Mit den Augen des Westens

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Dieser Mann hatte sich bereit erklärt, zu jeder Zeit eine oder zwei Personen sicher nach der zweiten oder dritten Station an einer der südlichen Bahnlinien zu bringen. Es war aber keine Zeit geblieben, ihn am Abend vorher zu verständigen. Sein gewöhnlicher Unterschlupf schien ein Kosthaus letzter Klasse an der Stadtgrenze zu sein. Als Haldin dorthin kam, war der Mann nicht zu finden. Man glaubte nicht, daß er vor Abend wiederkehren würde. Haldin wanderte ruhelos weiter.

Er fand das Tor eines Holzhofes offen und schritt hinein, um dem Wind zu entgehen, der auf dem offenen Platz schneidend pfiff. Die hohen rechtwinkligen Stöße von geschnittenem Holz, mit Schnee bedeckt, glichen den Hütten eines Dorfes. Während er sich dahinter duckte, fand ihn der Wächter und sprach ihn zunächst freundlich an. Es war ein vertrockneter alter Mann, der zwei verwitterte Soldatenmäntel übereinander trug. Sein runzeliges, kleines Gesicht, in ein schmutziges rotes Taschentuch eingebunden, das Ohren und Wangen bedeckte, sah komisch aus. Bald wurde er aber unwillig und begann schließlich, ohne jeden ersichtlichen Grund wütend zu brüllen:

»Willst du dich wohl bald hier hinauspacken, du Lump! Die Arbeiter von deinem Schlage kennt man schon. Ein großer starker Kerl, nicht einmal besoffen ist er. Was willst du hier? Uns machst du keine Angst. Scher dich fort mit deinen verfluchten Augen.«

Haldin blieb vor dem sitzenden Rasumoff stehen. Seine schlanke Gestalt und die weiße Stirn, über der das blonde Haar wie eine Bürste stand, erweckten den Eindruck von Stolz und Kühnheit.

»Meine Augen gefielen ihm nicht«, sagte er, »und also ... hier bin ich.«

Rasumoff bemühte sich, ruhig zu sprechen.

»Aber verzeihen Sie, Viktor Viktorowitsch, wir kennen einander so wenig ..., ich sehe nicht ein, warum Sie ... «

»Vertrauen«, sagte Haldin.

Dieses Wort schloß Rasumoff die Lippen, als hätte ihm eine Hand auf den Mund geschlagen. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken.

»Und also – hier sind Sie«, murmelte er durch die Zähne. Der andere merkte nicht den Ärger in diesen Worten, vermutete ihn nicht einmal.

»Jawohl, und niemand weiß, daß ich hier bin. Sie sind der letzte, der in Verdacht kommen könnte – wenn man mich fangen sollte. Das ist ein Vorteil, sehen Sie, und dann – einem Mann von überlegenem Geiste, wie Ihnen, kann ich wohl die volle Wahrheit sagen. Es fiel mir ein, daß Sie – daß Sie niemand haben, der zu Ihnen gehört, kein Band irgendwelcher Art, keinen, der leiden würde, wenn dies alles irgendwie herauskäme. Es sind schon genug russische Familien ins Unglück gestürzt worden. Doch ich sehe nicht ein, wie mein Aufenthalt in Ihrer Wohnung je entdeckt werden sollte. Wenn man mich festnimmt, dann werde ich zu schweigen wissen – einerlei, was sie mit mir auch anfangen mögen«, fügte er grimmig hinzu.

Er begann wieder auf und ab zu gehen, während Rasumoff in stummem Entsetzen dasaß.

»Sie dachten, daß –« stotterte er endlich heraus, halbtot vor Wut.

»Ja, Rasumoff, ja, Bruder! Eines Tages werden auch Sie am Bau mithelfen. Sie halten mich nun für einen Terroristen – einen, der das Bestehende zerstören will. Doch bedenken Sie, daß die wahren Zerstörer die sind, welche den Geist des Fortschrittes und der Wahrheit zerstören wollen, nicht die Rächer, welche nichts tun, als die Leiber derer töten, die die menschliche Würde verfolgen. Leute wie ich sind notwendig, um Platz zu schaffen für selbstbeherrschte, denkende Leute wie Sie. Gut, wir haben unser Leben geopfert; und dennoch möchte ich entfliehen, wenn es möglich ist. Es ist nicht mein Leben, was ich retten möchte, sondern meine Tatkraft. Ich will nicht müßig leben, o nein, täuschen Sie sich nicht darüber, Rasumoff. Leute wie ich sind selten, und außerdem ist ein Exempel wie dieses für die Bedrücker viel abschreckender, wenn der Täter spurlos verschwindet. Sie sitzen in ihren Büros und Palästen und zittern. Ich verlange nicht mehr von Ihnen, als daß Sie mir verschwinden helfen. Keine große Sache das. Sie brauchen nur hinzugehen und Siemianitsch für mich aufzusuchen, an dem Ort, wohin ich heute morgen ging. Sagen Sie nur, er, den er kennt, wünscht, daß ein gut bespannter Schlitten eine halbe Stunde nach Mitternacht bei dem siebenten Laternenpfahl der Karabelnaya – links vom oberen Ende gezählt – vorfährt. Wenn niemand einsteigt, soll der Schlitten um einen oder zwei Häuserblöcke herumfahren und so zehn Minuten später an derselben Stelle vorüberkommen.«

