Mit den Augen des Westens

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»Wollen Sie mir nicht erlauben, mich nützlich zu machen?« bettelte er. Rasumoff stand mit niedergeschlagenem Blick schweigend da, gänzlich unfähig, die wahre Absicht des anderen zu ergründen, und mit einem leisen Widerstreben vor weiteren Aufklärungen.

»Wieso kommen Sie darauf, daß ich über die Grenze gehen möchte?« fragte er endlich ganz ruhig.

Kostia dämpfte die Stimme:

»Die Polizei war gestern in Ihren Zimmern; drei oder vier von uns haben davon gehört. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, woher wir es wissen. Genug, wir wissen es, und so haben wir uns beraten.«

»Aha, Sie haben so schnell davon erfahren«, murmelte Rasumoff nachlässig.

»Jawohl, so schnell, und es hat uns leid getan, daß ein Mann wie Sie ... «

»Für was für eine Art von Menschen halten Sie mich eigentlich?« unterbrach ihn Rasumoff.

»Für einen Mann mit eigenen Ideen – einen Mann der Tat überdies. Aber Sie sind so verschlossen, Kyrill. Es ist ganz unmöglich, Ihnen auf den Grund zu kommen, wenigstens für Kerle wie mich. Wir waren aber alle darüber einig, daß Sie unserem Lande erhalten bleiben müßten. Darüber hatten wir nicht den geringsten Zweifel – ich meine alle die unter uns, die wir Haldin bei gewissen Gelegenheiten von Ihnen sprechen gehört haben. Die Polizei durchschnüffelt nicht die Wohnung irgendeines Menschen, wenn nicht eine teuflisch böse Sache über ihm hängt ... und wenn Sie also glauben, daß es für Sie besser wäre, gleich auszureißen ... «

Rasumoff machte sich los, ging den Korridor hinunter und ließ den anderen regungslos und mit offenem Munde stehen. Doch plötzlich kehrte er wieder um und stand vor dem verblüfften Kostia, der langsam den Mund schloß. Rasumoff sah ihm gerade in die Augen, bevor er mit scharfer Betonung und hart abgesetzt die Worte sprach:

»Ich – danke – Ihnen – sehr –«

Zum zweiten Male ging er schnell davon. Kostia rannte ihm, sobald er sich von seiner Überraschung über dieses Gebaren erholt hatte, eiligst nach.

»Nein, warten Sie, hören Sie, ich meine es wirklich so, für Sie wäre es so, als hätten Sie Mitleid mit einem, der am Verhungern ist. Hören Sie, Kyrill. Und wenn Sie irgendeine Verkleidung brauchen, so könnte ich auch die besorgen, von einem Maskenverleiher, einem Juden, den ich kenne. Lassen Sie doch einen Narren sich nützlich machen, wie es seine Narrheit zuläßt. Vielleicht könnten Sie auch einen falschen Bart brauchen oder sonst etwas Ähnliches.«

Rasumoff wandte sich kurz um.

»Bei dieser Geschichte braucht man keinen falschen Bart, Kostia – Sie gutherziger Narr. Was wissen Sie von meinen Ideen? Meine Ideen könnten Gift für Sie sein.«

Der andere schüttelte zum Zeichen energischen Widerspruchs den Kopf.

»Was haben Sie mit meinen Ideen zu tun? Ein paar davon würden mit dem Geldsack Ihres Alten übel aufräumen. Hören Sie auf, sich in Sachen hineinzumischen, die Sie nicht verstehen. Kehren Sie zurück zu Ihren Traberpferden und Ihren Weibern – dann sind Sie wenigstens sicher, keinem andern zu schaden und schwerlich sich selbst.«

Der enthusiastische Jüngling war durch diese Mißachtung ganz niedergeschlagen.

»Sie schicken mich zu meinem Schweinetrog zurück, Kyrill, das ist das Ende. Ich bin ein armer Hund – wie ein Hund werde ich sterben. Aber denken Sie daran, Ihre Verachtung hat mich umgebracht.«

Rasumoff ging mit langen Schritten davon. Es erschien ihm als ein bedenkliches Zeichen der Zeit, daß auch diese einfache und weinfrohe Seele dem Fluch der Revolution verfallen war. Er machte sich seine Bestürzung zum Vorwurf. Persönlich hätte er sich beruhigt fühlen müssen. Es lag ein offensichtlicher Vorteil in dem Irrtum, auf den die Leute sich versteiften: ihn für etwas anderes zu nehmen, als er war. War das nicht merkwürdig?

