommen und allein weggegangen und hatte nichts mit sich genommen. Sie hatte versucht, wieder ein bißchen Ordnung zu machen, seit die Leute fort waren.

Rasumoff wandte sich brüsk ab und betrat sein Zimmer.

Alle seine Bücher waren durchgeschüttelt und auf den Boden geworfen worden. Seine Hausfrau war ihm gefolgt, bückte sich mühsam und begann sie in ihrer Schürze zu sammeln. Seine Papiere und Notizen, die er immer sauber ordnete (sie bezogen sich alle auf seine Studien), waren durchwühlt und in einem unordentlichen Haufen mitten auf den Tisch aufgestapelt worden.

Die Unordnung machte ihm einen merkwürdig tiefen Eindruck. Er setzte sich nieder und stierte vor sich hin. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß seine Existenz auf irgendeine geheimnisvolle Weise untergraben sei, daß seine moralischen Stützen eine nach der anderen fielen. Er fühlte eine leichte körperliche Schwäche und machte eine Bewegung, als wollte er nach irgend etwas langen, um sich daran zu halten.

 

Die alte Frau erhob sich mit leisem Ächzen, schüttelte die ganzen Bücher, die sie in ihrer Schürze gesammelt hatte, auf das Sofa und verließ murmelnd und seufzend das Zimmer.

Da erst bemerkte er, daß das Blatt, das er für eine Nacht mit dem Messer an die Wand über seinem leeren Bett geheftet hatte, auf dem Stoß obenauf lag.

Als er es tags zuvor abgenommen hatte, hatte er es zerstreut vierfach gefaltet, bevor er es auf den Tisch warf, und nun sah er es obenauf liegen, ausgebreitet, geglättet sogar, und den ganzen unordentlichen Stoß von Papieren bedeckend, die Frucht seines geistigen Lebens in den letzten drei Jahren. Es war nicht dorthin geworfen worden, man hatte es hingelegt – und noch dazu geglättet. Er vermutete darin eine schwerwiegende Absicht – oder vielleicht einen unerklärlichen Spott.

Er saß da und stierte auf das Blatt, bis ihm die Augen schmerzten. Er versuchte nicht, seine Papiere in Ordnung zu bringen, weder an jenem Abend, noch am nächsten Tag, den er zu Hause in einem Zustand merkwürdiger Unentschlossenheit verbrachte. Diese Unentschlossenheit rührte von der Frage her, ob er weiter leben solle – nicht mehr und nicht weniger. Allerdings lagen seiner Natur die Konflikte eines Mannes nicht, der sich mit Selbstmordgedanken trägt. Rasumoff kam gar nicht auf die Idee, selbst Hand an sich zu legen. Der unbekannte Organismus mit der Spitzmarke Rasumoff, der da herumging, atmete, Kleider trug, war für niemand von Bedeutung, außer vielleicht für die Hausfrau. Das Dasein des wirklichen Rasumoff lag in einer fest gewollten Zukunft – in dieser Zukunft, die nun von der Gesetzlosigkeit der Autokratie – denn die Autokratie kennt keine Gesetze – und der Gesetzlosigkeit der Revolution bedroht war. Das Gefühl, daß seine moralische Persönlichkeit von der Gnade dieser Mächte abhing, die über dem Gesetz standen, war so stark, daß er sich allen Ernstes fragte, ob es wohl der Mühe wert sei, weiterhin die geistigen Funktionen dieser Existenz zu verrichten, die nicht länger mehr die seine schien.

»Zu welchem Zwecke sollte ich wohl meinen Verstand schärfen, systematisch meine Fähigkeiten ausbilden und alle meine Arbeitspläne zu verwirklichen trachten«, sagte er sich. »Ich will meine Lebensführung gern von berechenbaren Faktoren abhängig machen. Welche Sicherheit aber bleibt mir gegen irgend etwas – eine drohende Vernichtung –, die so ganz ohne mein Zutun über mich hereinbricht ...?«

Rasumoff sah gespannt nach der Tür des äußeren Zimmers, als erwartete er, daß irgendeine dämonische Erscheinung die Klinke niederdrücken und stillschweigend vor ihn treten würde.

»Ein gemeiner Dieb«, sagte er sich, »findet mehr Schutz in den Gesetzen, die er übertritt, und sogar ein Vieh wie Siemianitsch hat Trostmöglichkeiten.« Rasumoff beneidete den Dieb um seinen Materialismus und den unverbesserlichen Liebhaber um seine Leidenschaft. Die Folgen ihrer Handlungen waren immer klar, und ihr Leben blieb ihr eigen.