Rasumoff wunderte sich, warum er das Gespräch nicht längst schon kurz abgeschnitten und diesen Mann hinausgewiesen hatte. War das Schwäche oder was sonst?

Er schloß, daß es ein gesunder Instinkt sei. Haldin mußte gesehen worden sein. Es war undenkbar, daß sich nicht einige Leute das Gesicht und das Äußere des Mannes gemerkt haben sollten, der die zweite Bombe warf. Haldin war eine auffallende Erscheinung. Die Tausende von Polizisten mußten innerhalb einer Stunde seine Beschreibung gehabt haben. Mit jedem Augenblick wurde die Gefahr größer. Schickte man ihn auf die Straße hinaus, so mußte er notwendig schließlich festgenommen werden.

Die Polizei würde sehr schnell alles über ihn in Erfahrung bringen. Sie würden sich dahintersetzen, eine Verschwörung zu entdecken. Alle, die Haldin je gekannt hätte, würden in die größte Gefahr geraten. Unbedachte Äußerungen, kleine, an sich geringfügige Tatsachen würden als Verbrechen angerechnet werden. Rasumoff erinnerte sich an gewisse Worte, die er gesagt hatte, an die Reden, die er angehört, an die harmlosen Zusammenkünfte, denen er beigewohnt hatte – es war fast unmöglich für einen Studenten, sich von allem auszuschließen, ohne von seinen Kameraden verdächtigt zu werden.

Rasumoff sah sich schon in einer Festung eingekerkert, gequält, geplagt, mißhandelt vielleicht. Er sah sich auf Regierungsbefehl deportiert, sein Leben zerbrochen, vernichtet und jeder Hoffnung beraubt. Er sah sich – bestenfalls – ein elendes Leben führen, unter Polizeiaufsicht, in irgendeiner kleinen, weit abgelegenen Provinzstadt, ohne Freunde, wie andere sie hatten, die ihm beistehen oder Schritte tun konnten, um sein Los zu verbessern. Andere hatten Väter, Mütter, Brüder, Verwandte, Verbindungen, die Himmel und Erde ihretwegen in Bewegung setzen würden – er hatte niemand. Die Beamten selbst, die ihn eines Morgens verurteilten, würden seine Existenz vor Sonnenuntergang vergessen haben.

Er sah seine Jugend in Elend und bitterster Not verstreichen, seine Kräfte nachlassen, seinen Geist verflachen. Er sah sich selbst schmierig und heruntergekommen durch die Straßen kriechen und vielleicht plötzlich einmal in einem schmutzigen Loch von Zimmer – oder in dem schmierigen Bett eines Kreisspitales sterben.

Er schauderte. Dann überkam ihn eine verbitterte Ruhe. Es war das beste, diesen Mann von der Straße wegzuhalten, bis man sich seiner mit einiger Aussicht auf Rettung entledigen konnte. Das war das beste, was sich tun ließ. Natürlich fühlte Rasumoff, daß die Sicherheit seines einsamen Lebens ständig gefährdet blieb. Die Ereignisse dieses Abends konnten zu jeder Zeit gegen ihn aufstehen, solange dieser Mann lebte und die gegenwärtigen Einrichtungen zu Recht bestanden. Die letzteren erschienen ihm in diesem Augenblicke vernünftig und unzerstörbar. Sie hatten die ganze Gewalt eines harmonischen Gefüges für sich – im Gegensatz zu dem grellen Mißton, den die Gegenwart dieses Mannes bedeutete. Er haßte den Menschen – und sagte ruhig: »Ja natürlich, ich will gehen. Sie müssen mir genaue Weisungen geben, und im übrigen – verlassen Sie sich auf mich.«