Wieder erlebte er die merkwürdige Sensation, daß ihm seine Lebensführung durch Haldins revolutionäre Tyrannei aus der Hand genommen war. Seine abgeschlossene und arbeitsame Existenz – das einzige, was er auf dieser Welt sein eigen nannte – war zerstört worden. »Mit welchem Recht?« fragte er sich wütend. »In wessen Namen?«

Am wütendsten machte es ihn, daß er fühlte, wie die »Denker« der Universität ihn augenscheinlich mit Haldin in Verbindung brachten – wohl als eine Art Vertrauensmann im Hintergrund. »Eine geheimnisvolle Beziehung, haha ... « Man hatte ihn zur Persönlichkeit gestempelt, ohne daß er irgend etwas davon wußte. Wie dieser verteufelte Haldin über ihn geredet haben mußte! Und doch war es wahrscheinlich, daß Haldin sehr wenig gesagt hatte. Die zufälligsten Aussprüche dieses Burschen wurden von all diesen Trotteln wie Perlen gesammelt und endlos durchstudiert. War nicht die ganze Geheimtätigkeit der Revolutionäre auf wahnwitziger Selbsttäuschung und Lüge aufgebaut?

»Unmöglich, an etwas anderes zu denken«, murmelte Rasumoff. »Ich verblöde noch, wenn das so weitergeht. Die Schufte und die Narren bringen mich um meinen Verstand.«

Er verlor alle Hoffnung auf seine Zukunft, die ja von dem freien Gebrauch seiner geistigen Kräfte abhing.

Er erreichte den Torweg seines Hauses in einem Zustand derartiger Entmutigung, daß er mit völliger Gleichgültigkeit einen amtlich aussehenden Brief aus der schmutzigen Hand seines Türhüters entgegennehmen konnte.

»Ein Gendarm hat es gebracht. Er fragte, ob Sie zu Hause seien. Ich sagte ihm: ›Nein, er ist nicht zu Hause.‹ So ließ er es da. ›Gib es ihm persönlich in die Hände‹, sagte er. Jetzt haben Sie es ja bekommen – nicht?«

Er kroch in seinen Verschlag zurück, und Rasumoff kletterte mit dem Brief in der Hand die Stiege hinauf. In seinem Zimmer angekommen, beeilte er sich nicht, den Umschlag aufzureißen. Natürlich kam diese amtliche Botschaft von der Oberdirektion der Polizei. Ein Verdächtiger! Ein Verdächtiger!

In dumpfer Verwunderung überdachte er seine lächerliche Lage. Er fühlte eine Art trockener, kalter Melancholie; drei Jahre guter Arbeit verloren, der Verlauf von vielleicht vierzig anderen in Frage gestellt – jede Hoffnung in Grauen verkehrt, weil die Ereignisse, die durch menschliche Torheit entstehen, sich untereinander zu Folgen verketten, welche keine Klugheit vorhersehen und kein Mut durchbrechen kann. Das Schicksal tritt in euer Zimmer, während eure Hausfrau eben den Rücken kehrt. Ihr kommt heim und findet es in Fleisch und Blut unter dem Namen irgendeines Menschen – in einem braunen Tuchrock und hohen Stiefeln – gegen den Ofen gelehnt. Es fragt euch: ›Ist die Außentür geschlossen‹ – und ihr wißt nicht genug, um es bei der Kehle nehmen und über die Stiegen hinunterwerfen zu können. Ihr wißt nichts. Ihr heißt das verrückte Schicksal willkommen. ›Nehmen Sie Platz‹, sagt ihr, und alles ist vorbei. Ihr könnt es nie wieder abschütteln. Es wird ewig an euch hängen. Kein Galgen, keine Kugel kann euch die Freiheit eures Lebens wiedergeben und eure geistige Gesundheit ... Es war, um mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.

Rasumoff sah sich langsam im Zimmer um, als suchte er einen Fleck, um mit dem Kopf dagegen zu stoßen. Dann öffnete er den Brief. Er enthielt die Weisung an den Studenten Kyrill Sidorowitsch Rasumoff, sich unverzüglich im Generalsekretariat vorzustellen.

Rasumoff sah im Geiste die Glotzaugen des Generals T. vor sich, die auf ihn warteten – diese Verkörperung der Autokratie, grotesk und furchtbar. Er verkörperte die Macht der Autokratie, weil er ihr Hüter war. Er verkörperte den Verdacht, die Wut, die Rücksichtslosigkeit eines politischen und sozialen Regimes, das sich verteidigt. Er haßte die Rebellion aus Instinkt, und Rasumoff wurde es klar, daß der Mann einfach unfähig sein mußte, zu begreifen, wie sich jemand aus Überlegung zur Lehre des Absolutismus bekehren könnte.