Dennoch schlief er in dieser Nacht so tief, als hätte er sich nach Siemianitschs Art getröstet. Er erwachte mit einem Ruck, ganz zerschlagen, und konnte sich an keinen Traum erinnern, doch war es ihm, als wäre seine Seele während der Nacht davongeflattert, um vom Kelche einer bitteren Weisheit zu trinken. Er erhob sich mit einer Art wilder Entschlossenheit und mit einem Gefühl, als habe er sein innerstes Wesen von einer neuen Seite kennengelernt. Er sah spöttisch auf den Haufen Papiere auf seinem Tisch und verließ den Raum, um in die Vorlesungen zu gehen, mit einem gemurmelten: »Wir werden sehen.«

Er war nicht in der Stimmung, mit irgend jemandem zu sprechen oder Fragen darüber anzuhören, warum er tags zuvor den Vorlesungen ferngeblieben sei. Es war aber sehr schwer, einen guten Bekannten grob abzufertigen, einen blonden Burschen mit glattem, rosigem Gesicht, der unter seinen Kameraden den Spitznamen »Der tolle Kostia« führte. Er war der einzige, vergötterte Sohn eines sehr reichen und ungebildeten Staatslieferanten und zeigte sich auf der Universität nur während der sehr seltenen Anfälle von Besserungseifer, die auf tränenreiche väterliche Ermahnungen zu folgen pflegten. Er hatte ein lustiges, lärmendes Wesen, wie ein junger Jagdhund, und seine erhobene Stimme und kräftigen Bewegungen brachten in die kahlen Schulkorridore einen Abglanz von gedankenloser, animalischer Lebensfreude und erweckten im weiten Umkreise nachsichtiges Lächeln. Gewöhnlich drehten sich seine Gespräche um Traberpferde, Nachtsitzungen in teuren Weinrestaurants und die Vorzüge leichter Persönchen – immer mit solcher Harmlosigkeit, daß der Zuhörer entwaffnet wurde. Er überfiel Rasumoff um Mittag, etwas weniger lärmend, als es sonst seine Art war, und zog ihn beiseite.

»Nur einen Augenblick, Kyrill Sidorowitsch, ein paar Worte hier in dieser ruhigen Ecke.«

Er fühlte Rasumoffs Widerwillen und schob ihm schmeichelnd die Hand unter den Arm.

»Bitte, bitte, kommen Sie. Ich will nicht über eine meiner dummen Geschichten mit Ihnen reden. Was sind meine Tollheiten? Ganz und gar nichts, aufgelegte Kindereien. Neulich nachts schmiß ich einen Kerl aus einem gewissen Lokal hinaus, wo ich mich gerade gut unterhielt. So ein verdammt hochnäsiger Federfuscher aus dem Schatzamt ... Er schrie mit den Leuten im Hause herum, ich verwies ihm das. ›Sie benehmen sich nicht menschlich zu Geschöpfen Gottes, die ein wesentlich erfreulicherer Anblick sind als Sie selbst‹, sagte ich. Ich kann keine Tyrannei mit ansehen, Kyrill Sidorowitsch, auf mein Wort, ich kann nicht. Er nahm es gewaltig übel. ›Wer ist dieses unverschämte Baby‹, fängt er an zu brüllen. Ich war gerade ausgezeichnet beisammen, und er flog ganz plötzlich durch das geschlossene Fenster. Ein ganzes Stück in die Straße hinein flog er. Ich wütete wie – wie – ein Minotaurus. Die Weiber hängten sich an mich und kreischten, die Geiger krochen unter den Tisch ... es war eine Riesenhetz! Mein Alter mußte ziemlich tief in die Tasche greifen, kann ich Ihnen sagen.«

Er kicherte.

»Mein Alter ist ein äußerst nützlicher Mann, und das ist auch notwendig bei mir, ich führe schon üble Streiche auf.«

Seine Begeisterung flaute ab. Das war es ja gerade. Was war sein Leben? Nichtig; niemand etwas nutze, ein endloses Gelage. Eines Tages würde es damit enden, daß man ihm in einer betrunkenen Rauferei mit einer Champagnerflasche den Schädel einschlug, und das in einer Zeit, wo Männer sich für Ideen aufopferten. Aber er konnte keine Ideen in seinen Kopf bekommen. Sein Kopf war nichts Besseres wert, als durch eine Champagnerflasche zerschlagen zu werden.

Rasumoff versicherte, daß er keine Zeit habe, und versuchte loszukommen. Der andere änderte den Ton und sprach ernst vertraulich:

»Um Gottes willen, Kyrill, teure Seele, lassen Sie mich irgendein Opfer bringen. Es wäre ja eigentlich gar kein Opfer. Ich habe meinen reichen Alten hinter mir, seine Taschen sind buchstäblich unergründlich.«

Dann wehrte er entrüstet Rasumoffs Vermutung ab, daß dies betrunkenes Geschwätz sei, und bot ihm Geld an, damit er über die Grenze fliehen könne. Er selbst könne jederzeit von seinem Vater Geld haben. Er brauche nur zu sagen, daß er es im Kartenspiel oder sonstwie verloren habe, und bei derselben Gelegenheit nur feierlich versprechen, daß er drei Monate lang keine einzige Vorlesung schwänzen wolle. Damit kriege er den Alten immer herum, und für ihn selbst – Kostia – sei das Opfer nicht groß, obwohl er ja wirklich nicht einsehen könne, wozu er die Vorlesungen besuche, es sei ja doch hoffnungslos.

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