»Oh, Sie sind ein Kerl! Kopf hoch – und kalt wie eine Gurke. Ein richtiger Engländer. Wo haben Sie Ihre Seele her? Es gibt nicht viele wie Sie. Sehen Sie mich an, Bruder! Männer wie ich hinterlassen keine Nachkommen, doch ihre Seelen sind nicht verloren. Keines Mannes Seele ist je verloren. Sie arbeitet für sich weiter – denn wo bliebe sonst der Trieb zur Selbstaufopferung, zum Märtyrertum, zur Überzeugungstreue – diesen edelsten Blüten der Seele? Was soll aus meiner Seele werden, wenn ich den Tod sterbe, der mir bestimmt ist – bald – sehr bald vielleicht? Sie soll nicht zugrunde gehen! Und mißverstehen wir uns nicht, Rasumoff. Dies ist nicht Mord – es ist Krieg, Krieg. Mein Geist soll in dem Körper irgendeines Russen weiterkämpfen, bis alle Falschheit aus der Welt gewichen ist. Die moderne Zivilisation ist falsch, doch aus Rußland soll eine neue Erkenntnis hervorgehen. Ha, Sie sagen nichts. Sie sind ein Skeptiker. Ich achte Ihre philosophische Skepsis, Rasumoff – doch lassen Sie die Seele aus dem Spiel. Die russische Seele, die in uns allen lebt, die hat eine Zukunft. Sie hat eine Mission, sage ich Ihnen! Oder wodurch sonst hätte ich bestimmt werden können, all dies zu tun – rücksichtslos – wie ein Schlächter –, mitten unter alle diese Unschuldigen – den Tod zu schleudern – ich! ich! ... ich könnte keiner Fliege was zuleide tun!«

»Nicht so laut«, warnte Rasumoff mit heiserer Stimme.

Haldin setzte sich plötzlich hin, legte den Kopf über die gefalteten Arme und brach in Tränen aus. Er weinte lange. Die Dämmerung in dem Raume hatte sich vertieft. Rasumoff lauschte reglos, in düsterem Staunen, dem Schluchzen des anderen.

Da hob der den Kopf, stand auf und zwang seine Stimme mit Gewalt zur Festigkeit.

»Jawohl, Männer wie ich hinterlassen keine Nachkommen«, wiederholte er in resigniertem Ton. »Zwar habe ich eine Schwester. Sie ist bei meiner alten Mutter. Ich überredete sie, für dieses Jahr zu verreisen – Gott sei Dank. Ein tüchtiges Mädchen soweit, meine Schwester, sie hat treuere Augen als irgendein menschliches Wesen, das je diese Welt betrat. Sie wird gut heiraten, hoffe ich. Sie mag Kinder haben – Söhne vielleicht. Sehen Sie mich an. Mein Vater war Regierungsbeamter in der Provinz, er hatte auch einen kleinen Landbesitz. Ein einfacher, gottesfürchtiger Mann – ein echter Russe in seiner Art. Seine erste Tugend war der Gehorsam. Doch ich bin nicht wie er. Man sagt, ich sei dem ältesten Bruder meiner Mutter ähnlich, einem Offizier. Der wurde im Jahr achtundzwanzig erschossen, unter Nikolaus, Sie wissen. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß dies Krieg ist, Krieg ... Doch beim gerechten Gott, es ist harte Arbeit.«

 

Rasumoff saß in seinem Stuhl, hatte den Kopf in die Hand gestützt, und seine Stimme klang wie aus der Tiefe eines Abgrundes herauf.

»Sie glauben an Gott, Haldin?«

»Da klammern Sie sich nun wieder an Worte, die einem die Erregung erpreßt. Was tut das zur Sache? Wie sagte doch der Engländer: ›Eine göttliche Seele wohnt in den Dingen ... ‹, hol ihn der Teufel, ich erinnere mich jetzt nicht. Aber er sprach die Wahrheit. Wenn einmal der Tag für euch Denker kommt, dann vergeßt nicht, was das Göttliche in der russischen Seele ist: es ist die Ergebung. Die sollt ihr bei aller eurer geistigen Unruhe achten und eurer arroganten Weisheit nicht erlauben, sie zu unterdrücken. Ich spreche da zu Ihnen wie ein Mann, der schon den Strick um den Hals hat. Wofür halten Sie mich? Für einen Empörer? Nein. Ihr Denker seid es, die in ständiger Auflehnung sind. Ich bin einer der Ergebenen. Als die Notwendigkeit dieser schweren Tat an mich herantrat, und als ich begriff, daß sie getan sein mußte – was tat ich da? Jubelte ich? Fühlte ich mich stolz auf mein Vorhaben? Versuchte ich, seinen Wert und seine Folgen abzuwägen? Nein! ich war ergeben. Ich dachte – ›Gottes Wille geschehe‹«.