»Was kann er nur gerade von mir wollen, möchte ich wissen.« Und als hätte diese innere Frage das bekannte Phantom hervorgerufen, so stand Haldin plötzlich mitten im Zimmer mit unglaublicher Deutlichkeit. Obwohl der kurze Wintertag schon in das düstere Zwielicht einer Schneelandschaft übergegangen war, konnte Rasumoff doch den schmalen Lederriemen um den Tscherkessenrock deutlich wahrnehmen. Die Illusion, daß der Verhaßte gegenwärtig sei, war so vollständig, daß er halb und halb erwartete, die Frage zu hören: »Ist die Außentür geschlossen?« Er sah mit Haß und Verachtung nach dem Phantom. Geister nehmen keine Kleider an. Überdies konnte Haldin noch gar nicht tot sein. Rasumoff schritt drohend vor; die Vision verschwand – er wandte sich kurz auf dem Absatz und verließ mit unsagbarer Verachtung das Zimmer.

Auf dem ersten Stiegenabsatz fiel ihm aber ein, daß man ihn vielleicht bei der obersten Behörde mit dem wirklichen Haldin konfrontieren wollte. Dieser Gedanke traf ihn wie eine Kugel, und hätte er sich nicht mit beiden Händen am Geländer festgehalten, so wäre er wohl bis zum nächsten Absatz heruntergerollt. Seine Beine versagten ihm geraume Zeit den Dienst ... Warum aber, aus welchem erdenklichen Grund? Zu welchem Zweck?

Auf diese Frage konnte es keine vernünftige Antwort geben, doch Rasumoff erinnerte sich an das Versprechen, das der General dem Fürsten K. gegeben hatte. Seine Tat sollte unbekannt bleiben.

Er kam am Fuße der Treppe an, indem er sich von Stufe zu Stufe am Geländer hinuntertastete. Unter dem Tor gewann er so ziemlich seine geistige und körperliche Festigkeit wieder. Mit jedem Schritt fühlte er sich innerlich ausgeglichener. Er trat auf die Straße hinaus, ohne sichtbares Schwanken. Und doch sagte er sich, daß General T. sehr wohl imstande wäre, ihn auf unbegrenzte Zeit in die Festung zu sperren. Sein Temperament paßte gut zu seiner rücksichtslosen Tätigkeit, und seine Allmacht schloß ihn gegen vernünftige Erwägungen ab.

Als aber Rasumoff auf dem Sekretariat ankam, vernahm er, daß er mit General T. nichts zu tun haben würde. Es ist aus Rasumoffs Tagebuch ersichtlich, daß diese gefürchtete Persönlichkeit im Hintergrund bleiben sollte. Ein Zivilbeamter von hohem Rang empfing ihn in einem privaten Arbeitszimmer, nachdem er eine Zeit in anderen Büros gewartet und dem endlosen Geschreibsel an den vielen Tischen in der überhitzten und dumpfen Luft zugesehen hatte.

 

Der uniformierte Schreiber, der ihn führte, sagte im Korridor:

»Sie kommen vor Gregory Matvieitsch Mikulin.«

An dem Mann, der diesen Namen trug, war nichts Erschreckliches. Sein sanfter, erwartungsvoller Blick war schon auf die Tür gerichtet, als Rasumoff eintrat. Sofort wies er mit dem Federstiel, den er in der Hand hielt, auf ein tiefes Sofa zwischen zwei Fenstern. Er folgte Rasumoff mit den Augen, während dieser das Zimmer durchschritt und sich niedersetzte. Der milde Blick ruhte auf ihm nicht neugierig, nicht forschend – sicher nicht mißtrauisch –, fast ausdruckslos. In seiner leidenschaftslosen Beharrlichkeit lag fast etwas wie Sympathie.

Rasumoff, der seine Energie und seinen Intellekt für eine Begegnung mit General T. selbst vorbereitet hatte, war aufs tiefste verwirrt. All das moralische Rüstzeug, mit dem er sich gegen mögliche Exzesse von Macht und Leidenschaft gewappnet hatte, schien unnütz diesem blassen Mann gegenüber, mit dem blonden, schütteren und seidenfeinen Vollbart. Das Licht fiel auf die glänzenden Wölbungen der hohen gefurchten Stirn, und der Ausdruck des breiten, sanften Gesichtes war so anheimelnd und ländlich, daß der sorgfältig mitten durchs Haar gezogene Scheitel als unnötige Ziererei wirkte.