Er warf sich der Länge nach auf Rasumoffs Bett, legte die Handrücken über die Augen und verharrte vollkommen reglos und schweigend. Man hörte nicht einmal das Geräusch seiner Atemzüge. Die tote Stille des Raumes blieb ungestört, bis Rasumoff in das Dunkel hinein dumpf fragte:

»Haldin?«

»Ja«, antwortete der andere, ohne Zögern, doch ohne sich zu rühren. Er war nun auf dem Bett nicht mehr zu erkennen.

»Ist es nicht Zeit für mich, aufzubrechen?«

»Ja, Bruder«, hörte man den anderen sagen, aus der Dunkelheit heraus, als spräche er im Schlaf, »die Stunde ist da, das Schicksal auf die Probe zu stellen.«

Er machte eine Pause und gab dann wenige, klare Anweisungen mit der ruhigen, unpersönlichen Stimme eines Menschen im Trance. Rasumoff machte sich fertig, ohne ein Wort der Erwiderung. Als er im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, klang die Stimme vom Bett hinter ihm her:

»Geh mit Gott, du schweigsame Seele.«

Im Vorraum angekommen, schloß Rasumoff lautlos die Tür ab und schob den Schlüssel in die Tasche.

Die Worte und Vorfälle dieses Abends müssen sich wie mit stählernem Griffel in Rasumoffs Erinnerung gegraben haben, da er noch lange Monate später imstande war, diesen Bericht mit so ausführlicher Genauigkeit niederzuschreiben.

Die Aufzeichnungen über die Gedanken, die ihn auf der Straße bestürmten, sind noch genauer ausgeführt. Es scheint, als habe die Überlegung erst eingesetzt, als er sich allein fühlte und seine Denkfähigkeit nicht länger durch Haldins Gegenwart gehemmt war – durch die lähmende Gegenwart eines großen Verbrechens und eines großen Fanatismus. Wenn ich die Seiten von Rasumoffs Tagebuch durchblättere, so muß ich zugeben, daß der Ausdruck »Ansturm von Gedanken« kein richtiges Bild gibt.

Es würde die Sachlage besser kennzeichnen, wenn man von einem »Wirrwarr von Gedanken« sprechen wollte. Diese Gedanken an sich waren nicht zahlreich – sie waren, wie die der meisten menschlichen Wesen, vereinzelt und einfach –, nur geht es nicht an, hier alle die abgerissenen Ausrufe wiederzugeben, in denen sie sich in endlosem Durcheinander wiederholten – denn der Weg war lang.

Wenn sie dem westeuropäischen Leser unangebracht erscheinen oder vielleicht sogar verwerflich, so will ich daran erinnern, daß dies zunächst einmal an meiner unbeholfenen Wiedergabe liegen mag. Im übrigen betone ich nur, daß diese Geschichte nicht im westlichen Europa spielt.

Mag sein, daß die Nationen sich ihre Regierungen gemodelt haben, doch die Regierungen haben es ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt. Es ist undenkbar, daß irgendein junger Engländer in Rasumoffs Lage kommen könnte. Und es wäre daher auch ein müßiges Beginnen, ausklügeln zu wollen, was dieser junge Engländer dann denken würde. Die einzige Vermutung, die einigen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit hat, ist die, daß seine Gedanken bei diesem Ereignis sich nicht in derselben Bahn bewegen würden wie die Rasumoffs, denn der junge Engländer hätte nicht das ererbte und persönliche Wissen über die Mittel, deren sich eine seit Jahrhunderten bestehende Autokratie bedient, um Ideen zu unterdrücken und ihre eigene Macht und ihr Fortbestehen zu schützen und zu verteidigen.

Eine zügellose Phantasie könnte ihn auf die Möglichkeit bringen, daß er ohne weiteres ins Gefängnis geworfen werden könnte; doch nur in den wirrsten Fieberträumen (und vielleicht dann nicht einmal) würde er sich zu dem Gedanken versteigen, daß man ihn durchpeitschen könnte, um die Untersuchung zu fördern, oder auch, um ihn zu strafen.

Dies ist nur ein schlechtes und beiläufiges Beispiel für die Grundverschiedenheit der Anschauungen des Westens. Ich weiß nicht, ob diese letzte Befürchtung gerade in Rasumoff auftauchte. Zweifellos aber spielte sie mit herein in die allgemeine Angst und Bestürzung, die er in sich fühlte. Rasumoff war sich, wie sich gezeigt hat, nicht im unklaren über die versteckteren Mittel, mit denen eine despotische Regierung ein Individuum aus dem Wege räumen konnte. Die Ausstoßung von der Universität (das weitaus geringste, was ihm passieren konnte), verbunden mit der Unmöglichkeit, seine Studien irgendwie fortzusetzen, mußte genügen, einen jungen Menschen völlig zu minieren, der auf die Ausbildung seiner natürlichen Fähigkeiten angewiesen war, um sich einen Platz in der Welt zu schaffen. Er war ein Russe: in eine derartige Frage verwickelt zu werden, war für ihn gleichbedeutend mit der völligen Entwurzelung, mit dem Herabsinken in die tiefsten sozialen Schichten, unter die Verzweifelten und Enterbten – die Nachtvögel der Stadt.

Auch müssen die besonderen Umstände von Rasumoffs Abstammung, oder besser seine diskrete Abstammung, mit berücksichtigt werden. Und er dachte auch daran. Er war erst kürzlich ganz besonders grausam durch diesen verwünschten Haldin daran erinnert worden. »Weil ich dies eine nicht habe, muß mir alles andere genommen werden?« dachte er.

Er zwang sich gewaltsam zum Weitergehen. Der Straße entlang huschten, Schatten gleich, klingelnde Schlitten durch das wirbelnde Weiß, das das dunkle Antlitz der Nacht verhüllte. »Denn es ist ein Verbrechen«, sagte er sich. »Ein Mord ist ein Mord. Wenn auch, natürlich, etwas liberalere Einrichtungen ... «

Ein Gefühl unsagbarer Schwäche überkam ihn. »Ich muß tapfer sein«, suchte er sich selbst anzufeuern. Seine ganze Kraft war plötzlich verflogen. Dann kehrte sie durch eine mächtige Willensanstrengung zurück, denn er fürchtete, in der Straße ohnmächtig und von der Polizei aufgelesen zu werden, mit seinem Zimmerschlüssel in der Tasche. Man würde Haldin dort finden, und dann wäre es auch um ihn geschehen.

Merkwürdig genug ist diese Furcht, die ihn bis zuletzt aufrechterhalten zu haben scheint. Es waren nur wenig Leute unterwegs. Sie tauchten plötzlich knapp vor ihm auf, ganz schwarz in dem Flockengewimmel, und verschwanden auf einmal wieder lautlos, mit unhörbaren Schritten.

Es war eines der ärmsten Stadtviertel. Rasumoff bemerkte eine ältere Frau, die ganz in Lumpen gehüllt war. Im Lichte der Straßenlampe schien sie ihm eine Bettlerin, die von der Arbeit kam. Sie schritt ohne Eile durch den Schneesturm, als hätte sie kein Heim, zu dem es sie hinzog. Unter dem Arm barg sie, wie ein unschätzbares Gut, einen runden Laib Schwarzbrot: und Rasumoff wendete den Blick von ihr, beneidete sie um ihren Seelenfrieden und um ihr frohes Geschick.

Wenn man Rasumoffs Geschichte liest, so kann man sich eines lebhaften Staunens nicht erwehren, wie er es fertigbrachte, die endlosen Straßen, eine nach der anderen, zu durchschreiten, durch Schneemassen, die sich immer undurchdringlicher aufhäuften. Was ihn vorwärtstrieb, war der Gedanke an Haldin, den er in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, und der verzweifelte Wunsch, ihn loszuwerden. Eine klare Überlegung leitete ihn nicht, und als er in dem letztklassigen Speisehaus ankam und erfuhr, daß der Pferdevermieter Siemianitsch nicht da sei, da konnte er nur blöde vor sich hinstarren.

Der Kellner, ein wüst behaarter Bursche in geteerten Stiefeln und roter Schürze, zeigte in einem dummen Grinsen sein bleiches Zahnfleisch und erklärte, daß Siemianitsch heute bereits früh am Nachmittag seine tägliche Ration zu sich genommen habe und mit einer Flasche unter jedem Arm weggegangen sei, zu den Pferden wohl, nehme er an.

Der Besitzer der Spelunke, ein knochiger kleiner Mann in einem schmutzigen Kaftan, der ihm bis zu den Fersen ging, stand dabei, die Hand im Gürtel, und nickte bestätigend.