Rasumoffs Tagebuch zeugt von einiger Erregung seinerseits. Ich will hier gleich bemerken, daß das Tagebuch mit den mehr oder weniger täglichen Eintragungen an diesem selben Abend begonnen zu sein scheint, nachdem Rasumoff nach Hause zurückgekehrt war.

Rasumoff also war aufgeregt. Seine erzwungene Sammlung war plötzlich in Stücke gebrochen.

»Ich muß sehr vorsichtig mit ihm sein«, sagte er sich, während sie sich gegenseitig mit den Blicken maßen. Das Schweigen hielt eine kurze Zeit an und wurde charakterisiert (denn jedes Schweigen hat seinen Charakter) durch eine Art Traurigkeit, die vielleicht von dem milden und gedankenvollen Wesen des bärtigen Beamten ausging.

Rasumoff erfuhr später, daß er Departementchef im Generalsekretariat war, in einem Range, der dem eines Obersten im Heere entsprach.

Rasumoffs Mißtrauen wurde rege. Die Hauptsache war: er durfte sich nicht verleiten lassen, zuviel zu sagen. Man hatte ihn aus irgendeinem Grunde hierher gerufen. Aus welchem Grunde? Um ihm zu verstehen zu geben, daß er verdächtig war und zweifellos auch, um ihn auszuholen. Worüber nur? Es gab nichts. Oder vielleicht hatte Haldin Lügen erzählt ... Rasumoff durchlitt alle Qualen der Ungewißheit. Er konnte das Schweigen nicht länger ertragen, verwünschte seine Schwäche und sprach zuerst, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, das auf keinen Fall zu tun.

»Ich habe keinen Augenblick verloren«, sagte er mit heiserer, herausfordernder Stimme; und dann schien ihn die Sprache zu verlassen und in den Körper des Rates Mikulin überzugehen, der zustimmend einfiel:

»Sehr recht, sehr recht, obwohl tatsächlich ... «

Doch der Bann war gebrochen, und Rasumoff fiel ihm ins Wort, aus der plötzlichen Überzeugung heraus, daß dies die sicherste Taktik war. In einer Flut von Worten beklagte er sich darüber, daß man ihn mißverstehe. Noch während des Sprechens überlegte er, ob er nicht vielleicht zu kühn sei, fand, daß das Wort »mißverstehen« besser sei als »mißtrauen«, und wiederholte es nochmals mit Beharrlichkeit. Plötzlich unterbrach er sich, da ihn angesichts der reglosen Aufmerksamkeit des Beamten Angst befiel. »Was rede ich nur«, dachte er und maß den anderen mit unsicheren Blicken. Mißtrauen – nicht Mißverstehen – war der richtige Ausdruck für diese Leute. Mißverstanden zu sein, war die andere Seite des Unglücks. Beides hatte ihm dieser verwünschte Haldin auf den Hals gebracht. Sein Kopf schmerzte furchtbar. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne – eine unwillkürliche Bewegung des Leidens, die er sich nicht die Mühe gab zu unterdrücken. Im selben Augenblick hatte Rasumoff die Vorstellung, als würde sein eigenes Hirn auf die Folter gespannt. – Er sah in einem dunklen Gewölbe eine lange blasse Gestalt, deren Züge er nicht erkennen konnte und die mit unerhörter Gewalt auf ein Streckbett gespannt wurde. Es war, als hätte er für den Bruchteil einer Sekunde von irgendeinem schauerlichen Bild aus der Inquisitionszeit geträumt ...

Es ist nicht im Ernst glaubhaft, daß Rasumoff in der Gegenwart des Rates Mikulin eingeschlafen sein und von einem alten Stich aus der Inquisition geträumt haben sollte. Er war bis zum äußersten erschöpft, und in seinem Tagebuch verzeichnet er ein merkwürdig traumhaftes Angstgefühl bei der Vorstellung, daß niemand neben der blassen und ausgestreckten Gestalt gewesen war. Die Einsamkeit des gefolterten Opfers war ganz besonders gräßlich anzusehen. Die unheimliche Tatsache, daß das Gesicht nicht zu sehen war, flößte eine Art Grauen ein, wie er weiter bemerkt. Alle diese Kennzeichen eines schrecklichen Traumes waren gegeben. Dennoch ist er ganz gewiß, daß er keinen Augenblick lang das klare Bewußtsein verlor, daß er auf dem Sofa saß, vorgelehnt, die Hände zwischen den Knien, und seine Mütze in den Fingern drehte. Alles verflog bei der Stimme des Rates Mikulin. Rasumoff fühlte eine große Dankbarkeit für die gleichmütige Schlichtheit seines Tones.