Der Fuseldunst, der Qualm ranzigen Bratenfetts würgten Rasumoff in der Kehle. Er schlug mit der Faust auf einen Tisch und brüllte wütend:

»Ihr lügt!«

Aufgedunsene, schmutzige Gesichter wandten sich ihm zu. Ein zerlumpter Landstreicher mit sanften Augen, der am Nebentisch Tee trank, rückte weiter weg. Ein erstauntes Murmeln erhob sich, in dem Unruhe mitklang. Auch ein Lachen wurde laut und ein scherzhaft besänftigender Zuruf. Der Kellner sah sich rings im Zimmer um und erklärte laut:

»Der Herr hier will nicht glauben, daß Siemianitsch besoffen ist.«

Aus einer entfernten Ecke grunzte eine rauhe Stimme, die einem schauerlichen, unbeschreiblich zerlumpten Wesen gehörte, mit einem Gesicht, schwarz und zottig wie eine Bärenschnauze:

»Der verfluchte Diebskutscher! was haben wir hier mit seinem Herrn zu schaffen? Wir sind lauter ehrliche Leute hier.«

Rasumoff biß sich die Lippen blutig, um nicht in lautes Flehen auszubrechen. Dann folgte er dem Besitzer der Spelunke, der ihm zuflüsterte: »Kommen Sie mit, Väterchen«, und ihn in einen höhlenähnlichen Verschlag hinter dem hölzernen Schanktisch führte, aus dem es wie Wasserplätschern klang. Ein schmieriges, durchnäßtes Wesen, eine Art geschlechtsloser, frostbebender Vogelscheuche, spülte da drinnen Gläser, bei dem Licht einer Unschlittkerze über einen hölzernen Bottich gebeugt.

»Ja, Väterchen«, sagte der Mann in dem langen Kaftan mit kläglichem Ton. Er hatte ein braunes, komisches kleines Gesicht mit spärlichem grauem Bart. Während er sich bemühte, eine Zinnlaterne anzuzünden, schwatzte er halblaut vor sich hin.

Er würde den Herrn zu Siemianitsch führen, um ihm zu beweisen, daß man nicht gelogen habe. Der Herr würde auch sehen, daß er betrunken sei. Seine Frau sei ihm scheinbar letzte Nacht durchgebrannt. »Das war eine Hexe! Mager, pfui!« Er spuckte aus. Sie brannte ihm immer durch, diesem Teufelsfuhrmann, und er war doch sechzig Jahre alt und konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen. Doch jeder Mensch hat seinen Kummer, und Siemianitsch war zeit seines Lebens der geborene Narr gewesen. Dann stürzte er sich immer über die Flasche. »›Wer könnte in unserem Lande das Leben ohne Schnaps ertragen›», sagt er; ein echter russischer Mann – das Ferkel … will der Herr mir folgen.«

Rasumoff kreuzte eine rechteckige Fläche tiefen Schnees, die zwischen hohen Mauern mit ungezählten Fenstern eingeschlossen lag. Da und dort schwebte ein trübes kleines Licht in dem Dunkel ringsum. Das Haus war eine ungeheure Mietskaserne, ein Unterschlupf für den Auswurf der Menschheit, ein Monument des Elends, das aus der Masse von Hunger und Verzweiflung ringsum herauswuchs.

An einer Ecke ging es steil bergab, und Rasumoff folgte dem Licht der Laterne durch einen engen Torweg in eine langgestreckte Höhle, die wie ein vernachlässigter, unterirdischer Kuhstall aussah. Tief drinnen steckten drei zottige kleine Pferde, an Ringen angehängt, ihre Köpfe zusammen. Das mußte das berühmte Gespann sein, das Haldin retten sollte.

Rasumoff spähte ängstlich in das Dunkel. Sein Führer stieß mit dem Fuß in das Stroh.

»Hier ist er. Oh, mein Täubchen! Ein echt russischer Mann. ›Ich mag keine schwermütigen Leute‹, sagt er, ›bring die Flasche her und schaff mir deine häßliche Fratze aus den Augen.‹ Ha, ha, ha, so ein Kerl ist er.«

Er hielt die Laterne über die hingestreckte Gestalt eines Mannes, der augenscheinlich reisefertig angezogen war. Sein Kopf war in einer gemusterten Tuchkapuze verborgen. Auf der anderen Seite eines Strohhaufens schauten zwei Füße in unheimlich dicken Stiefeln hervor.