»Jawohl, ich habe mit Interesse zugehört, ich verstehe in gewissem Maße Ihr ... doch Sie sind wirklich im Irrtum …«

Der Rat Mikulin brachte eine Reihe abgerissener Sätze hervor. Anstatt sie zu beenden, sah er auf seinen Bart hinunter. Es war eine bedächtige Geste, die merkwürdigerweise den Sätzen mehr Nachdruck verlieh. Doch er konnte recht fließend sprechen; das bewies er, indem er plötzlich den Ton änderte und überredend fortfuhr: »Dadurch, daß ich Sie angehört habe, wie ich es tat, glaube ich bewiesen zu haben, daß ich unsere Unterredung nicht als streng amtlich betrachte. Tatsächlich wünsche ich auch gar nicht, daß sie diesen Charakter trägt ... o ja, ich gebe zu, daß der Wunsch, Sie hier zu haben, in amtlicher Form geäußert wurde. Doch überlasse ich es Ihnen, zu beurteilen, ob diese Form gewählt werden mußte, im Interesse Ihres weiteren Auftretens als ... «

»Verdächtiger«, rief Rasumoff aus und sah dem Beamten fest in die Augen. Diese Augen waren groß, mit schweren Lidern, und erwiderten seine Herausforderung mit trübem, ruhigem Blick. »Ein Verdächtiger«, die offene Wiederholung dieses Wortes, das ihn durch alle seine wachen Stunden verfolgt hatte, gab Rasumoff eine eigene Befriedigung. Rat Mikulin schüttelte leicht den Kopf.

»Sie wissen doch sicher, daß bei mir von der Polizei Haussuchung gehalten worden ist ... «

»Ich war im Begriff, ›mißverstandene Persönlichkeit‹ zu sagen, als Sie mich unterbrachen«, bemerkte Rat Mikulin ruhig.

Rasumoff lächelte ohne Bitterkeit. Das wiedererwachte Bewußtsein seiner geistigen Überlegenheit stand ihm in der Stunde der Gefahr bei. Er sagte leicht verächtlich:

»Ich weiß wohl, daß ich nur ein Atom bin, doch ich bitte Sie, mir die Überlegenheit des denkenden Atoms zuzugestehen, gegenüber den gedankenlosen Mächten, die es vernichten wollen. Praktisches Denken ist letzten Endes nur Kritik. Vielleicht ist es mir erlaubt, mein Erstaunen darüber auszusprechen, daß dieses Vorgehen der Polizei zwei volle Tage hinausgezögert wurde, während deren ich natürlich alles, was mich irgendwie kompromittieren konnte, hätte vernichten, sagen wir, zu Asche verbrennen können.«

»Sie sind ärgerlich«, bemerkte der Beamte anscheinend gänzlich harmlos. »Ist das vernünftig?«

Rasumoff fühlte, wie er vor Wut rot wurde.

»Ich bin vernünftig, und mehr als das – erlauben Sie mir, es zu sagen. – Ich bin ein Denker, obwohl ja sicherlich diese Bezeichnung heutzutage von ein paar traurigen Kunden monopolisiert scheint, die mit revolutionären Ideen hausieren und sich dabei selbst einer französischen oder deutschen oder weiß der Teufel was sonst für einer fremden Denkweise verschrieben haben. Ich bin aber kein geistiger Bastard. Ich denke wie ein Russe. Ich denke ehrlich – und nehme mir die Freiheit, mich einen Denker zu nennen. Das Wort ist nicht verboten, soviel ich weiß.«

»Nein, warum sollte es verboten sein?« Rat Mikulin wandte sich in seinem Sessel um, die Beine übergeschlagen, stützte seine Ellbogen auf den Tisch und lehnte seine Arme gegen die Knöchel der halb geschlossenen Hände. Rasumoff bemerkte einen dicken Zeigefinger, von einem massiv goldenen Reifen mit blutrotem Stein umschlossen – einem Siegelring, der gut ein halbes Pfund wiegen mochte und doch durchaus als Schmuck zu diesem gewichtigen Mann paßte, mit dem sauber gescheitelten glänzenden Haar über der gefurchten, aristokratischen Stirn.

»Sollte es eine Perücke sein?« Rasumoff ertappte sich auf diesem auffallend zerstreuten Nebengedanken. Sein Selbstvertrauen war wesentlich erschüttert. Er beschloß, nicht weiter zu schwatzen. Zurückhaltung! Zurückhaltung! Seine Hauptaufgabe bestand darin., die Siemianitsch-Episode unbedingt geheim zu halten, wenn die Fragerei losging. Siemianitsch in keiner seiner Antworten irgendwie zu erwähnen.

Rat Mikulin sah ihn trübe an. Rasumoffs Selbstvertrauen ließ ihn gänzlich im Stich. Es schien unmöglich, Siemianitsch nicht zu erwähnen. Jede Frage würde dahin zielen, da es ja nichts sonst zu fragen gab. Er machte eine Anstrengung, sich zusammenzureißen. Es mißlang. Doch auch Rat Mikulin war auffallend zerstreut.

»Warum sollte es verboten sein«, wiederholte er. »Auch ich halte mich für einen denkenden Mann, versichere ich Ihnen. Die Grundbedingung ist, korrekt zu denken. Ich gebe zu, daß das zunächst für einen jungen Mann, der sich selbst überlassen ist, manche Schwierigkeiten hat – da seine großmütigen Regungen noch nicht geschult sind – sozusagen – und er jedem Sturm nachzugeben bereit ist. Religiöser Glaube natürlich ist ein großer ... «

Rat Mikulin sah auf seinen Bart hinunter, und Rasumoff, dessen innere Spannung durch diese unerwartete und flüchtige Geste gemildert wurde, murmelte finster:

»Der Mensch, Haldin, glaubte an Gott.«

»Das wissen Sie also«, hauchte Rat Mikulin mit zwar leiser, aber doch deutlicher Betonung, als habe auch ihn Rasumoffs Bemerkung aus seiner Zurückhaltung herausgelockt. Der junge Mann bewahrte eine gleichmütige Haltung, obwohl er sich selbst die gefährliche Dummheit heftig vorwarf, einen durchaus falschen Eindruck von Vertrautheit erweckt zu haben. Er hielt die Augen zu Boden geschlagen. »Ich muß unbedingt den Mund halten, wenn er mich nicht zum Reden zwingt«, ermahnte er sich selbst. Doch plötzlich tauchte in ihm gegen seinen Willen die Frage: »Wäre es nicht das beste, ihm alles zu sagen«, mit solcher Deutlichkeit auf, daß er sich auf die Lippen beißen mußte. Rat Mikulin übrigens schien keineswegs auf irgendein Geständnis gerechnet zu haben. Er fuhr fort:

»Sie sagen mir mehr, als seine Richter aus ihm herausbringen konnten. Er wurde von einer Kommission von drei Leuten abgeurteilt. Er sagte kein Wort. Ich habe das Protokoll der Verhandlung hier bei mir. Nach jeder Frage steht: ›Verweigert die Antwort – verweigert die Antwort.‹ So geht es Seite um Seite. Sie müssen wissen, daß ich mit einigen weiteren Nachforschungen in dieser Angelegenheit betraut worden bin. Er hat mir keinen Anhaltspunkt gegeben, an dem diese Nachforschungen einsetzen könnten. Ein verhärteter Bösewicht. Und Sie sagen also, er glaubte ... «

Wieder sah Rat Mikulin mit einer leisen Grimasse auf seinen Bart hinunter. Die Pause war nicht lang. Er bemerkte mit leiser Verachtung, daß auch Gotteslästerer diese Art von Glauben hätten, und schloß mit der Vermutung, daß Rasumoff wohl häufig mit Haldin über das Thema gesprochen haben müsse.

»Nein«, sagte Rasumoff laut, ohne aufzusehen; »er sprach, und ich hörte zu, das ist keine Konversation.«

»Zuhören ist eine große Kunst«, bemerkte Rat Mikulin, wie nebenbei.

»Und Leute reden machen, ist eine andere«, murmelte Rasumoff.

»Nun – das ist nicht gar zu schwer«, sagte Mikulin harmlos, »besondere Fälle natürlich ausgenommen, so zum Beispiel diesen Haldin. Nichts konnte ihn zum Sprechen bewegen. Viermal wurde er den Richtern vorgeführt. Vier geheime Verhöre. – Und sogar während des letzten, als Ihre Persönlichkeit ins Treffen geführt wurde ... «

»Meine Persönlichkeit ins Treffen geführt«, wiederholte Rasumoff und warf den Kopf hoch, »das verstehe ich nicht.«

Rat Mikulin wandte sich wieder dem Tische zu, nahm mehrere graue Aktenbogen in die Hand und legte sie nacheinander wieder weg bis auf den letzten, den er während des Sprechens vor sich hinhielt.

 

»Man hielt es für unerläßlich, sehen Sie. In einem derartig schweren Fall darf man kein Mittel unversucht lassen, auf den Schuldigen einzuwirken. Das verstehen Sie selbst, glaube ich.«

Rasumoff stierte mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen auf Rat Mikulins Profil, der ihn überhaupt nicht ansah.