 

»Immer bereit, loszufahren«, bemerkte der Gastwirt, »ein echt russischer Fuhrmann das! Heiliger oder Teufel, Nacht oder Tag, das ist für Siemianitsch einerlei, wenn sein Herz frei von Kummer ist. ›Ich frage nicht, wer ihr seid, sondern wohin ihr wollt‹, sagt er. Er würde Satan selbst nach seinem eigenen Reich fahren und lustig wieder zurückkommen. Hat manch einen gefahren, der heute in den Nertschinskminen seine Ketten schleppt.«

Rasumoff schauderte.

»Rufe ihn an, wecke ihn auf«, stammelte er. Der andere setzte die Laterne nieder, trat zurück und gab dem Schläfer einen Tritt. Der rührte sich weiter nicht. Bei dem dritten Fußstoß grunzte er, blieb aber reglos wie zuvor.

Der Gastwirt gab es auf und seufzte tief.

»Sie sehen selbst, wie es ist. Wir haben alles für Sie getan, was wir tun konnten.«

Er nahm die Laterne wieder auf. Tiefe Schattenflecke umtanzten den Lichtkreis. Der blindwütige Trieb der Selbsterhaltung erfaßte Rasumoff. »Ah, das elende Vieh«, brüllte er heraus, mit einer unmenschlichen Stimme, daß die Laterne hüpfte und zitterte, »ich will dich aufwecken... gib mir… gib mir … gib mir ... «

Er sah wild um sich, faßte den Stiel einer Mistgabel, stürzte vorwärts und begann auf den hingestreckten Körper mit unartikuliertem Gebrüll loszuschlagen. Nach einiger Zeit verstummte er, und in dem dunklen Gewölbe blieben nur noch die niederfallenden Schläge vernehmbar. Rasumoff bearbeitete Siemianitsch mit unersättlicher Wut und ließ die Hiebe blindlings und hageldicht niedersausen. Die tote Ruhe des Geprügelten stach seltsam gegen die heftigen Bewegungen Rasumoffs ab. Es war eine unheimliche Szene.

Plötzlich gab es einen scharfen Knacks: der Stiel brach mitten durch und die eine Hälfte flog weit weg in das Dunkel außerhalb des Lichtkreises. Zugleich setzte sich Siemianitsch auf. Im gleichen Augenblick fiel Rasumoff in dieselbe reglose Erstarrung wie der Mann mit der Laterne, nur seine Brust arbeitete zum Zerspringen.

Irgendeine dumpfe Schmerzempfindung mußte sich endlich durch die tröstende Trunkenheit durchgerungen haben, die den Mann mit der »starken Seele«, wie ihn Haldin nannte, umfangen hielt. Siemianitsch sah aber augenscheinlich gar nichts. Seine Augäpfel blinkten im Licht einmal, zweimal hell auf, dann verlöschte der Schimmer. Kurze Zeit saß er noch im Stroh, mit geschlossenen Augen und einem merkwürdigen Ausdruck trüben Nachsinnens, und sank dann langsam zurück, ohne den geringsten Laut; nur das Stroh raschelte ein wenig. Rasumoff stierte wild auf ihn und keuchte immer noch. Nach einer oder zwei Sekunden hörte man ein leises Schnarchen.

Rasumoff warf den Teil des Stieles, den er noch in der Hand hielt, von sich und ging mit großen hastigen Schritten davon, ohne einmal umzublicken.

Nachdem er kopflos etwa fünfzig Meter in die Straße hinaus gerannt war, geriet er in einen Schneehaufen und stak bis zu den Knien darin, bevor er innehielt.

Dies brachte ihn wieder zu sich selbst. Er sah sich um und bemerkte, daß er die falsche Richtung eingeschlagen hatte. So ging er denselben Weg zurück, doch jetzt in etwas gemäßigterem Tempo. Als er an dem Hause vorüberkam, das er eben verlassen hatte, da schüttelte er die Fäuste gegen diese düstere Hochburg von Elend und Verbrechen, deren drohende Masse von dem weißen Grund abstach. Dann ließ er den Arm wieder sinken – entmutigt.

Die Leidenschaft, mit der Siemianitsch sich Schmerz und Trost hingab, hatte ihn im Innersten gepackt. Das war das Volk. Ein echt russischer Mann! Rasumoff war froh, daß er das Vieh geprügelt hatte – »die starke Seele« des anderen; da waren sie beide: das Volk und der Enthusiast.

Gegen die beiden war für ihn nicht aufzukommen, gegen die Trunksucht des Bauern, die jede Tatkraft lähmte, und die überspannten Träumereien des Idealisten, der unfähig war, die Ursache der Dinge und den wahren Charakter der Menschen zu erkennen. Es schien eine Art furchtbarer Kinderei. Doch für Kinder gab es Lehrer. »Oh, der Stock, der Stock, die harte Hand«, dachte Rasumoff und sehnte sich nach der Gewalt, nach der Macht, zu zerschlagen und zu vernichten.