»So wurde also beschlossen (General T. fragte mich um Rat), daß dem Beklagten eine gewisse Frage vorgelegt werden sollte. Mit Rücksicht aber auf den ausdrücklichen Wunsch des Fürsten K. ließ man Ihren Namen nicht ins Protokoll kommen und nicht einmal zur Kenntnis der Richter selbst. Fürst K. erkannte die Notwendigkeit unseres Vorhabens an, schien aber um Ihre Sicherheit besorgt. Es sickert manches durch, das leugnen wir nicht. Man kann nicht immer für die Diskretion von untergeordneten Beamten einstehen. Und im Saale befanden sich ja der Sekretär des Spezialtribunals und ein oder zwei Gendarmen. Auch sollten ja, wie ich schon sagte, mit Rücksicht auf Fürst K. sogar die Richter selbst in Unkenntnis gelassen werden. Die Fassung der Frage wurde ihnen von General T. zugesandt (ich habe sie mit meiner eigenen Hand aufgeschrieben) mit dem Befehl, daß sie dem Gefangenen ganz zuletzt vorgelegt werden sollte. Hier ist sie.«

Rat Mikulin lehnte den Kopf in richtige Sehweite zurück und las eintönig vor: »Frage – Hat der Mann, der Ihnen gut bekannt ist, in dessen Wohnung Sie am Montag mehrere Stunden zubrachten und auf dessen Anzeige hin Sie verhaftet wurden – hat dieser Mann vorher irgendwie um Ihre Absicht gewußt, einen politischen Mord zu begehen ...? Angeklagter verweigert die Antwort.

Die Frage wird wiederholt. Der Gefangene bewahrt das gleiche Schweigen.

Dann wird der würdige Seelsorger der Festung vorgelassen. Er ermahnt den Gefangenen zur Reue und redet ihm ferner dringend zu, er möchte doch ein volles und rückhaltloses Geständnis ablegen, für sein Verbrechen Buße tun; dieses Geständnis würde ihm auch helfen, seine Seele von der Sünde der Auflehnung gegen die göttlichen Gesetze und die geheiligte Majestät des Herrschers über unser gottgeliebtes Land zu befreien. – Da öffnet der Gefangene zum ersten Male während dieser Morgensitzung die Lippen und weist mit lauter, klarer Stimme die Dienste des ehrwürdigen Priesters zurück.

Um elf Uhr vormittags spricht der Gerichtshof das summarische Todesurteil aus.

Die Hinrichtung ist für vier Uhr nachmittags festgesetzt, falls nicht weitere Weisungen von höherer Stelle eintreffen.«

Rat Mikulin legte den Aktenbogen nieder, sah über seinen Bart hinunter und wandte sich dann an Rasumoff, in leichtem, erklärendem Ton:

»Wir sahen keinen Grund, die Hinrichtung aufzuschieben. Mittags wurde der telegraphische Befehl erteilt, das Urteil zu vollstrecken. Ich habe selbst das Telegramm geschrieben. Er wurde heute nachmittag um vier Uhr gehenkt.«

Die endgültige Nachricht von Haldins Tod erweckte in Rasumoff das Gefühl großer Mattigkeit, welches jeder starken Anstrengung oder Erregung zu folgen pflegt. Er hielt sich ganz still auf dem Sofa, konnte aber die geflüsterte Bemerkung nicht unterdrücken:

»Er glaubte an ein ewiges Leben.«

Rat Mikulin zuckte leicht die Schultern, und Rasumoff erhob sich mit Mühe. Sein Bleiben hatte keinen Zweck mehr. Haldin war um vier Uhr gehenkt worden, darüber gab es keinen Zweifel. Er war, so schien es, in sein ewiges Leben eingegangen mit hohen Stiefeln, Astrachanpelzmütze und allem anderen, bis zu dem Ledergurt um die Taille ... »Nicht seine Seele war es, nur sein Phantom, was er auf der Erde zurückgelassen hat«, so dachte Rasumoff mit spöttischem Lächeln, während er das Zimmer durchschritt und ganz vergaß, wo er sich befand und daß Rat Mikulin da war. Der Beamte hätte ein ganzes Glockenspiel im ganzen Hause in Tätigkeit setzen können, ohne sich vom Fleck zu rühren. Er ließ Rasumoff bis ganz an die Tür gehen, bevor er sprach.

»Kommen Sie, Kyrill Sidorowitsch. Was wollen Sie tun?«

Rasumoff wandte den Kopf und sah ihn schweigend an. Er war nicht im geringsten bestürzt. Rat Mikulin hatte die Arme vor sich auf dem Tisch ausgestreckt und den Körper etwas vorgelegt.

»Habe ich wirklich die Absicht, einfach so fortzurennen?« fragte sich Rasumoff verwundert, während er äußerlich unbewegt schien; und er war sich dieser anscheinenden Gleichgültigkeit, die helles Erstaunen verbarg, wohl bewußt. »Augenscheinlich wäre ich hinausgegangen, wenn er nicht gesprochen hätte«, dachte er. »Was hätte er dann getan? Ich muß diese Geschichte irgendwie zu Ende bringen. Er muß seine Karten aufdecken.«

Einen Augenblick überlegte er noch hinter seiner Maske, ließ dann den Türgriff los und kam in die Mitte des Zimmers zurück.

»Ich will Ihnen sagen, was Sie denken«, brach er los, ohne aber die Stimme zu erheben. »Sie denken, es mit einem geheimen Komplicen dieses unglücklichen Menschen zu tun zu haben. Nein, ich weiß nicht, daß er unglücklich gewesen ist. Er hat mir nichts gesagt. Von meinem Standpunkt aus gesehen war er ein Tropf. Denn eine falsche Idee am Leben zu erhalten, ist ein größeres Verbrechen, als einen Mann zu töten. Ich hoffe, Sie werden das nicht leugnen wollen? Ich haßte ihn. Solche Phantome wirken endlos Böses auf der Welt. Ihre Utopien erzeugen in der Masse der Durchschnittsgeister einen Widerwillen gegen das Wirkliche und eine Verachtung für die Jahrhunderte alte Logik der menschlichen Entwicklung.«

Rasumoff zuckte die Schultern und sah starr vor sich hin. »Was für eine Tirade«, dachte er. Die schweigende Reglosigkeit des Rates Mikulin bedrückte ihn. Der bärtige Bürokrat saß an seinem Platz in einer geheimnisvollen Selbstbeherrschung, wie ein Götze, und mit trüben, undurchdringlichen Augen. Rasumoff wechselte unwillkürlich den Ton.

»Wenn Sie mich fragen, woraus sich für mich die Notwendigkeit ergibt, Leute wie Haldin zu hassen, so würde ich Ihnen antworten: dieser Haß ist frei von jeder Sentimentalität. – Ich haßte ihn nicht, weil er das Verbrechen des Mordes begangen hatte. Abscheu ist kein Haß. Ich haßte ihn einfach, weil ich gesund bin, und diese Eigenschaft in mir lehnte sich gegen ihn auf. Sein Tod ... «

Rasumoff fühlte, wie ihm die Stimme in der Kehle steckenblieb. Die Trübheit von Rat Mikulins Augen schien sich über sein ganzes Gesicht zu verbreiten und förmlich einen Schleier darüber zu ziehen. Rasumoff versuchte diese Phänomene nicht zu beachten.

»In der Tat«, fuhr er fort und betonte jedes Wort sorgfältig, »was ist mir sein Tod? Wenn er hier auf dem Boden läge, so könnte ich über seine Brust wegschreiten. Der Kerl ist ein Phantom ... «

Rasumoffs Stimme brach, sehr gegen seinen Willen. Mikulin hinter dem Tisch erlaubte sich nicht die geringste Regung. Das Schweigen hielt eine kurze Zeit an, bevor Rasumoff weitersprechen konnte.

»Er ging herum und sprach über mich …, diese intellektuellen Burschen hocken beieinander und berauschen sich mit fremden Ideen, ganz ebenso wie junge Gardeoffiziere einander mit fremden Weinen bewirten. Nichts als Ausschweifung ... auf mein Wort.« – Rasumoff, ganz wütend gemacht durch eine plötzliche Erinnerung an Siemianitsch, zwang sich mit Mühe, die Stimme zu dämpfen. – »Auf mein Wort, wir Russen sind eine Horde von Trunkenen. Irgendeinen Rausch müssen wir haben: die Wut des Schmerzes oder die Sentimentalität der Entsagung. Wir liegen träg wie die Klötzer herum, oder wir zünden das Haus an. Was soll ein nüchterner Mann anfangen, möchte ich gern wissen? Sich gänzlich von seinesgleichen abzuschließen, ist unmöglich. Um in einer Wüste zu leben, muß man ein Heiliger sein. Wenn aber ein Betrunkener aus einem Schnapsladen herausstürzt, Ihnen um den Hals fällt und Sie auf beide Wangen küßt, weil irgend etwas in Ihrer Erscheinung sein Gefallen erregt hat, was dann – sagen Sie mir gütigst? Sie können vielleicht einen Knüttel auf seinem Rücken entzweischlagen, und es mag Ihnen doch nicht gelingen, ihn fortzuprügeln ... «

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