Er war froh, daß er das Vieh geprügelt hatte. Die physische Anstrengung hatte ihn in einen angenehmen Dämmerzustand versetzt. Seine innere Erregung war abgeflaut, da er sich in äußerlicher Gewalttätigkeit ausgegeben hatte. Zugleich mit dem fortwährenden Bewußtsein einer furchtbaren Gefahr fühlte er in sich nun auch einen ruhigen und unbeirrbaren Haß.

Er ging immer langsamer, und in Anbetracht des Gastes, den er in seiner Wohnung hatte, war es kein Wunder, daß er auf dem Wege zögerte. Ihm war wie einem, der eine üble Krankheit im Hause hat, die ihn vielleicht nicht das Leben kosten, doch alles, was das Leben lebenswert macht – eine schleichende Krankheit, die ihm die Erde zur Hölle machen könnte.

Was sollte er nun tun? Sich auf das Bett legen wie ein Toter, mit den Handrücken über den Augen? Rasumoff sah plötzlich mit unheimlicher Klarheit Haldin auf seinem Bett vor sich – das weiße Kissen, vom Kopf niedergedrückt, die Beine in hohen Stiefeln, die aufwärts gekehrten Füße. Und in einem Schauder sagte er sich: »Ich will ihn töten, wenn ich heimkomme.« Aber er wußte recht gut, daß das nutzlos war. Hatte er erst einmal den Leichnam auf dem Halse, so würde der für ihn mindestens so gefährlich sein wie jetzt der Lebende. Nur eine völlige Vernichtung konnte helfen. Und die war unmöglich. Was dann? Mußte er sich töten, um dieser Heimsuchung zu entgehen?

Rasumoffs Verzweiflung war zu kräftig mit Haß durchsetzt, als daß er diesen Ausweg hätte wählen können.

Und doch faßte ihn reine Verzweiflung bei dem Gedanken, er müßte mit Haldin tagelang weiterleben, in tödlichem Schreck bei jedem Geräusch. Doch vielleicht, wenn er hörte, daß diese starke Seele« von Siemianitsch viehisch besoffen war, dann würde der Kerl seine höllische Resignation anderswohin tragen. Aber dies schien nach der Sachlage wenig wahrscheinlich.

Rasumoff dachte: »Ich soll zermalmt werden, und ich kann nicht einmal fliehen.« Andere hatten irgendwo auf der Erde einen Winkel, ein kleines Landhaus in der Provinz vielleicht, wohin sie ein Recht hätten sich mit ihren Sorgen zurückzuziehen. Eine mütterliche Zufluchtsstätte. Er hatte nichts, nicht einmal die moralische Zuflucht des Vertrauens. An wen konnte er sich mit dieser Geschichte wenden – in diesem ganzen, großen Lande?

Rasumoff stampfte mit dem Fuß, und unter der weichen Schneedecke fühlte er den harten Boden Rußlands, träge, kalt, gefühllos, wie eine gramvolle Mutter, deren Gesicht von einem weißen Leichentuch bedeckt ist; – seine Heimaterde, und doch ohne einen Herd für ihn, ohne ein Herz.

Er blickte auf und blieb erstaunt stehen. Der Schneefall hatte aufgehört, und nun sah er, wie durch ein Wunder, über seinem Kopf den klaren, schwarzen Himmel des nordischen Winters, von dem flackernden Feuer der Sterne durchstrahlt. Es war ein würdiger Baldachin für die blendende Weiße der Schneefläche.

Rasumoff hatte das fast körperliche Gefühl endlosen Raumes und ungezählter Millionen.

Er reagierte darauf mit der Bereitwilligkeit des Russen, dem der Sinn für Raum und Zahl angeboren ist. Unter der endlosen Pracht des Himmels deckte der Schnee die ungeheuren Wälder, die gefrorenen Ströme, die Ebenen dieses weiten Landes, verwischte die Grenzen, die Unebenheiten des Bodens, breitete über alles eine weiße Fläche, wie ein riesenhaftes unbeschriebenes Blatt, das die Aufzeichnung einer unfaßbaren Geschichte erwartet. Es deckte das untätige Land mit den zahllosen Menschen darin vom Schlage dieses Siemianitsch und der Handvoll Agitatoren wie Haldin, die ein Wahnsinn zum Mord trieb.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»